Boris Kehrmann. Walter Felsenstein

Photo: Dieter David Scholz


Gründliche Korrektur der bisherigen Felsensteinforschung -

Schluß mit dem falschen (DDR-) Felsensteinmythos


Boris Kehrmann: Vom Expressionismus zum verordneten „Realistischen Musiktheater“. Walter Felsenstein und die Entstehung seiner Theatertheorie und -Praxis von 1901 bis 1951

Tectum (Verlag) 2015, 1372 Seiten , zwei Bände. ISBN 978-3-8288-3266-4.  79,95 Euro



Walter Felsenstein gilt als Inkarnation der Komischen Oper Berlin, sein Name ist Legende. 1975 ist der Wiener Regisseur, der als Vater der Ostberliner Komischen Oper gilt, gestorben. Aber schon zu Lebzeiten wurde er von der DDR verklärt, idolisiert und der staatlichen Kunstdoktrin und –Propa-ganda einverleibt. Jetzt endlich ist in der Reihe „Dresdner Schriften zur Musik“ des Tectum Verlags  eine 1372 Seiten starke Publikation erschienen, die diese Felsensteinlegende entlarvt. Es handelt sich um die Dresdner Dissertationsschrift von Boris Kehrmann. 



Dreihundertneunundsechzig Mal wurde Walter Felsensteins legendäre Inszenierung von Jacques Offenbachs „Ritter Blaubart“, die 1963 Premiere hatte, in der Komischen Oper gezeigt. Die  letzte Aufführungen des Stücks gab es 1992. Seither ist in dem Haus, das Felsenstein 1947 eröffnete und bis zu seinem Tod 1975 leitete, keine seiner Inszenierungen mehr zu sehen. Felsensteins Name steht nur noch für eine grosse Vergangenheit. Doch die wird meist reduziert auf das Wirken Felsensteins in der DDR, wie Boris Kehrmann im Gespräch erläutert:


"Das ist falsch, das ist Teil der Felsenstein-Legende, wie man sie in der DDR gerne gepflegt hat, wo Felsenstein erst erfunden wurde, als die Komische Oper gegründet wurde. Erstens gab es die Komische Oper schon 1905 als Institut, da hat sie sechs Jahre lang existiert unter Hans Gregor. Vor allem gab es eben auch einen Walter Felsenstein vor 1947. Walter Felsenstein war so berühmt, dass er immerhin 1936 Spielleiter an der Staatsoper in Berlin werden sollte, er hat 1940 mit Herbert von Karajan zusammengearbeitet in Aachen und er hat 1942 mit Clemens Kraus bei den Salzburger Festspielen gearbeitet. Man hat versucht, den Felsenstein, den Wiener Theatermacher, den kreativen Schauspieler und Regisseur rein zu zwängen in die DDR-Ästhetik mitsamt ihrer Phraseologie. Das gehört zur Felsenstein-Legende."


Diese Legende hat Boris Kehrmann mit seiner imposanten, mehr als 1300seitigen  Publikation überzeugend zertrümmert. Er stellt den gebürtigen Österreicher als  Grenzgänger zwischen Ost und West dar, aber auch innerhalb des Musikthea-ters. Um Felsenstein und sein Musiktheater einordnen zu können, hat Kehrmann nicht nur seine Leistung als Dramaturg und Regisseur dargestellt, sondern auch seine Kindheit, Jugend und Ausbildung, seine familiäre Herkunft, die national-sozialistisch angehaucht ist, sein gesellschaftliches und künstlerisches Umfeld, schließlich seine Haltung zum national-sozialistischen wie zum Deutschland der DDR. Kehrmann geht es darum, „den Regisseur Felsenstein vom Klischee des „Realisten“ und vom Klischee einer Ikone des DDR-Theaters zu befreien.“ Er versucht den Spagat zwischen Dokumen-tation und  Biographie, Darstellung von Privatleben und Karriere, Theatertheorie und -Praxis im zeithistorischen Kontext.


