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Charismatischer Jahrhundertmusiker: Leonard Bernstein
Kommunikationsgenie, Verführer, vielseitiger Vollblutmusiker
Am 25.08.2018 wäre Leonard Bernstein 100 Jahre alt geworden. Er war eine der schillerndsten wie bedeutendsten Persönlichkeiten des Musikle-bens im vergangenen Jahrhundert: Dirigent, Pianist, Komponist und be-gnadeter Musikvermittler. Aus diesem Anlass sind neue CD-Editionen seiner sämtlichen Werke, dirigierten Einspielungen anderer Komponisten und Klavieraufnahmen bei Universal, Sony und Warner Classics erschie-nen. Auch zwei neuere Bücher sind erschienen. Eine Blütenlese.
Er wurde am 25. August 1918 in Lawrence, Massachusetts als Sohn jüdische Einwan-derer aus Süd-Russland, der heutigen Ukraine geboren, gestorben ist er am 14. Oktober 1990 in New York City. Eigentlich hieß er Louis Bernstein. Im Alter von 16 Jahren än-derte er seinen Vornamen in Leonard. Der Name Bernstein stammt vermutlich von frü-heren Bernsteinhändlern. Viele Vorfahren waren allerdings Rabbiner und Schriftgelehr-te. Das Jüdische, jenseits aller Orthodoxie war für den Kosmopoliten Leonard Bernstein lebenslanger Orientierungspunkt, weshalb die Musik Gustav Mahlers ihm auch so viel bedeutete.
Er war einer der ersten internationalen Medienstars der klassischen Musik. Viel ist über ihn geschrieben worden. In der Vergangenheit wie neuerdings im Hinblick auf den Ge-denktag. Die nach wie vor maßstabesetzende Biografie Bernstein stammt von Humph-rey Burton (1994). Einen guten Überblick über Leben, Karriere und Musik gibt Andreas Eichhorn in seinem 2017 erschienenen 400seitigen Buch „Leonard Bernstein und seine Zeit“. Das wohl persönlichste Erinnerungsbuch stammt von Jamie, der ältesten Tochter Leonard Bernsteins: „Famous Father Girl“, das englischsprachig im Juni dieses Jahrs erschienen ist.
Sven Oliver Müller beschreibt in seiner Biographie über den „Charismatiker“, die in die-sem März erschien, das in jeder Hinsicht überreiche Leben einer Ausnahmepersönlich-keit, wobei er die schwierigen Aspekte nicht verschweigt: Eitelkeit, Arroganz, ero-tische Exzesse, den Hang zu Zigaretten und Alkohol, die innere Vereinsamung der späten Jah-re. Vor allem aber bringt Müller das Charakterische der Musik Bernsteins auf den Punkt: „Bernsteins Werke sind gekennzeichnet durch verschiedene ästhetische Ansätze: musi-kalischer Eklektizimus und Pluralismus, der Rückgriff auf unterschiedliche Stile von der romantischen Sinfonie über den Jazz bis hin zur Popmusik; ein scharfer Fokus auf die Differenz zwischen tonaler und atonaler Musik, damit verbunden die Suche nach Ver-ständlichkeit und klarer Vermittlung bestimmter sozialer und politischer Themen und schließlich das theatralische Element in den Bühnenwerken und in den Orchester-stücken.“
Ironische Brüche und theatralische Spiellust durchziehen Leonard Bernsteins Musik, ob Sinfonien, Musicals, Lieder oder Konzerte. Jüdische Religiösität und amerikanische Nonchalance durchdringen sich darin. Müller zitiert den Musikschriftsteller Peter Gra-denwitz, der über dieses Spannungsverhältnis einmal schrieb, „In seiner Musik gibt es einen Dualismus von Nostalgie und Modernität, von tonal-melodischer Eindringlichkeit und chromatisch-pantonalerMelodik… es gibt vage Einflüsse - Copland, Gershwin, Offenbach - aber letzten Endes ist die Musik reinster Lenny“ (wie Leonard Bernstein von seinen Freunden und Verehrern genannt wurde).
„Der Trick bei der Kunst", so las man schon in dem nach wie vor lesenswerten Buch "Dinner with Lennie", einem Interview, das der Journalist Jonathan Cott ein Jahr vor Bernsteins Tod geführt hatte (es erschien 2012 auf Deutsch unter dem Titel "Leonard Bernstein. Kein Tag ohne Musik, " besteht darin, zu wissen, wie man auf elegante Weise klaut". Der Komponist Bernstein weiß, wovon er spricht.
In Jonathan Cotts Buch, dem schmalsten, aber persönlichsten und vielleicht essentiell-sten Buch über das Jahrhundertphänomen Leonard Bernstein, bekennt sich Lennie, jen-seits von Zahlen-, Daten-, Fakten- und Werkaufzählungen auch ganz selbstverständlich über seine Liebe zu Männern. Für ihn gehört eben "alles zu allem". Und so ergänzen sich die musikalischen, psychologischen, religiösen, politischen und menschlich-allzu-menschlichen Themen dieses Interviews zu einem runden, beeindruckenden Gesamtbild Bernsteins. Er war einer der vielleicht größten Kommunikatoren unter den Dirigenten und Komponisten. Geradezu Kultstatus hatten seine 53 Gesprächskonzerte „Young People´s Concerts“, die alle im US-amerikanischen Fernsehen übertragen wurden und ein Millionenpublikum erreichten.
