Musik-Theater & mehr
Foto:Kirsten Nijhof
Verhunzte Opéra bouffe als greller, tumber Partyspass, nichts mehr...
Jacques Offenbachs "Orpheus in der Unterwelt"
Oper Leipzig / Musikalische Komödie Leipzig
Premiere: 24.05.2025
Mit „Orphée aux Enfers“ komponierte Offenbach 1858, in dem Augenblick, als ihm die Pariser Theaterbehörde die Erlaubnis dazu gab, sein erstes abendfüllendes Werk und landete damit nicht nur einen sensationellen Erfolg, er schuf damit auch ein Modell, das Schule machte, und dem er und seine kongenialen Librettisten sich über Jahre treu blieben und damit einen Fundus satirischen Unterhaltungstheaters schufen, das in der Geschichte des Musiktheaters seinesgleichen sucht.
Das Werk wurde ein künstlerischer und ein Kassenerfolg. Offenbach konnte sich sogar in einem der nobelsten Kurorte in der Normandie, in Étretat seine Villa „Orphee“ errichten lassen.
Der „Orpheus“ wurde charakteristisch für ihn, seine Opéra bouffe und das Zweite Kaiserreich. Zweihundertsiebnundzwanzig Mal wurde das Stück en suite gespielt. In einer zweiten Serie wurde es für das Kaiserpaar und den Hof im Théatre des Italiens geben. Das Stück war in Paris immer präsent. Bis 1878 gab es die tausendste Vorstellung. Das Werk wurde ein künstlerischer und ein Kassenerfolg für den Komponisten, der diese Mythentravestie als privater Theaterunternehmer immer wieder auf den Spielplan setzte, wenn die Kassen leer waren. Die Aufführungs- und Fassungsgeschichte ist allerding nicht komplexer als bei den anderen sogenannten „Offenbachiaden“, an die der Komponist selbst immer wieder Hand anlegte, um sie jeweiligen Gegebenheiten (praktischen, aber auch solchen des gewandelten Publikumsgeschmacks) anzupassen. Von „Orphée aux Enfers“ existieren zwei Fassungen, die zu Lebzeiten des Komponisten gedruckt wurden. Die sogenannte „kleine“ von 1858, mit der „schlanken“ Orchesterbesetzung seines Theaters, der Bouffes parisiens, und der „großen“ von 1874, für die Offenbach das Werk zur „opéra féerie“ umarbeitete, zur Zauberoper, mit doppelt so viel Musik, neuen Balletten und einer bedeutend größeren Orchesterbesetzung. Während sich im deutschen Sprachraum die kleine Fassung durchsetzte, die von Offenbachs deutschem Verlag Bote & Bock mit einer von Offenbach autorisierten Übersetzung von Ludwig Kalisch verlegt wurde, spielte man in Frankreich ab der Uraufführung der großen Fassung nur noch diese, die von Heugel gedruckt wurde. Im 20. Jahrhundert kam es nach Ablauf des Urheberschutzes zu zahlreichen Bearbeitungen. Im deutschen Sprachraum setzte es sich allmählich durch, beliebte Nummern aus der 1874er Fassung in die 1858er
Fassung zu integrieren, wie Frank Harders-Wuthenow erklärte..
Das Erfolgsgeheimnis Offenbachs verriet er zum ersten Mal im "Orpheus": Parodie der Antike, durch Transposition in die Gegenwart des Zweiten Kaiserreichs, Karikatur der Kunst auf Kothurnen, des Schwulstes der Klassikerbühne, der Sinnwidrigkeiten großer Oper, Ironie, Karikatur, Doppelbödigkeit und Mehrschichtigleit auch seiner Musik voller Witz und Eleganz. René Leibowitz sprach von „Verkleideter Musik“. Das Stück ist das Paradebeispiel der Offenbachiade“, um nicht zu sagen „Opéra bouffe“, nicht zu verwechseln mit „Operette“. So nannte Offenbach nur Einakter. Er unterschied sehr genau die unterschiedlichen Gattungsbezeichnungen seiner Werke. Dennoch bezeichnet man das
Werk in Leipzig wieder einmal als „Operette“, welche Ignoranz! Wie Frank Harders-Wuthenow erklärte: „Wir haben eine optimierte Mischfassung herausgegeben, die die Theater eins zu eins verwenden können, wo sie nur streichen müssen, was sie nicht brauchen. Mit allen Nummern aus der größer instrumentierten Fassung 1874 auf die kleinere Besetzung von 1858 runterinstrumentiert von Jean-Christophe Keck.
