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Alice Harnoncourt war die rechte Hand ihres Mannes, künstlerisch wie organisatorisch. Zu Recht trägt daher das von ihr jetzt herausgegebene Buch den Titel: „Wir sind eine Entdeckergemeinschaft“. Es sind aber ursprünglich die nur für Familie gedachten, bisher unveröffentlichten Memoiren und Essays ihres Mannes, die sie verdienstvoller Weise der Öffentlichkeit vorlegt.
Lesenswerte Erinnerungen von Nikolaus Harnoncourt
Der im März letzten Jahres verstorbene Nikolaus Harnoncourt begann sich schon sehr früh mit der Alten Musik, ihrer Spielweise und dem Klang alter Instrumente zu beschäftigen. 1953 gründete er mit seiner Frau Alice und weiteren Musikern das Ensemble „Concentus Musicus Wien“, um seiner Ar-beit mit Originalinstrumenten und der musikalischen Aufführungspraxis von Renaissance- und Barockmusik ein Forum zu geben. Nach dem Tod von Ni-colaus Harnoncourt hat Alice Harnoncourt jetzt die unveröffentlichten Tage-bucheinträge und Notizen ihres Mannes herausgegeben. "Wir sind eine Ent-deckergemeinschaft" ist das Buch überschrieben, das im Residenz Verlag erschienen ist.
Nikolaus Harnoncourts frühe Einspielungen mit dem Concentus Musicus Wien waren gera-dezu schockierend neu, an ihr stritten sich die Geister. Unstrittig wurde Harnoncourt zu einem der Pioniere einer Bewegung eines interpretatorischen Neuansatz, der die Hörgewohnheiten von Musikern und Musikzuhörern nachhaltig geprägt hat, nicht nur in Sachen Alte Musik, ob in Wien oder in Zürich, Amsterdam, Salzburg, Mailand, Berlin oder im Rest der Welt. Alice Harnoncourt, die Ehefrau Nikolaus Harnoncourts, war bei der Gründung des Ensembles Con-centus Musicus Wien 1953 dabei, hat vom ersten öffentlichen Konzert 1957 im Wiener Palais Schwarzenberg bis zum letzten Konzert in ihm mitgespielt und war die rechte Hand ihres Mannes, künstlerisch wie organisatorisch. Zu Recht trägt daher das von ihr jetzt herausgege-bene Buch den Titel: „Wir sind eine Entdeckergemeinschaft“. Es sind aber eigentlich die ursprünglich nur für die Familie gedachten, bisher unveröffentlichten Memoiren und Essays ihres Mannes, die sie verdienstvoller Weise der Öffentlichkeit vorlegt.
Auf 200 Seiten erzählt Nicolaus Harnoncourt sehr persönlich, ruppig, direkt und ungeniert wie er war, in seinen Erinnerungen davon, wie er schon als Kind zur Musik als Trösterin in schweren Stunden kam und wie sie zu seinem Beruf wurde. Vor allem aber davon, dass er in zwei musikalischen Welten Fuß fasste, in einer konventionellen und einer unkonventionellen. Er wurde Cellist bei den Wiener Symphonikern und einer von Karajans Lieblingsmusikern. Das war seine erste Welt. Unterhaltsam erzählt Harnoncourt vom Orchesteralltag, von Origi-nalen und alten Nazis, von Karajan, den er als Musiker bewunderte, dessen Hang zur Selbst-inszenierung er allerdings verabscheute. Der Concentus Musicus war seine zweite Welt, in der er und seine Frau Alice lebten.
Nicolaus Harnoncourt legt in seinen, von seiner Witwe herausgegebenen Erinnerungen nicht nur einen spannenden Bericht über die Gründerjahre und Gründungsnöte des Concentus vor, sondern er beschreibt auch ein anschauliches Bild eines in bürgerlichen Konventionen und aufführungspraktischen Verkrustungen erstarrten Musiklebens, das gewissermaßen auf seinen Befreiungsschlag gewartet hatte. Diese so selbstbewusst unerschrocken geschriebenen Erin-nerungen lesen sich spannend. Eher dokumentarischen Wert haben seine teils grundsäztlichen, teils sehr speziellen instrumentationstechnischen wie interpretatorischen Essays, die den zweiten Teil des Buches ausmachen.
Harnoncourts Lesart der Bachschen „Matthäuspassion“ hat Maßstäbe gesetzt. Sie war eines seiner Herzensstücke. Insofern ist es kein Zufall, dass das Buch Harnoncourts Erinnerung an eine Aufführung der „Matthäuspassion“ 1969 unter Karl Richter in Wien enthalten: Ein Meis-terstück ironischer Musikkritik Diese Aufführung habe, so liest man, seinen Entschluss, sich der Historischen Aufführungspraxis zuzuwenden, endgültig bestärkt. Einen Monat später habe er die Wiener Symphoniker verlassen. Aber nicht nur dieser Text ist außerordentlich lesens-wert. Alles, was Harnoncourt schreibt, auch wenn er sich gelegentlich wiederholt, ist profund und wohl überlegt. Und niemals hält Harnoncourt ein Blatt vor den Mund. Er schreibt gelehrt und gelegentlich böse, aber stets mit schelmischer Attitüde, hochintelligent und amüsant, in seiner kauzig-knorzigen Rauhbeinigkeit an die herrlichsten Figuren von Thomas Bernhard erinnernd.
Besprechung auch in MDR Kultur 10.12.2017