Auch wenn Musik sein Leben war, und sein Leben vor allem aus Musizieren bestand: In der immer wieder sehenswerten Filmdokumentation aus dem Jahre 1979, "Reflections" von Peter Rosen, die 2009 auf DVD erschienen ist, spricht Bernstein es aus: „Mein ei-gentlicher Antrieb beim Komponieren, ist das Bedürfnis zu kommunizieren - mit so vie-len Menschen wie möglich. Denn was ich an der Welt und am Leben liebe, sind Men-schen. Ich mag sie mindestens so sehr wie die Musik.“ Das war vielleicht das Geheim-nis seiner einzigartigen Wirkung und seines Erfolgs.
Deshalb nennt ihn Michael Horowitz in seinem bereits im letzten Herbst erschienenen biographischen Buch auch einen „Magier der Musik“. Schon der Jahrhundertdirigent Arturo Toscanini soll gesagt haben: „In Bernsteins Konzerte gingen die Leute auch, wenn er der schlechteste Dirigent der Welt wäre.“ Der Journalist, Schriftsteller und Verleger Michael Horowitz zitiert die provokative Äußerung Toscaninis auf der ersten Seite seines Buches und belegt auf den folgenden 238 Seiten die ungemein charisma-tische, ja magische Ausstrahlungskraft Leonard Bernsteins. Er präsentiert in seiner gro-ßen Jubiläumsbiografie nicht nur reiches Bildmaterial, sondern lässt zahlreiche promi-nente Weggefährten Bernsteins zu Wort kommen: von der Mezzosopranistin Christa Ludwig bis zum Regisseur Otto Schenk, von der Sopranistin Gundula Janowitz bis zum Pianisten Rudolf Buchbinder. Sie und viele andere Ungenannte erinnern sich in dem Buch an den Magier der Musik.
„Hinter dem Ruhm, hinter seiner scheinbar lockeren Art zu leben“, so liest man, „verbar-gen sich Stress, Spannung, Zerrissenheit und Konflikte seiner Sexualität. Bernstein führ-te ein Leben voller Leidenschaft, in dem aber auch Disziplin Platz fand. Er war ein Ver-führer, wusste das und genoß es. Er brauchte, er suchte die menschliche Nähe und blieb – inmitten äußeren Trubels – immer ein Einsamer, trotz Ovationen, Kuss- und Umar-mungslegenden.“ Es war ein wildes, unruhiges Leben. Phasen exzessiver Lebensgier wechselten mit Zeiten tiefer Depression und Angst vor künstlerischem Versagen, so schreibt Horowitz. Er stellt ihn als charismatischen Renaissancemenschen dar, der durch ein ungeordnetes Privatleben taumelte, exzessiv feierte, bis zu hundert Carlton täglich rauchte und reichlich Ballantine´s Whisky trank. Und er zitiert das Time Magazine, das Bernstein verdächtigte „er fülle die Konzertsäle mit Hilfe eines Sexappeals, den er von sich gibt wie ein exaltierter Zitteraal“. Seine Gegner meinten, "er inszeniere beim Diri-gieren immer nur sich selbst.“ Joachim Kaiser widersprach heftig: “Bei Bernstein erlebt man ein Fluidum von Wahrheit und Leidenschaftlichkeit. Seine Unmittelbarkeit, seine dramatische Vergegenwärtigungskraft, ist das Gegenteil von bloßer Selbstdarstellung“.
Auf diversen Tonträger-Neueditionen kann man sich davon überzeugen. 121 CDs und 36 DVDs enthält die umfangreichste Edition, die die Deutsche Grammophon und Decca aus Anlass des hundertsten Geburtstags herausbrachten, eine Mammutbox: „Complete Recordings“, die alles, was Bernstein jemals aufnahm enthält, einschließlich für diese Edition erstmals veröffentlichter raren Aufnahmen (inklusive aller sinfonischer Zyklen und Operngesamtaufnahmen) sowie dokumentierter Auftritte des einzigartigen Musik-kommunikators (DG 00028947984184). Wem es nur um die eigenen Werke Bernsteins geht, der ist mit der 26 CDs und 3 DVDs bestückten Box der Deutschen Grammophon- Aufnahmen „Complete Works“ (DG 002894829228) gut bedient. Wer den großartigen Musikvermittler Leonard Bernstein kennenlernen möchte, findet fünf Beispiele selbst gesprochener musikalische Analysen von Sinfonien Beethovens, Dvoráks, Schumanns, Brahms und Tschaikowskys in der 5 CDs umfassenden Mono-Edition „Leonard Bern-stein. The 1953 American Decca Recordings“ (DG 02894770002). Die Aufnahmen, die Bernstein mit dem Orchestre National de France in den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts machte, darunter legendäre Dirigate von Werken Berlioz´, Milhauds, Ra-vels und Rachmaninovs, enthält eine Warner-Box mit 7 CDs „Leonard Beinstein. An American in Paris“. (Warner 0190295689544). Auch das Label Sony hat mehrere teils umfangreiche Bernsteineditionen herausgebracht (für Nostalgiker sogar eine auf Vinyl). Für Klaviermusikfreunde dürfte „Bernstein. The Pianist“ (11 CDs) besonders interes-sant sein (Sony 0889854837921). Von diversen Einzelveröffentlichungen gar nicht zu reden. Die diskografische Hinterlassenschaft Leonard Bernsteins ist so gewaltig wie seine Bedeutung in der Musikwelt des 20. Jahrhunderts.
Artikel auch in der Freien Presse