Man hört in der Leipziger Neuinszenierung, deren musikalische Leitung Michael Nündel oblag, denn auch viel ungehörte Musik, auch manches Couplet aus der 1874er Fassung, leider wurden die meisten Ballettmusiken gestrichen, das eingefügte Insektenballett wurde allerdings zu einem musikalischen Höhepunkt des Abends, sowohl orchestral als auch tänzerisch. Endlich geriet das Ballett der Musikalischen Komödie (Choreographie Mirko Mahr), das sich ansonsten diskret zurückhielt, einmal außer Rand und Band und tanzte sich um den Verstand. Michael Nündel hatte allerdings mit dem glänzend disponierten Orchester der Musikalischen Komödie ein mitreißendes Feuerwerk entzündet, dem sich niemand, auch das Publikum nicht, entziehen konnte. Überhaupt war der GMD des Hauses ein kompetenter wie temperamentvoller Anwalt Offenbachs und seiner intelligenten Musik voller Zitate, Anspielungen und Parodien. Nündel peitscht das Orchester - bei aufgerauhtem, differenziertem Klangbild - nur so durch die Partitur, mit irrwitzigen Tempi bei struktureller Transparenz, Gewitztheit und energetischem Drive. Nündel ist ein Glücksfall für Offenbach. Eben das kann man von der Regisseurin Maria Viktoria Linke nicht behaupten. Im Gegenteil, sie hat das Stück verkleinert, verspießert und ins Lächerliche gezogen, indem sie es als party- und slapstickhafte Comedy inszenierte, ohne den für das Verständnis von Offenbachs Mythentravestien unerlässlichen mythischen wie historischen Hintergrund mit zu inszenieren bzw. verständlich zu machen. So schwebt das Stück im luftleeren Raum nichtssagenden, geistlosen Unterhaltungstheaters. Bunte Spielzeughäuschen, eine drehbare (Bühne: Andreas Rainer) Himmelsschale für die Olympier, die ziemlich sexbetont und heutig gekleidet sind (Bühne und Kostüme Annika Lau) und auf Rollern anreisen (teilweise in Flugzeugverschalung). Schafe in Gummianzügen. Handys, natürlich und andres zeitgeistiges Zeug. Eine Unterwelt, die einen perspektivisch verengten Himmels- oder Höllen-Prospekt und eine hohle, große Muschel, als Rückzugsort für Eurydike sowie eine Freitreppe zeigt, eine übergroße Krebsschere, die vom Bühnenhimmel herabhängt, ebenso eine riesige Vogelkralle und einen violetten Wurm. Es gibt Anspielungen auf Sprechblasen heutiger Politiker. Ansonsten Kalauer, Blödeleien, Slapsticks. Die Rolle des Hans Styx (Andreas Rainer) wurde gründlich vertan, er schlurfte wie ein zerzauster alter Trottel über die Bühne, schon während der Ouvertüre hantierte er mit dem Staubwedel am Vorhang herum. Die Regie hat einiges verschenkt, was die Musik doch immerhin nahelegt. Vor allem Jupiters grandiose „Fliegen“-Nummer.
Was die nassforsch und als Sängerin unbegabte Öffentliche Meinung (Stephanie Theiß) zu Beginn ihrer ziemlich schnodderigen, ans Peinliche grenzenden Auftritte im Zuschauerraum postulierte: “Hier kann nicht jeder sein bürgerliches Süppchen kochen“ wurde in dieser Inszenierung allerdings Lügen gestraft. Offenbachs „Orpheus“ wurde bürgerlich, um nicht zu sagen kleinbürgerlich verwässert, sodass einem das Lachen verging. Die anspruchslose Masse der Zuschauer amüsiert sich allerdings über jeden noch so faden Witz wie Bolle, je platter der Witz, desto lauter ihr Lachen. Das zeigte sich auch in Leipzigs Operettenhaus wieder einmal.
