Ausgrabung von Tascas A Santa Lucia in Dessau

Bühnenphoto: Claudia Heysel


Musikalische Freude, regieliches Ärgernis

Die Wiederentdeckung von Pierantonio Tascas Opernjuwel

“A Santa Lucia” am Anhaltischen Theater Dessau



Seit gut hundert Jahren wurde Pierantonio Tascas Oper „A Santa Lucia“ nicht mehr ge-spielt hierzulande, obwohl sie bei ihrer Uraufführung 1892 an der Berliner Krolloper ein überragender Erfolg war.  Die Oper des sizilianischen Komponisten wurde sofort  auch in Wien, Hamburg, Prag, Triest, Manchester und Genua herausgebracht. Doch nachdem die renommierte Uraufführungssopranistin der weiblichen Hauptfigur, Gemma Bellincioni, die mit dem Stück durch ganz Europa tourte, sich von der Bühne zurückgezogen hatte, wurde „A Santa Lucia“ vergessen. Das ausgrabungsfreudige Anhaltische Theater Dessau hat das zweiaktige, etwa 70-minütige Stück in seiner jüngsten Premiere am 1. April 2017 wieder ans Licht gezogen, nachdem Operndirektor und Dramaturg Felix Losert  Tascas Oper bei Recherchen in der Berliner Staatsbibliothek entdeckt und sofort als ideales Kombina-tionsstück für Pietro Mascagnis ebenfalls nur gut einstündigen  Einakter „Cavalleria rusti-cana“  erkannt hat. Angst, dass das weitgehend unbekannte Werk beim Dessauer Opern-publikum auf wenig Interesse stoßen könnte, hat er nicht:


"Wir haben hier in Dessau große Erfolge gehabt mit Ausgrabungen selten gespielter Wer-ke.Wenn sie den Nerv des Publikums getroffen haben, wenn das Publikum von der Musik ergriffen wurde, hat es sie angenommen. Bestes Beispiel war zuletzt unsere deutsche Erst-aufführung von Massenets  „Esclarmonde“ , die das Publikum begeisterte. "§


Auch  Generalmusikdirektor Markus Frank ist zuversichtlich:


"Die Opernbesucher von Dessau sind große Liebhaber der dramatischen Oper. Auch wenn sie Stücke nicht unbedingt kennen, haben sie doch ein Sensorium für die Qualität der Musik, was das Dramatische angeht, und daher bin ich überzugt, dass "A Santa Lucia" hier ankommen wird."


Nach dem Vorbild der Oper „Cavalleria rusticana“ galten Leoncavallos „Pagliacci“,  Gior-danos „Mala vita“ und Tascas „A Santa Lucia“ als erste Opern, die eine tragische Handl-ung bei den Ärmsten der Armen spielen liessen. Pierantonio Tasca galt damit als ein wich-tiger Vertreter der „jungitalienischen Schule“ des sogenannten „Verismo“, einer musika-lischen Bewegung, die sich auf der Opernbühne mit raffiniert orchestriertem musikali-schem „Realismus“  in der ungeschminkten Darstellung von Leidenschaft und Grausam-keit des Alltags der Menschen zuwandte. 


In „Cavalleria rusticana“ geht es um eine am Ostersonntag in einem sizilianischen Bauern-dorf spielende  Liebestragödie, in der ein junger Mann, Turridu, zwischen zwei Frauen steht. Er verlässt eine von Ihnen, Santuzza, und wird von ihr beim Ehemann seiner anderen heimlich Geliebten verraten, woraufhin der ihn ersticht. Tascas Oper „A Santa Lucia“ porträtiert  das gleichnamige Fischerviertel der Mittelmeermetropole Neapel. Es ist das Arme-Leute Neapel der 1860er Jahre. Die Oper spielt am Meeresufer, in der Nähe der Kirche Santa Lucia, mit seinen Fischern, Händlern, Straßenverkäufern, Tavernen, Bettlern und  Passanten.  In „A Santa Lucia“ steht, ähnlich wie in Mascagnis „Cavalleria rusticana“  ein Mann, der Fischer Ciccillo, zwischen seiner bettelarmen Geliebten Rosella, mit der er ein uneheliches Kind hat und seiner Anverlobten Maria. Um ihre Nebenbuhlerin aus dem Weg zu räumen, schürt Maria Ciccillos Eiferucht. Sie behauptet, seine Geliebte Rosella habe ein Verhältnis mit Ciccilos Vater. Mit dieser Intrige treibt sie Rosella in den Selbstmord.   


