Musik-Theater & mehr
Anthony Pilavacchis „Ring“ in Lübeck.
Entstaubtes Welttheater aus dem Geist Thomas Manns
Richard Wagner „Der Ring des Nibelungen“
7 DVDs, Musicaphon, M56929
Wagners monumentaler „Ring“-Vierteiler mit nahezu 16 Stunden Spielzeit ist noch immer eine der größten Herausforderungen eines jeden Theaters, was Regie, Ausstattung, Sänger und Orchester angeht. Dass die Bayreuther Festspiele sich inzwischen schwer tun damit, einen „Ring“ zu schmieden, sagt einiges über den gegenwärtig bedauernswerten Zustand der Richard-Wagner-Festspiele aus. Ausgerechnet die Hansestadt Lübeck, fern der Opernmetropolen und Wagnerhochburgen, hat 2010, daran sei erinnert, einen der konzeptionell überzeugendsten und musikalisch-sängerisch besten „Ringe“ der Republik auf die Beine gestellt. Kaum wurde er angemessen beachtet und gewürdigt. Da dieser Lübecker „Ring“ 2011 auf sieben DVDs des Labels Musicaphon gebannt wurde, sei aus gegebenem Anlass an ihn erinnert!
Es war ein spartenübergreifendes Projekt „Wagner trifft Mann“, das in der Thomas-Mann-Stadt Lübeck die Neuinszenierung des „Rings“ zwischen 2007 und 2010 wesentlich beeinflusste. Immerhin ist Thomas Mann der wichtigste deutsche Repräsentant der literarischen Wagner-Rezeption im 20. Jahrhundert. Der Roman „Buddenbrooks“ hat denn auch die faszinierende, ironische wie kluge Konzeption des Regisseurs Anthony Pilavachi inspiriert: Der Untergang einer großen Familie, der im „Rheingold“ mit dem Bau eines neuen Hauses beginnt und im „Siegfried“ bereits im Altersheim des Zwergen Mime ankommt, das an den Roman „Der Zauberberg“ erinnert. Trauriges Ende in der "Walhalla".
Stuart Patterson macht aus Mime einen trotteligen, autistischen Chemielehrer und Stubengelehrten, eine Charakterstudie von großem singschauspielerischem Format. Auch der Wotan bzw. Wanderer von Stefan Heidemann kann sich hören lassen. Er verfügt über einen kernigen, höhensicheren Heldenbariton und eine darstellerische Autorität, mit der er den Göttervater im Nadelstreifenanzug als überzeugenden Clan-Chef gibt.
Es fällt auf, wie sorgfältig Operndirektor Roman Brogli-Sacher das Lübecker Sängerensemble ausgewählt hat. Aber auch sein dirigentischer Zugriff als Musikchef des Hauses ist fulminant. Er animiert das Philharmonische Orchester der Hansestadt zu genauem, transparentem und schlankem Spiel, aber auch zu dramatischer Gangart und überwältigendem Sound.
Die Walküren sind Kampfjet-Pilotinnen einer Elite-Einsatztruppe Wotans, die beim Walkürenritt auf gestapelten Särgen ein ausgelassenes Champagnergelage abhalten. Dahinter Videos mit militärischen Flugvorführungen. Fast filmisch beginnt auch das „Rheingold“ unter Wasser: Die verstoßene Göttertochter Brünnhilde im „Siegfried“ lebt in einer Wohnküche von heute, umgeben von zehn kleinen Walküren und Recken. Und im Vorspiel der Götterdämmerung blättern die Nornen vor Wagner- und Cosima-Büsten im Buch der Bayreuther- und der Weltgeschichte.
Dank Anthony Pilavachi ist das eine einleuchtende Vergegenwärtigung der Saga von der Welt Anfang und Ende und eines Intrigendramas um Liebe, Verrat und Tod in heutiger Anschaulichkeit, konkret, ästhetisch und jenseits aller Netflix-Banalität und -Hässlichkeit.
Der Livemitschnitt dieses Rings demonstriert, dass man auch jenseits von Bayreuth ein exzeptionelles Ring-Ensemble zusammenstellen kann, mit unverbrauchten, textverständlichen, jungen Sängern und Darstellern, die fern aller Opernroutine genau das verwirklichen, was Richard Wagne, einmal vorschwebte, was man in Bayreuth nur noch selten erlebt. Die ganz große Sensation dieses Rings ist allerdings die Brünnhilde der Amerikanerin Rebecca Teem. Die Durchschlagskraft und Höhensicherheit ihrer Stimme, ihr tabuloser darstellerischer Mut sollten ihr – wenn die Stimme hält - eine Zukunft als einer der beeindruckendsten hochdramatischen Soprane sichern.
Am Ende dieses „Rings“ sieht man Brünnhilde, nachdem sie Welt und Wotan vom Fluch des Goldes erlöst hat, wie sie neben dem versteinerten Siegfried in einer Ruhmeshalle Platz nimmt, es ist ein Pappmaché-Walhalla der Erinnerung an scheiternde Helden und starke Frauen. Zurecht wurde dieser „Ring“ vom Publikum mit Jubelstürmen quittiert.