„Vergnügen und Lachen beginnen in Offenbachs Orpheus in der Unterwelt eigentlich schon mit der Avant-Scene der „Öffentlichen Meinung“, die nach eigener Ankündigung den Chor der Alten auf moderne Weise ersetzt. Vor ihr erzittern nicht nur Orpheus, der sich vom klassischen Barden zum modernen fatterhaften Geiger, Professor des Konservatoriums in Theben gewandelt hat, nicht nur seine ungetreue, in den Honighändler Aristeus, alias Pluto, verliebte Gattin Euridike, die mit Wonne den abenteuerlichen Weg zur Unterwelt antritt, sondern auch die „Unsterblichen“, die Götter des Olymps. Auf Wolken gebettet, im Summchor schnarchend, ruhen sie sich von allzu irdischen Amüsiereskapaden aus, samt ihrem Ober-Gott Jupiter, gegen den sie zu den Klängen der (unter Louis-Napoléon als Aufruhrlied verpönten) Marseillaise revoltieren. Und um der Langeweile, dem schlimmsten aller Übel, zu entgehen, ziehen sie mit ihrem stets auf Liebesabenteuer erpichten Götterkönig zur Unterwelt hinab, wo der ständig betrunkene Pluto-Diener Styx Eurydice bewachen soll, aber die Annäherung Jupiters in der Verkleidung einer summenden Fliege nicht verhindern kann. Den Nektar-Rausch des Höllenfestes bei Pluto – Opernparodie und Verherrlichung neuer Lebensfreude in einem — kann nur die „Öffentliche Meinung“ unterbrechen. Vor ihr muss auch der Götter Monarch sich beugen. Wie das Gesetz der Sage es befiehlt, soll Orpheus sein Weib wieder in die Welt der Sterblichen zurückführen, mit der klassischen Bedingung, sich vor Ende der Wanderung nicht nach ihr umzuwenden. Doch aller Vorsorge der „Öffentlichen Meinung“ zum Trotz bleibt Jupiter der Sieger; ihm wird Euridike als Bacchantin in den Olymp folgen. Pluto, der gegen diese Entstellung der Mythologie protestiert, wird mit der Bemerkung abgefertigt: „Unsere Hofbuchdruckerei wird eine neue, verbesserte Auflage herausbringen“, worauf Sterbliche und Unsterbliche sich im Rausch, im bacchantischen Taumel des Höllengalopps vereinen.“ (P. Walter Jacob)
Wie nicht anders zu erwarten, wurde der Höllengalopp, der „Galop infernal“ als Cancan getanzt, was für eine Torheit! Der Höllengalopp ist eine der charakteristischsten, aber auch missbrauchtesten Musiken Offenbachs, „sie wird noch heute dem Publikum als typisch französischer Cancan vorgegaukelt“. (Peter Hawig). Dabei ist Offenbachs Tanz (er hat niemals Cancans komponiert) weit entfernt von dem Moulin-Rouge-Gekreische jener Touristen bespassenden, strumpfbandbestückten und Röcke werfenden Damen, wie er in den 1890er Jahren in gewissen Etablissements Mode war. Bei Offenbach (Gustav Doré hatte es in einem Gemälde bzw. Stich festgehalten) wird zu dem Höllengalopp ein tosendes Bacchanal in phantastischen antiken Kostümen getanzt, anstelle des höfischen Menuetts! Und eben kein Cancan.
Sängerisch zeigte die Musikalische Komödie, dass sie über ein großes und leistungsfähiges Ensemble verfügt. Die vielen Partien wurden glaubwürdig besetzt, die Venus (Olivia Delauré) prunkte mit Sexappeal, Glimmer und Stimme, ebenso die Diana von Nora Lentner, auch der Merkur von Sandro Hänel begeisterte mit seinem furiosen Rollerauftritt. Der Orpheus von Jeffery Krueger in babyblauem Anzug zeigte stimmlich solides Niveau, Die Eurydike der fulminanten Koloratursopranistin Friederike Meinke war allerdings eine zwiespältige Sensation. Stimmlich einer Erna Sack ebenbürtig, trällerte sie in höchsten Tönen und führte atemberaubende Koloraturen und Spitzentöne in schwindelerregenden Höhen vor. Ihr recht plump erotisches Spiel dagegen, gepaart mit geradezu obszön exibitionistischer Zurschaustellung ihrer allzu üppigen, kaum verhüllten, nicht eben ansehnlichen Weiblichkeit grenzte ans Peinliche, was der ganzen Aufführung zum Nachteil gereichte, zumal die Phonstärke ihres Singens gewiss nicht im Sinne Offenbachs war und befremdete wie ihr häufig ordinäres Lachen und Spielen.
