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Eine der besten Operngeschichten, kompetente Liebeserklärung an die Oper
Vierhundert Jahre ist sie nun alt, die Gattung Oper. Sie diente der Staats-Repräsentation, aber auch der Selbstdarstellung des Bürgertums und der Kritik an Staat. Sie gaukelt dem Zuschauer noch heute Träume vor, aber sie taugt auch für Gesellschaftskritik. Sie kann poetisch sein und weltfern, aber auch aufklärerisch und utopisch, sanft und rebellisch. In der Oper ist alles möglich. Die Musikwissenschaftler Caro-lyn Abbate von der Harvard Universität und Roger Parker vom King´s College in London haben Bilanz gezogen in ihrem Buch "Eine Geschichte der Oper", das im vergangenen Jahr in London herausgekommen ist. Nun (2013) liegt es auf deutsch vor. Der Untertitel: "Die letzten vierhundert Jahre".
Es war der 24. Februar 1607, als der Hofkapellmeister Claudio Monteverdi im Palast Vincenzo Gonzagas, des Herzogs von Mantua, seine „Favola in musica“, L'Orfeo zum ersten Mal aufführte. Man darf diesen Tag als den Geburtstag der Oper bezeichnen. auch wenn neun Jah-re zuvor bereits Jacopo Peri in Florenz ein „dramma per musica“ „Dafne“ geschrieben hatte, das aber nur fragmentarisch erhalten ist. Monteverdi beschritt mit seinem Orfeo in der musikalisch-dramatischen Schilderung menschlicher Freuden und Leiden einen Weg, der inzwischen ein vierhundert Jahre alter ist. Carolyn Abbate und Roger Parker verfolgen diese "letzten 400 Jahre" zurück, wie es im Unter-titel heißt, und suggerieren in ihrem Optimismus, dass diese Operngeschichte keineswegs abgeschlossen sei. "Die Tatsache, dass über so lange Zeiträume hinweg immer wieder Opern komponiert wurden, und diese Kunstform sich zu einer Zeit weltweit verbreitet, da die übrige klassische Musik ernsthaft bedroht ist, sollte in der Tat ein Grund zum Jubilieren sein."
Was die unglaublich umfassende, einbändige, mehr als 700 Seiten dicke Operngeschichte des amerikanisch-britischen Autorenpaares vor allem auszeichnet, dass sie nicht nur die bekanntesten Opernkomponisten wie Monteverdi, Händel, Mozart, Strauss, Puccini bis hin zu Berg und Britten darstellt, und ihre Werke, sondern neben anschaulichen, nicht selten amüsanten und ziemlich lebensnahen Kommentaren das soziokulturelle, politische und musikalische Umfeld. Aber auch die Musik kommt nicht zu kurz: Die Autoren erklären beispielsweise einleuchtend, wie die Händelschen "Blut-und Donner-Momente" funktionieren, wie Verdi - der die Zerrissenheit von Außenseitern, Mächtigen und Opfern in der Welt des 19. Jahrhunderts, den Konflikt zwischen Innen und Außen, Schein und Sein in ungekannter Schärfe auf die Opernbühne brachte - sich vom "Rossini-Code" wegentwickelte, und wie deutsche Komponisten in ihr Opernschaffen "einen Grundstock an technischem Wissen" eingebracht hätten, "den sie sich (vor allem) als Komponisten von Instrumentalmusik angeeignet hatten". Interessant auch, wie sie deutlicher als die meisten Opernhistoriker endlich einmal darstellen, wie sehr sich der junge Richard Wagner, bekennender Europäer, an der französischen und italienischen Oper orientiert habe.
Das Buch von Carolyn Abbate und Roger Parker ist das Ergebnis einer fast dreissigjährigen Teamarbeit der Autoren und darf als höchst kompetente wie informative Liebeserklärung an die Oper verstanden werden. Es ist bezeichnend für den so ganz ungelehrten Stil des gelehrten Buches, wenn die Autoren zur Charakterisierung der Oper ironischerweise einen Zeichentrickfilm von Kim Thompson, "All the great operas in ten minutes" zitieren, an dessen Schluß das Wesen der Oper auf die Formel gebracht wird: "Einfach jede Menge Leute in Kostümen, die sich verlieben und sterben. ... Na ja, da wäre noch die Musik. Gesungen wird da auch noch? Ja, in der Oper wird eigentlich nicht gesprochen, sondern alles wird gesungen. Jede Menge Musik. Das schon. Und zum Teil sogar ganz schön".
Eben das mache das Faszinosum Oper aus, dass sie auf eine seltsame, unvorhersehbare, unrealistische Art und Weise etwas in uns anspre-che, was ausserhalb unserer kognitiven Sphäre liege, aber "auf hohem Testosteronspiegel", so Carolyn Abbate und Roger Parker. Oper sei "manipulative Kommunikation" jenseits des alltäglichen Lebens, und spiegele gerade dadurch Lebenserfahrung um so deutlicher, gewis-sermaßen im Hochrelief. "Im Sterben Liegende, die nichtsdestotrotz in den höchsten Tönen weitersingen, sind in der Oper das Normalste von der Welt." Man denke nur an Violetta in "La Traviata". Natürlich, die Oper ist ein unrealistisches Genre. Aber das eben macht die Oper so spannend: Gerade wegen der oft krassen Diskrepanz zwischen "unseren Plausibilitätserfahrungen aus der wirklichen Welt" und dem, was in der Oper stattfinde, übt diese Gattung, die Oscar Bie einmal als "unmögliches Kunstwerk" bezeichnete, seit nun schon vier-hundert Jahren eine so ungebrochene Anziehungskraft auf uns aus. Eben deshalb bezeichnen die Autoren alle Versuche, Alltägliches auf die Opernbühne zu bringen, als fragwürdigen Populismus. Ein Seitenhieb aufs sogenannte Regietheater.
Viel Musik wird heute komponiert zu Handlungen in Film, Fernsehen, Musical, für Werbung und auch noch für die Opernbühne, gewiss. Aber, so prognostizieren Carolyn Abbate und Roger Parker: "Das meiste davon wird vergehen und bald vergessen sein." Zuweilen werde auch das Medium, das die Musik angeregt habe, wieder verschwinden; auch das sei schon immer so gewesen. Anders die Oper, so bilan-zieren sie: "Immer wieder wird sie die vielfältigen menschlichen Erfahrungen ausdrücken wie keine andere Kunstform. Die Bäume in diesem riesigen Wald sind in der Tat schon sehr alt und groß. Ihre Schönheit aber, wie auch die Schatten, die sie werfen, sind gewaltig."
Carolyn Abbates und Roger Parkers Operngeschichte ist eine der besten, die je geschrieben wurde, und seit langem die erste einbändige. Den Autoren ist fast so etwas wie die Quadratur des Kreises gelungen. Der interessierte Laie wie der Kenner der Materie profitiert von diesem leicht lesbaren, von Karl Heinz Siber und Nikolaus de Palézieux glänzend aus dem Englischen übersetzten Buch. Man schmökert gern darin und lernt immer wieder dazu. Ein Glücksfall für alle Operninteressierten!
MDR Figaro / SWR 2 / DLF