Berne: Belcanto

Denkmal für den Belcanto-Lehrer Antonio Cotogni: "Man singt bei einer Belcanto-Oper nicht (nur) das, was in den Noten steht."



Peter Berne. Belcanto

Historische Aufführungspraxis in der italienischen Oper von Rossini bis Verdi


Wernersche Verlagsbuchhandlung. 

Ein praktisches Lehrbuch für Sänger, Dirigenten und Korrepetitoren

274 Seiten mit vielen Notenbeispielen, 21 x 24 cm, geb., mit Audio-CD



Was ist das eigentlich: Belcanto? Meist übersetzt man das Wort mit „Schöngesang“. Was Belcanto wirklich ist, kann man jetzt in einem wunderbaren Buch des Belcanto-Spezialisten Peter Berne lernen, lesend und hörend, denn dem Buch ist eine Audio-CD bei­gegeben, in der der Autor das Wichtigste noch einmal spricht und mit Gesangsbeispielen veranschaulicht.


„Belcanto kann man …definieren als eine im Barock von den Kastraten entwickelte Gesangskunst, die von den Komponisten des italienischen Romanticismo als wichtigstes Ausdrucksmittel zur Mitteilung ihrer künstlerischen Aussage verwendet wurde."


Unter Bezugnahme auf Texte historischer Belcantotheoretiker des Barock, aber auch der Zeit Rossinis, Donizettis, Bellinis bis hin zu Verdi - mit Belegen also berühmter Gesangsschulen, etwa von Pierfrancesco Tosi, Johann Adam Hiller, Louis Lablache,  Rudolfo Celletti, Giudita Pasta und Manuel Garcia, verdeutlicht  Berne, dass die Sänger damals geradezu als Mitschöpfer des Werkes betrachtet wurden. Und sie hatten nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht, den gedruckten Notentext durch eigene, meist improvisierte Ornamente und Variationen zu ergänzen. Das Entscheidende beim Belcanto bringt Peter Berne auf die folgende – provozierende - Formel:


„Man singt bei einer Belcanto-Oper nicht das, was in den Noten steht. Oder zumindest nicht nur das! Eine gute Aufführung einer Bel-cantooper ist ohne die schöpfe­rische Mitwirkung der Sänger undenkbar. Diese Mitwirkung beschränkte sich aber nicht nur durch das Hinzufügen von Ornamenten und Variationen, das in manchen Fällen soweit gehen konnte, dass  man fast von einer Neukomposition des Stückes sprechen könnte, sondern es gab auch unzählige stilistische Feinheiten wie Stimmfarben, dynamische Nuancen, bestimmte Phra-sierungsmuster und dergleichen mehr, welche vom Komponisten meistens nicht aufgeschrieben wurden, und die der Sänger daher nach eigenem Ermessen anzubringen hatte."


Die Grundlage des Belcanto bildet immer eine klare, einfache Legatolinie, bei der der Wechsel von Ton zu Ton weich und schmiegsam erfolgt, jedoch ohne jenes Schleifen und Schmieren, das oft mit italienischem Singen verwechselt wird. Es gab im Belcanto ein ganzes Arsenal an Stilmitteln, die alle zusammen eine Art Sprache bildeten, die Träger der emotionalen Aussage war. Und der Interpret musste diese Sprache und ihre Vokabeln beherrschen, wenn er den Zuhörern die jeweils gewollte Aussage im Sinne des Komponisten vermitteln wollte.


„Es gibt für den Belcantostil genauso wie für die Barockmusik eine historische Aufführungspraxis. Und es ist für den Sänger absolut notwendig, diese zu kennen, will er ein Werk aus jener Epoche so wiedergeben, wie es der Komponist selbst wollte.“


Eben diese historische Aufführungspraxis vermittelt das Buch von Peter Berne. Er erklärt die Begrifflichkeiten der Stilmittel und erläutert ihre sängerische Umsetzung praktisch. Begriffe wie Rubato, Parlato, Vibrar la voce, Cercar la nota, Sotto voce oder  Messa di voce werden erklärt. Es wird aber auch die Kunst der Koloraturen, Verzierungen und Variationen gelehrt, auch wie  man  Recitativo accom-pagnato, Vorschläge und Triller ausführt. Und die verschiedenen Arten des Portamento, des Tragens der Stimme also von einem Ton zum Anderen, werden klar definiert:


„Im Barock wurden zwei verschieden Arten des Portamento unterschieden, die man damals mit den deutschen Wörtern Ziehen und Schleifen zu bezeichnen pflegte, vom Ziehen sprach man, wenn der Sänger die Stimme schnell auf die folgende Note hinauf, bzw. hinter zog, be-vor er die nächste Silbe aussprach. Also anstatt … singt vor … Dabei hatte das Ziehen so rasch zu geschehen, dass man keine der dazwischen liegenden Töne wahrnehmen konnte. Ein solches Portamento wird zum Beispiel von Mozart in den Varia­­tionen zu seiner Konzertarie "Alcandro, lo confesso" verlangt. Er schreibt es sogar mit Noten genau aus." 


Bei der anderen Art von Portamento, das man als Schleifen bezeichnete, zog man die Stimme bewusst ganz langsam auf den nächsten Ton, und es war geradezu erwünscht, dass man alle möglichen, dazwischen liegenden Töne hörte.


„Maria Callas verwendet beispielsweise in der Arie der Elvira aus Bellinis „I Puritani“ ein Maximum an schleifenden Portamenti, um die hier geforderte extrem starke Emotion zum Ausdruck zu bringen."  


Bei Peter Berne lernt man die Sprache des Belcanto, zumindest deren Grundbegriffe bis hin zur Verständigungsfähigkeit.  Ein Gewinn für den, der singt oder singen lernen möchte, aber auch für den nur Zuhörenden. Er wird nach der Lektüre dieses Buches Belcanto mit anderen Ohren hören und manchen Sänger anders beurteilen. 


Peter Berne ist übrigens Schüler des 1981 verstorbenen, legendären Gesangspädagogen Luigi Ricci, der seinerseits bei Antonio Cotogni Gesangsstunden viele Jahre, von 1905 - 1918  am Klavier saß. Cotogni war Freund und Bariton Rossinis und vor allem Verdis.


Bei Cotogni lernten einige der größten Sänger des 20. Jahrhunderts, Benjamino Gigli, Giacomo Lauri-Volpi, Giuseppe de Luca und Mariano Stabile, um nur einige zu nennen. Luigi Ricci hat gewissenhaft alles, was er von Cotogni gelernt hatte, aufgeschrieben in seinen Partituren und Klavierauszügen. Ein unschätzbarer Schatz an authentischem Wissen über Belcanto, den der seinerseits legendäre Dirigent Tulio Serafin zu nutzen wusste. Er engagierte Ricci als Studienleiter an die Mailänder Scala. Und Ricci, der einmal "der größte Coach" Italiens genannt wurde, hat mit nahezu allen Stars der Scala in deren Blütezeit Partien einstudiert. Ein Mann, der 60 Jahre lang wie kein anderer den Stil der Italienischen Oper prägte. Und doch steht sein Name in keinem Musiklexikon. Peter Berne hat ihm mit seinem Buch ein Denkmal gesetzt. Mehr noch, er hat mit ihm die Ricci-Tradition weitergegeben. Das Buch ist ein wichtiges Lehrbuch über Stil- und Aufführungspraxis, es schließt eine Lücke in der didaktischen Musikliteratur und ist allen, die Belcantooper lieben, nur dringend zu empfehlen.


 


SWR 2, Musik aktuell, Rondo