So erwies sich die neuerliche Verhunzung der „Opéra bouffe“ zur Operette wieder einmal als ein ärgerliches Missverständnis.
Rezensionen in NMZ Online + Der Opernfreund + Facebook
Wider den Vorwuf der Frauenfeindlichkeit
Nachbemerkung zu meiner Rezension des "Orpheus" in Leipzig
Von "Bodyshaming", "Sexismus" oder "Frauenverachtung" war die Rede in der Flut an empörten, zumeist weiblichen Zuschriften, die ich auf meine Rezension des "Orpheis in der Unterwelt erhielt. Dabei lag es mir fern, eine Sängerin zu kränken. Gekränkt hat mich allerdings ihre obszön exhibitionistische Art, ihren Körper im Dienst einer Kunstfigur (Rolle) auszustellen. Das darf ich als Kritiker doch wohl sagen. Ich habe mich nie verbogen, aus welchen Gründen auch immer verleugnet oder mich einem ungeschriebenen Zeitgeist-Gesetz gebeugt. Ich habe stets meine Meinung offen heraus gesgt.
"Bodyshaming", "Sexismus" oder "Frauenverachtung" sind zeitgeistige Schlagworte. Wer weiß, was ich in den vergangenen Jahrzehnten für die "Sache" der Frauen getan bzw, geschrieben habe, wird solche Vorwürfe als absurd empfindenn. Es geht hier um die Sache. Deshalb entrüste ich mich darüber, dass eine Künstlerin, deren Gesangskunst ich durchaus zu würdigen weiß (wenn sie mal genau lesen wollen), als Darstellerin auf der Bühne so unprofessionell, auch so würdelos gegenüber sich selbst und ihrem Körper ist, der nun mal ist, wie er ist. Ich habe gar nichts gegen ihren Body, aber ich habe etwas dagegen, wenn Bühnenkünstler (egal ob Mann oder Frau) ihre Grenzen nicht erkennen (oder keinen Spiegel im Hause haben) und sich szenisch derart geschmacklos präsentieren und damit lächlich machen! Freilich, wenn Regisseur:innen das verlangen... wären wir bei einem anderen heiklen Thema.
Mann (Frau) sollte doch so etwas wie ein Schamgefühl haben, soviel Noblesse, zu wissen wo die Grenzen des guten Geschmacks und der Zumutbarkeit der eigenen (fast) Nacktheit vor Publikum sind. Es geht auch um die eigene Würde. Man muss und kann würdevoll seinen Körper verhüllen oder enthüllen. Last bot not least: Ich lasse mir - mit Verlaub gesagt - nicht nehmen, mein ästhetisches Urteil über anderer Menschen Äußeres zu äußern, egal ob Mann oder Frau. Das ist mein gutes Recht. Ich werde ja auch kritisch beäugt und begutachtet. Ich kann damit leben!
Merkwürdig übrigens, über die körperliche Beschaffenheit eines Mannes (er darf aussehen wie er will) darf man ungeniert reden. Über die körperliche Beschaffenheit einer Frau zu reden (wenn sie nicht gerade Idealmaße hat), ist hingegen tabu. Das sei "Bodyshaming"...
Gottlob herrscht in unserer Demokratie die Freiheit und das Recht der Meinungsäusserung.
*
Stellungnahme der Oper Leipzig zur aktuellen Diskussion um Kulturkritik
und persönliche Grenzüberschreitungen
Die öffentliche Diskussion rund um eine Theaterkritik zu unserer aktuellen Produktion von
»Orpheus in der Unterwelt« hat am gestrigen Tag viele Menschen bewegt. Wir möchten als Lei-
tung der Oper Leipzig und der Musikalischen Komödie heute gemeinsam Stellung beziehen.