Niemand hat sich so gründlich in die Causa Felsenstein vertieft, hat sich so unbeirrt und schonungslos durch zahllose Archive und Zeitungsjahrgänge hindurchgearbeitet, hat so gründlich recherchiert wie Kehrmann. Zwölf  Jahre seines Pri-vatlebens hat er für die Felsensteinforschung geopfert. Kehrmann, so hat man den Eindruck, verehrt und bewundert Fel-senstein wie einen Übervater. Warum auch nicht? Nur so läßt sich wohl eine solch gigantische Arbeit bewerkstelligen. Zuweilen allerdings geht Kehrmanns biographisch-positivistisches Sammel- und Vollständigkeitsstreben mit ihm durch. Wer möchte schon wirklich wissen, daß  Walter Felsenstin oft im Sommerhaus der mütterlichen Familie mit Namen Brenner in Weiten verbracht hat und daß „der große Garten … die Familie mit Pflaumen, Kirschen, Birnen, Äpfeln, Pfirsichen, Stachel und Johannesbeeren“ versorgte? 

 

Weitaus interessanter sind die theatertheoretischen Ausführungen des Autors. Einer der zentralen Begriffe, der zum My-thos Felsenstein gehört ist der des „realistischen Musiktheaters“ als Gegensatz zu Brechts Begriff vom „dialektisch-epischen Theater“. Es ist längst an der Zeit, sich zu fragen, ob der Begriff „realistisches Musiktheater“ überhaupt noch sinnvoll ist. Boris Kehrmann:


"Nein, der ist nicht sinnvoll. Es gab die Staatsdoktrin des „sozialistischen Realismus“. Walter Felsenstein hat sich dem immer verweigert. Es gibt ein Interview von 1966 wo der Spiegel ihn versucht hat, darauf festzulegen, und er hat gesagt, er weiss nicht, was das eigentlich sein soll.  Felsenstein war kein Realist. Er hat Inszenierungen gemacht, die sind von einer theatralischen Kraft, die sich mit dem Begriff des Realismus überhaupt nicht decken lassen."


Kehrmann weist akribisch alle theoretischen wie in Gesprächen und Interviews getätigten Äußerungen Felsensteins nach, in denen er sich ohne allen Zweifel von diesem Begriff distanziert. Und Kehrmann belegt die Absurdität des Be-griffs mit der Darstellung aller wesentlichen Inszenierungen von Felsenstein, die er in den Jahrzehnten vor Gründung der Komischen Oper tätigte. Schließlich hat Felstenstein als Schauspieler, Dramaturg und Regisseur in Lübeck, Mannheim, Beuthen, Basel, Freiburg , Köln, Frankfurt am Main, Hamburg, Zürich und an verschiedenen Theatern Berlins gearbeitet, lange bevor die Komische Oper gegründet wurde. Sie ist für Kehrmann ohnehin nichts als „ein frommer Betrug“ ,da Felsenstein nie vorgehabt habe, ein reines Operettenhaus zu gründen. Kehrmann belegt präzise, wie Felsenstein seine Auftraggeber, Alexander Dymschitz, Leiter der Kulturabteilung der Sowjetischen Militär-Administration und Oberst Tjulpanow, die unbedingt ein Operettenhaus wollten, geschickt an der Nase herumgeführt hat, um ein eigenes Haus für seine opernreformerischen Intentionen zu erhalten, die weit über eine Opera comique hinausgingen.


In seiner umfassenden Arbeit  gelingt es Kehrmann, ein völlig neues Felsensteinbild zu zeichnen, im Spannungsfeld zwi-schen Expressionismus und  „verordnetem realistischen Musiktheater“. Detailliert und genau werden die Winkelzüge Felsenstein dargestellt, sich dem Zugriff der sozialistischen Theaterdoktrinäre zu entziehen. Besonders eindrucksvoll sind Kehrmanns Belege dafür, wie Felsenstein sowohl im Dritten Reich als auch in der DDR durch taktischen Oppor-tunismus und List der scheinbaren Anpassung sein Ziel einer Reformoper verfolgte und realisierte. Er habe es stets ver-standen, „die Rhetorik der Herrschenden für seine Zwecke der Erneuerung des Theaters zu instrumentaliesieren,“ so Kehrmann. Das „realisierte Musiktheater“  nennt Kehrmann denn auch polemisch zugespitzt das Theater Felsensteins, in ironischer Antithese zum so oft falsch verwendeten  Begriff „realistisches Musiktheater“.


Nicht nur die ersten 48 Jahre seines Lebens vor Übernahme der Komischen Oper, auch die Gründungsjahre und –Nöte der Komischen Oper Berlin werden anschaulich dargestellt, immer „in der Klemme zwischen wirtschaftlichen und po-litischen Realitäten des Kalten Krieges“. In der Komische Oper waren nach dem Bau der Mauer 157 Westberliner be-schäftigt. Man erfährt viel über Musiktheater im Kalten Krieg, aber auch über Felsensteins gescheiterte Filmkarriere. Auch daß Felsenstein nahezu 60 Prozent des Personals der neugegründeten Komischen Oper aus Altnazis rekrutierte, beleuchtet ein bisher verschwiegenes Kapitel des Opernvorzeige-Instituts der DDR. 


