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Die Traditionen jüdischer Mu-sik, und zwar sowohl solcher, die in den Synagogen gesung-en wurde, als auch populärer Tanzmusik sind in Deutsch-land weitgehend aus dem all-gemeinen Bewußtsein getilgt, obwohl sie bis in die Zwan-zigerjahre des 20. Jahrhun-derts zumindest in den jüdi-schen Zentren Deutschlands einen nicht zu unterschätz-enden Einfluß ausübten, je-denfalls in großen Städten wie Berlin, Leipzig oder Frank-furt, wo jüdische Künstler und Musiker seit dem 19. Jahrhun-dert großen Anteil an der Gesamtkultur hatten.
Highlights aus den Konzerten 'Tradi-tional and Popular Jewish Music' der Ausstellung "Jüdische Lebens-welten jetzt auf CDs bei Wergo Berlin, 1992
Mit Recht betonten die Veranstalter der Berliner Ausstellung "Jüdische Lebenswelten" 1992: "Der Blick in die jüdischen Lebenswelten bedeutet mehr als eine historische Dokumentation. Er fundiert eine Erinnerung, die mitten in die Gegenwart reicht. ... Der Völkermord an den Juden Europas schloß den Kulturmord mit ein. Wieviel hier zerstört wurde, läßt sich kaum ermessen. Die Kenntnis dessen, was über-lebte, macht den Verlust bewußt." Dies trifft ganz besonders auch auf die jüdische Musik zu. Kein Wunder, daß sie sich heute in ihrer vermeintlichen Exotik außerordentlicher Publikumsnachfrage erfreut. Auch das musikalische Rahmenprogramm der Berliner Ausstellung "Jüdische Lebenswelten" bestätigte dies. Acht Konzerte gab es, alle waren sie restlos ausverkaufte Publikumserfolge. Daß jetzt immerhin eine Auswahl aus diesen acht mitgeschnittenen Konzerten auf zwei CDs veröffentlicht wurde, darf als Glücksfall bezeichnet werden, denn es waren nicht irgendwelche Konzerte, die da veranstaltet wurden. Was diese beiden CDs so wertvoll macht, ist schon die Tatsache, daß auf ihnen eindrucksvolle Beispiele einer fünfhundertjährigen Tradition liturgischen jüdischen Gesangs sephardisch-orientalischer Her-kunft, sonderm auch aschkenasischer (also ursprünglich osteuropäisch-jiddischen) Kantoralgesang sowie judeospanische Volksliedkultur dokumentiert sind. Daneben enthalten sie Lieder aus dem Ghetto von Lodzs, religiöse Rockmusik etwa der Gruppe "Piamenta" aus Brooklyn und Klezmermusik - also ostjüdische Tanz- und Festmusik - des in den letzten Jahren reüssierten Ensembles "Brave Old World". Doch damit nicht genug: Ausnahmerang gebührt jenen Konzerten, in denen hochbetagte Künstler erstmals in Europa auftraten. Zum Beispiel Myriam Kressin und Seymour Rexsite, zwei der letzten großen Stars des osteuropäischen jüdischen Theaters und Films der Zwanziger Jahre. Vor allem aber die Epstein-Brothers, benannt nach dem 1911 in der Lower East-Side New Yorks geborenen Klari-nettisten Max Epstein, gelten als lebende Legenden. Ihr erstmaliger Auftritt in Europa kann denn auch als Sensation bezeichnet werden. Max Epstein ist der letzte noch Lebende aus einer Reihe legendärer "Klezmorim", deren Tradition zurückreicht in das Osteuropa des 19. Jahrhunderts. Gemeinsam mit seinen Brüdern William und Julius verkörpert er die amerikanische jüdische Musik fast eines ganzen Jahrhunderts, ein Repertoire, das Klezmer-Musik und Melodien aus dem jiddischen Theater umfaßt, aber auch israelische Melodien, jiddische Volkslieder und traditionelle wie populäre Stücke aus Ungarn, Rumänien, Polen, Rußland und der Ukraine. Insofern bieten diese CDs jedem Neugierigen eine musikalische Entdeckungsreise in eine teils entlegene und kaum vertraute, aber uns letztlich gar nicht so ferne Musikkultur, der nachzuspüren nicht nur interessant, sondern auch wichtig ist, besonders heute, wo in Ost und West totgeglaubte Gespenster alter Nationalismen und antisemitischer Vorurteile wiedererwacht sind. Der besondere Reiz dieser Aufnahmen - gerade der Epstein-Brothers, die allesamt in den Achtzigern stehen, liegt darin, daß sie nicht nur belehrend, sondern angesichts des frischen Temperaments der hochbetagten Herren auch außerordentlich unterhaltsam sin.
"Musikjournalistischer Beitrag" im "Frühstücksjournal" auf MDR-Kultur am 8.2.1994