Als Bühne, die sich der offenen Auseinandersetzung mit Kunst und Gesellschaft verpflichtet
sieht, bekennen wir uns ausdrücklich zur Freiheit der Kulturkritik. Kritische Rückmeldungen zu
Inszenierung, Spiel, Stimme oder künstlerischem Konzept sind nicht nur legitim, sondern für die
Weiterentwicklung des Theaters unerlässlich. Journalist:innen und Kritiker:innen müssen ihre
Arbeit frei und ohne Angst vor persönlichen Angriffen oder Einschüchterung ausüben können.
Drohungen oder persönliche Anfeindungen gegen Rezensent:innen sind durch nichts zu recht-
fertigen. Sie schaden dem öffentlichen Diskurs und gefährden die Meinungsfreiheit.
Künstlerische Darbietungen können und sollen also zur Diskussion stehen. Diese Diskussion
verliert jedoch an Qualität und Respekt, wenn sie in abwertende Kommentare z. B. über körper-
liche Merkmale mündet. Solche Aussagen verletzen die Würde der Ausübenden und fördern
diskriminierende Denkmuster.
Bodyshaming – also die Herabwürdigung von Menschen aufgrund ihres Körpers oder Ausse-
hens – ist nicht akzeptabel. Nicht auf der Bühne, nicht im Alltag und auch nicht in der Kultur-
kritik. Persönliche Abwertungen einzelner Künstler:innen – insbesondere im Hinblick auf ihre
Körperlichkeit – überschreiten die Grenze zulässiger Kritik. Solche Formulierungen verletzen
nicht nur die betroffenen Menschen, sondern auch den Geist einer freien und respektvollen
Auseinandersetzung mit Kunst.
Wir haben uns daher bereits persönlich an den Autor der betreffenden Rezension sowie an die
verantwortliche Redaktion gewandt, um unsere Haltung unmissverständlich zum Ausdruck zu
bringen.
Wir plädieren für eine offene, faire und respektvolle Debatte. Diese darf bei aller Klarheit und
Schärfe der Positionen niemals auf Kosten der Menschenwürde geführt werden – weder auf der
Bühne noch im geschriebenen Wort, weder in Redaktionen noch in Kommentarspalten.
Die Bühne ist ein Ort der Freiheit – für die Kunst ebenso wie für die Kritik. Beides erfordert Hal-
tung, Verantwortung, sorgfältige Differenzierung und gegenseitigen Respekt.
Tobias Wolff Intendant der Oper Leipzig
Torsten Rose Direktor der Musikalischen Komödie Leipzig
Leipzig, den 27.05.2025
*
Stellungnahme des Chefredakteurs der Zft. "Der Opernfreund":
27. Mai 2025
Kontrapunkt: Über „Bodyshaming“ und das Wesen von Kritik – Anmerkungen zu einem Shitstorm
Das also ist ein Shitstorm. Um 18.38 Uhr fing es an. Im Minutentakt gingen Nachrichten auf den E-Mail-Accounts der Redaktion ein, parallel auch einige wenige auf dem Facebook-Messenger. Das könnte man einfach über sich ergehen lassen. Irgendwann hört es sicher auf. Vereinzelt gab es Drohungen und Nötigungen („Wenn nicht, dann …“). Das lassen wir auf strafrechtliche Relevanz prüfen. Das Internet ist keine rechtsfreie Zone.
Gar nicht so wenige Nachrichtenschreiber haben ihre Empörung aber mit Anrede und Grußformel in ordentlicher Form vorgetragen, mitunter sogar den Beitrag, der ihren Zorn erregte, mit Anerkennung bedacht, wenn nur nicht dieser eine Satz gewesen wäre …
Das ist dann Anlaß genug, den Vorgang noch einmal intern zu prüfen. Zum konkreten Beitrag kommen wir sogleich. Jetzt wird es erst einmal kurz grundsätzlich. Was zeichnet eine Aufführungskritik aus? Nach meinem Dafürhalten (Sie merken schon: Ich kennzeichne vorsichtshalber die Subjektivität) soll eine Kritik beschreiben, was der Kritiker wahrgenommen hat (bereits das ist subjektiv!), um dies dann nach (seinen! subjektiven!) ästhetischen Kriterien einzuordnen. Eine Kritik ist damit niemals objektiv. Sie sollte aber immer ihre Maßstäbe offenlegen und dem Leser die Möglichkeit eröffnen, das Beschriebene nach eigenen Maßstäben womöglich anders zu beurteilen. Ich finde es auch immer hilfreich, einen (subjektiven!) Eindruck von den Publikumsreaktionen wiederzugeben.