In unvorstellbarer Fleißarbeit hat Kehrmann zahllose bisher unbekannte wie unveröffentlichte Quellen und Dokumente ans Licht gezogen. Ein Glücksfall sind die Briefe Walter Felsensteins an seine bis heute totgeschwiegene erste (jüdische) Ehefrau Ellen, geborene Neumann. Diese Briefe wurden Kehrmann von Ellen Felsensteins Sohn Peter Brenner-Felsen-stein überlassen. Diese Briefe der Jahre 1925-1951, die bei Kehrmann zum ersten Mal publiziert werden, zeigen eine vielschichtigere, widersprüchlichere Person Walter Felsenstein als bisher, sein Verhältnis zum Judentum, zur Politik und zum Theater betreffend.


Aber Kehrmann hat auch aus dem Berliner Document Center, aus vielen Theater- und Spezialarchiven,  Bibliotheken, aus Tageszeitungen, Theaterzetteln, Rezensonsorganen und anderen Periodika  bisher unbekannte wie unveröffentlichte  Fakten und Zusammenhänge über Werk und Vita Walter Felsensteins ans Licht gezogen.


Vor allem Christoph Felsenstein, Sohn aus Felsensteins zweiter Ehe und Sprecher der Erbengemeinschaft dürfte über die Erstpublikation dieser Briefe alles andere als „amused“ sein, da zur Felsensteinlegende die totgeschwiegene erste Ehe-frau ebenso gehört wie die Doktrin „Einen Felsenstein vor der Komischen Oper gab es nicht.“  So lautet denn auch der vorletzte Satz der opulenten Veröffentlichung Kehrmanns. Das Ende seiner Publikation kommt abrupt. Kein Nachwort, kein Epilog, kein Resümée, kein Ad finem. Andererseits, es muß ja irgendwann mal Schluß sein. (Zumal nach so viel bedrucktem Papier, das viele an sich interessierte Leser jenseits der Wissenschaft, denen der Name Felsenstein überhaupt noch ein Begriff ist und die sich für die Person Felsenstein interessieren, abschrecken dürfte). Dafür ist im umfang-reichen Anhang zum ersten Mal ein vollständiges Verzeichnis der Inszenierungen und der von Felsenstein selbst gespielten Rollen verzeichnet. Was nur wenige wissen: Walter Felsenstein begann als Schauspieler.


Die Arbeit von Boris Kehrmann leistet die längst überfällige Korrektur eines verfälschten Felsensteinbildes. Zu wün-schen wäre, dass Kehrmann jetzt auch noch die Geschichte der Komischen Oper und die Rolle Felsensteins in der DDR neu schreibt, denn seine Mammutarbeit endet kurz nach Gründung der Komischen Oper Berlin. Die Geschichte der Komische Oper seit 1951 bis heute muß nach dieser Publikation dringend neu geschrieben werden.


Boris Kehrrmanns respektgebietendes Buch hat die bisherige Felsensteinforschung düpiert, denn eine systematische Fel-ensteinforschung für die Zeit von Gründung der Komischen Oper gibt es nicht, so Kehrmann. Wer bisher glaubte, Fel-senstein zu kennen, muß sich durch diese Publikation eines Besseren belehren lassen. Viele sogenannten, auch selbster-nannten Felsensteinexperten dürften blaß werden bei der Lektüre dieser Publikation. Sie wird dem Autor  nicht nur Freunde bescheren, zumal Kehrmann viele Autoren, auch das Berliner Felsensteinarchiv gravierender Fehler, falscher Datierungen, ja Unterschlagungen überführt, zu schweigen von ideologischen Zurechtrückungen. Seis´drum. Diese Pu-blikation gleicht einem wissenschaftlichen Meteoriteneinschlag, sie setzt Maßstäbe, ist konkurrenzlos und schon jetzt ein Standardwerk.



Beiträge in:

DLF (Musikjournal) 

SWR 2 Cluster, MDR Figaro...

"Das Orchester" (Schott), NMZ,, Chemnitzer Freie Presse, Leipziger Volkszeitung, Mitteldeutsche Zeitung, Märlische Oderzeitung