Die Musik des jungen Komponisten  Pierantonio Tasca, der mit keiner seiner später ent-standenen Opern noch solch einen Welterfolg feiern konnte, ist auf Augenhöhe  mit Mas-cagni, meint der Dessauer Generalmusikdirektor Markus Frank:


„Sie passt ideal zu Mascagnis Cavalleria rusticana. Zunächst Mal passt das Stück inhalt-lich, weil es eine ganz ähnliche Figuren- und Konfliktkonstellation aufweist. Und was das Orchester angeht: Es gibt wirklich großartige Klangflächen und schöne Steigerungen. Besonders eindrucksvoll finde ich, wie Tasca Fallhöhen komponiert, von von der einf-achen Kanzone  bis hin zu den dramatischen Ausbrüchen. Der Tenor stellt sich jeweils mit einem Lied im Volkston vor, es gibt große chorische  Eingangsszenen, die das pralle Leben zeigen. Und beide Stücke  haben ein dramatisches Duett, jeweils am Ende des Aktes. 'A Santa Lucia' ist schon eine ganz große Oper."


So erfreulich die musikalische Wiederbegegnung mit dem vergessenen Opernjuwel  Tascas verläuft, so enttäuschend ist die szenische Realisierung durch den Regisseur Holger Potoc-ki, der „Cavalleria rusticana“ und „A Santa Lucia“ in einer anspielungsreichen, symbo-lisch  überfrachteten, für die meisten Zuschauer wohl unverständlichen  Inszenierung präsentiert. Er zeigt im  Mascagnieinakter (in  nüchterner Hafenarchitektur, die Lena Brexendorff bauen ließ,) den Traum Santuzzas  vom Glück Rosellas. Es ist ein bonbon-farbener Karnevalstraum unter blauem Wölkchenhimmel vor rosenbestandenem Garten-zaun. Ein Bett im schwarzen Hafenwasser ist das psychologische Scharnier der beiden surreal ineinander verzahnten Opern. Das Bett teilen sich Santuzza,  Rosella und deren Nebenbuhlerin Maria. Sie entsteigen beziehungsweise versinken dem Hafenwasser in großer Opernpose und per Hubpodium wie Nixen.  Ihre vermeintliche Seelenverwandt-schaft wird in friseurkünstlerischenVerwandlungs-Videoprojektionen  beschworen.  Alles durchdringt sich: Schwangerschaft und Tod,  Liebesleidenschaft und  Betroffenheit am Gedenkort des Selbstmords mit Teddybär und Grablichtern.


Holger Potocki inszeniert mit dem Holzhammer im Regiebesteck. Der wahren Größe der ausgegrabenen Oper wird diese klischeehaft verkopfte Inszenierung leider nicht gerecht. Immerhin sorgen Markus Frank und die Anhaltische Philharmonie für ein eindrucksvolles, dramatisch aufwühlendes wie sensibles Klangerlebnis. Der Einsatz neapolitanischer Volks-instrumente wie Mandoline und Gitarre am Anfang und am Ende der Oper verfehlt seine Wirkung nicht.  Aber auch sängerisch ist die Aufführung auf hohem Niveau. Man kann alle Partien aus dem Hausensemble besetzen. Herausragend die Sopranistin Iordanka Derilova als Santuzza und Rosella, die Mezzosopranistin Rita Kapfhammer als Mama Lucia und Maria sowie der Tenor Ray Wade als Turridu und Ciccillo. Insofern lohnt sich der Besuch  dieser Dessauer Produktion für den, der die vergessene Oper Pierantonio Tascas einmal hören möchte.


Premierenbericht für DLF Musikjournal am 3.4.2017