Nun zum konkreten Fall: Unser Autor Dr. Dieter David Scholz, ein ausgewiesener Experte für das Werk Jacques Offenbachs und die Rezeption dieses Werks, hat eineKritik zur jüngsten Premiere vonOrpheus in der Unterweltan der Musikalischen Komödie Leipzig verfaßt. Der Tenor entspricht dem Titel des von Scholz vor zwei Jahren herausgebrachten Sachbuchs: „Jacques Offenbach. Ein deutsches Missverständnis“. In meiner (subjektiven!) Zusammenfassung: Offenbachs utopische, ironisch-politische Satiren werden zu platten Schenkelklopfer-Operetten verharmlost. So auch in der Leipziger Neuproduktion. Seine ästhetische Grundhaltung zu Offenbachs Werk belegt der Autor in seiner Kritik mit Zitaten aus der Musikwissenschaft und zeigt im Detail, warum er unter Zugrundelegung dieses Maßstabs den Regieansatz der Aufführung für verfehlt hält. Er kritisiert „party- und slapstickhafte Comedy“. Dabei lobt er die musikalische Qualität, vergleicht insbesondere die Sängerin der Eurydike als „fulminante Koloratursopranistin“ mit der legendären Erna Sack, um dann zur szenischen Darstellung auszuführen:
„Ihr recht plump erotisches Spiel dagegen, gepaart mit geradezu obszön exhibitionistischer Zurschaustellung ihrer allzu üppigen, kaum verhüllten, nicht eben ansehnlichen Weiblichkeit grenzte ans Peinliche, was der ganzen Aufführung zum Nachteil gereichte, zumal die Phonstärke ihres Singens gewiss nicht im Sinne Offenbachs war und befremdete wie ihr häufig ordinäres Lachen."
„Bodyshaming!“ schallte es uns da aus dem Shitstorm entgegen. Was ist das eigentlich? In Wikipedia findet sich folgende Definition: „Ein nicht wiederholter Akt, in dem eine Person ungefragt hauptsächlich negative Meinungen oder Kommentare über den Körper des Opfers (Größe, Form, Gewicht, Körperteile, mit dem Körper zusammenhängendes Erscheinungsbild, Extremitäten usw.) abgibt“.
Nun, ganz „ungefragt“ hat der Kollege Scholz seinen Kommentar nicht abgegeben, denn schließlich hat er sich die Aufführung als Kritiker angesehen. Die Frage ist vielmehr, ob hier ein „mit dem Körper zusammenhängendes Erscheinungsbild“ ein ästhetischer Parameter ist. Dann darfes nicht nur kommentiert werden, dann muß es kommentiert werden. Da das Wort „Comedy“ schon gefallen ist, mag folgendes Beispiel hilfreich sein: Die Komikerin Ilka Bessin hat die Figur „Cindy aus Marzahn“ erfunden. Diese wird im zugehörigen Wikipedia-Beitrag wie folgt beschrieben: „eine übergewichtige Langzeitarbeitslose aus Berlin-Marzahn“, welche „durch eine pinkfarbene Kleidung und ein Diadem ein ironisches, zum Scheitern verurteiltes Prinzessinnen-Image“ pflege. „Übergewichtig“ und „zum Scheitern verurteilt“: Das ist Bodyshaming, oder? Und nun versuchen Sie einmal, das Wesen dieser Kunstfigur zu beschreiben, indem Sie „negative Meinungen oder Kommentare über den Körper des Opfers (Größe, Form, Gewicht, Körperteile, mit dem Körper zusammenhängendes Erscheinungsbild, Extremitäten usw.)“ weglassen. Es funktioniert nicht. Warum? Weil eben diese körperlichen Merkmale und ihre Zurschaustellung als künstlerische Mittel eingesetzt werden.
Genau so hat es der Kollege Dr. Scholz bei der Kunstfigur (!) Euridyke wahrgenommen. Für ihn wurde in der Darstellung der Figur „allzu üppige“ Weiblichkeit „kaum verhüllt“ und damit „geradezu obszön exhibitionistisch“ zurschaugestellt. Er empfand das als „unansehnlich“ und „ans Peinliche“ grenzend. Die Kritik gilt also nicht den Körpermaßen der Sängerin an sich, sondern deren bewußtem Einsatz durch die gewählte Art der Darstellung. Scholz schreibt nicht: „Füllige Sängerinnen sind unansehnlich und peinlich“, sondern die von ihm so (subjektiv!) wahrgenommene „obszön-exhibitionistische Zurschaustellung“ widerspreche seinen (subjektiven!) ästhetischen Maßstäben, was zu seinem Urteil „unansehnlich“ führt.
Auch in der dicht gedrängten Aneinanderreihung wertender Adjektive in der beanstandeten Passage ist für den verständigen Leser klar, daß hier die Art der Verwendung von Körperlichkeit bewertet wird und nicht die Person der Sängerin. Wer etwa die Körpermaße einer Politikerin wie Riccarda Lang bewertet, liegt neben der Sache, wer aber den Einsatz eines bestimmten Körpers als Mittel künstlerischer Darstellung (subjektiven!) ästhetischen Bewertungen unterzieht, versieht einfach nur seine Aufgabe als Kritiker.
Daher liegt eine exemplarische Zuschrift innerhalb des Shitstorms besonders auffällig daneben:
„Fürchterlich! Zumal die „exhibitionistische Zurschaustellung“ sicherlich nicht die Wahl der Darstellerin war, sondern von der Inszenierung verlangt, ebenso wie das „ordinäre Lachen“. Ihr daraus einen Vorwurf zu machen, es als „peinlich“ zu bezeichnen, zeugt nicht gerade von Sachkenntnis der Opern- und Theaterwelt. Einfach unterirdisch!“
Soll denn die Bewertung einer Inszenierungsidee deswegen unterbleiben, weil die sie ausführende Darstellerin sich das persönlich zu Herzen nehmen könnte?
Ja, höre ich die Shitstormer rufen, denn für ihre Körpermaße kann die Sängerin schließlich nichts. Man möchte erwidern: Ein anderer Sänger kann auch für seine häßliche Stimmfarbe nichts, für sein Unvermögen, den Takt zu halten oder die richtigen Töne zu treffen. Soll man das alles deswegen beschweigen? Wenn Sie das so sehen, dann, bitte, lesen Sie einfach keine Kritiken! Auch wer als Künstler Wertungen nur dann erträgt, wenn sie positiv sind, möge diese journalistische Gattung meiden. Und sollte sich überhaupt überlegen, ob er (generisches Masculinum) nicht den falschen Beruf ergriffen hat: „If you can’t stand the heat, get out of the kitchen“.
Michael Demel, 27. Mai 2025
PS: Wir bitten um Verständnis bei den Verfassern der zahlreichen zustimmenden, ablehnenden und differenzierenden Zuschriften und Kommentare, daß wir allenfalls in Ausnahmefällen persönlich antworten können.
Daß darunter höhnische, herabwürdigende und persönlich beleidigende Bemerkungen sind, können wir wegstecken. Das Zitat zur Hitze in der Küche gilt auch für uns. Immerhin zeigen diese Schmähungen, daß es eine Gruppe gibt, die man sowohl wegen ihres Alters als auch wegen ihrer Hautfarbe und ihres Geschlechtes beschimpfen darf: die „alten weißen Männer“, die bereits strukturell grundsätzlich im Unrecht sind.
*
Nach den (zumeist undifferenzierten, uninformierten, sogar ausgesprochen dummen, beleidigenden und ideologischen) Anwürfen aus überwiegend weiblicher Feder hier einige zustimmende Leser-Stimmen beiderlei Geschlechts.:
Herr Dr. Demel,
sehr geehrter Herr Dr. Scholz,
Ich möchte mit dieser Mail nur einen Kontrapunkt zu denv ermutlich vielen negativen Zuschriften setzen,die sie in denl etzten Tagen wohl erhalten haben. Wenn man sich in einer gewissen Blase bewegt, kann man leicht zu dem Schluss kommen, dass di eganze Welt so ticken würde. Dem ist mitnichten so.
Von daher möchteich Ihnen nur Mut zusprechen, Haltung zu zeigen und zu Ihrer Freiheit der Kritik zu stehen. Meinungs- und Geschmacksäußerungen sind essentiell für eine freie Gesellschaft und Shitstorms stellen eine akute Bedrohung derselben dar.
Mi tden allerbesten Grüßen
Andrej Tippner
Sehr geehrter Dieter David Scholz,
Ich danke Ihnen von Herzen für die überaus treffende Rezension zur LeipzigerOrpheus-Inszenierung! Ich habe lange keine derarts chlechte Operetteninszenierung gesehen, die alles,wofür dieseGattung eigentlich steht, ignoriert,banalisiert unddurch dumme Einfälle ins Lächerliche zieht.Von vielen dramaturgischenF ehlern einmal ganz abgesehen.
Es war einfach nur peinlich! Wird demP ublikumwirklich so wenig zugetraut,dass es immer die gleichen flachenWitze,Sprüche und Gagsv orgesetztbekommt?Ist dies die landläufige Vorstellung vona ktuellen Inszenierungen? Ich hoffenicht...Ich jedenfalls habe mich für dumm verkauft gefühlt und staune sehr über dieHaltung des LVZ-Kollegen.
Ich stimme Ihnen inallen Punkten zu,auch wenn ich Ihre Gedankenzur "Körperlichkeit" von Friederike Meinke ebenfalls als zu scharf formuliert finde. Schade,dass zwischen der damit angestoßenen Bodyshaming-Debatte die eigentlichen Fakten zu diese rmiserablen Inszenierung in den Hintergrund rücken.
Mit besten Grüßen
Doris Fischer
Lieber Herr Scholz,
Ich finde nach wie vor Ihre Kritiken super!
Das ist ein Unsinn, dass es Bodyshaming ist. Der gute Geschmack geht verloren und viele wissen nicht mehr: was Eleganz und Grandezza bedeutet!
Ich habe aufgefasst, dass dasVerhalten der Dame und die Agitation vulgär war…..Es hat nichts mit diesen Kommentaren zu tun. Sie dürfen sehr wohl Ihre Meinung auch ungefragt äußern, Sie sind immer noch ein Kritiker, ich unterstütze IhreAussage!
Viktorija Kaminskaite
Mich erstaunt, dass einerseits an der Kritik Anstoß genommen wird, nicht aber an den Zoten und dem offensichtlich plumpen, unter der Gürtellinie liegenden „Humor“ derInszenierung.
Michael Rudloff
Theater hat auch etwas mit Finesse zu tun und mit der Würde der Künstler:innen, definitiv.
Sussanne Schulz
Der Leipziger Musikkritik-Skandal wird in die Geschichte eingehen und Sie gestärkt daraus hervorgehen und als Kritiker berühmt werden. Das ist das Gute daran.
Ansonsten finde ich den Anlass für dieZensur ziemlich banal und an den Haaren herbeigezogen. Es gibt wahrlich größere Probleme in der Welt und das soll nicht als "whataboutism" verstanden werden.
Eric Dietermeier
Sehr geehrter Herr Dr. Scholz,
als Sie und Ihre Publikationen stets sehr schätzender Operettenforscher wollte ich Ihnen nur meineEntrüstung über den Ihnen widerfahrenen Shitstorm zum Ausdruck bringen.Wenn es in diesem Lande überhaupt noch eine Handvoll niveauvoller, fachkundiger Musiktheaterkritiker gibt, gehören zuvörderst Sie dazu, da Sie in Ihren Kritken stets demalten Karl Farkas-Prinzip "Nichtverletzend, nicht beschämend und sich selbst nicht wichtignehmend" wie kaum ein Zweiter stets vollauf entsprechen. Genau das zeichnet Ihrewundervollen von sachlicher Klar-und Direktheit und nich tzuletzt von spürbar beseelter Leidenschaft geprägten Kritiken aus -auch jene des Orpheus in Leipzig!
Daniel Hirschel
Sie haben eine prima Kritik geschrieben, wie immer inhaltlich kompetent undstilistisch schön, das müssen die vertragen können, alles im grünen Bereich.
Die Kampagne wirkt orchestriert und ist nicht als spontane Publikumsreaktion ustande gekommen.
Henry C.Brinker