Giovanni.Eine Passion. Neuköllner Oper

Es geht um Sinnsuche und Triebhaftigkeit, Leben und Tod, eine unkonventionelle Mischung aus Totenfeier und Karnevalstaumel, Prozession und Stierkampf, Brauchtum und Oper, "Don Giovanni" & mehr

Bild: © Matthias Heyde/Neuköllner Oper

 

Ein starkes Stück: Zwischen Mitmachtheater und Happening: „Don Giovanni. Eine Passion“ in der Neuköllner Oper 


 

In Zeiten eines Überangebots an konventionellen Opern- und Konzertproduktionen mit dem immer gleichen Repertoire rücken Institutionen und Ensembles, die vom üblichen Weg abwei-chen und ein anderes Repertoire, unkonventionelle Spielformen und neue Wege der Auffüh-rungspraxis wagen, ins Blickfeld des Interesses. Die Neuköllner Oper und das Stegreiforchester sind zwei Berliner Ensembles, die  das Opern- und Konzertleben jenseits des Mainstreams bereichern. Jetzt haben sie sich erstmals für eine Produktion zusammen getan. Am 10.10.2019 hatte die Produktion „Giovanni. Eine Passion“ Premiere

 

 Die Neuköllner Oper gibt es neben dem Terzett der Berliner Opernhäuser seit 1977. Sie ist eine freie Operntruppe mit wechselnden, seit 1988 mit fester Spielstätte im Ballsaal der Passage Neukölln. Oper. Ihr Name ist Programm, Neukölln ist der Stadtteil Berlins, in dem 160 Natio-nalitäten in drei Generationen neben- und miteinander leben. Längst ist die Neuköllner Oper - eine von der Senatsverwaltung für kulturelle Angelegenheiten geförderte, Instanz für Musikt-heater jenseits des Üblichen geworden. 


Das Stegreiforchester, ein Sinfonieorchester, das die großen Klassiker im Repertoire hat., exis-tiert erst seit 2015. Das Besondere an diesen inzwischen 30 jungen internationalen Musikern / Musikerinnen innen ist, dass sie sich selbst und einem neugierigen, offenen Publikum neue Wege zur klassischen Musik ebnen, indem sie das Klassische Repertoire mit Folklore, Jazz, Klezmer, Blues und Rock  anreichern und vermengen zu  Neudeutungen des altbekannten Re-pertoires in performativen Aufführungen. Man hat es sich auf die Fahnen geschrieben, neue Klangwelten zu erkunden und erprobt immer wieder neue musikalische Genreverschmelzungen. Dabei tritt das Ensemble stets ohne Noten, ohne Dirigent und ohne Stühle auf, in oft ungewöhn-lichen Räumen. Die dadurch gewonnene Freiheit, die Aufhebung von Bühne bzw. Konzertpo-dium und Zuschauerraum schafft Raum für Improvisation und szenische Bewegung. Gerade in seiner jüngsten Produktion „Giovanni. Eine Passion“ prägt dieses Spielverhalten die ganze Inszenierung.


Zu den Klängen einer Passionsmusik wird das Publikum durch ein Spalier aller Darsteller, Sänger wie Musiker des „Stegreiforchesters“, in einen schwarz ausgekleideten Saal geleitet, der mit frischer Erde bestreut ist. In der Mitte ein quadratisches Podest, auf dem ein Teil des Publi-kums platznehmen wird. An zwei gegenüberliegenden Wänden, Altar und Grab, Devotionalien, Kerzen, Totenblumen. Es ist eine spanisch anmutende Totenfeier, die Ulrike Schwab in der Ausstattung von Pia Dederichs und  Marina Stefan  inszeniert hat, ein gruftig-sinnliches Ritual, das um den Mythos Don Juan kreist und - sehr frei - die Vertonung von Wolfgang Amadeus Mozart aufgreift.

Grundidee der Produktion von Bernhard Glocksin, dem Leiter der Neuköllner Oper, ist die fiktive Vorstellung, man käme einmal im Jahr zu Don Giovannis Totenfeier. Spanische und lateinamerikanische Bräuche haben ihn dazu inspiriert, vor allem der dia des los muertes, der Tag der Toten. Bei uns heißt er  Allerseligen.  Im spanischen und im lateinamerikanischen wird dieser Tag mit großer Inbrunst gefeiert. 


Inbrünstig zelebrieren denn auch 16 Instrumentalisten des Stegreiforchesters und 6 Sänger ge-meinsam auf der Bühne eine Don-Giovanni-Totenfeier, indem sie immer wieder neue Masken und Kostüme tragen, singen, tanzen, sprechen. Die sehr jungen  Musiker des Stegreiforchesters, das sich aus instrumentalistisch, schauspielerisch und sängerisch vielseitig begabten Instru-mentalisten zusammensetzt,  nähern sich mit Neugier, Experimentierfreude und Unvoreinge-nommenheit Mozarts Oper an. Man hat die Oper gekürzt, größtenteils neu arrangiert, uminstrumentiert, mit anderen Musiken des Komponisten angereichert, wie etwa Passagen aus seinem Requiem, aber auch mit Technoelementen, Groof und traditioneller Volksmusik. Eine besondere Rolle spielt der  Flamenco. Jeder Orchestermusiker  tritt quasi als Darsteller auf, hat auch zu sprechen und zu singen. Man singt oft chorisch, beispielsweise wird Don Giovannis Champagnerarie vom kompletten Stegreiforchester gesungen. Aber auch sonst werden immer wieder Arien in 5er Gruppen aufgeteilt,   das heißt, plötzlich singen 5 Darsteller Don Giovanni oder auch Donna Anna. So setzt man sich musizierend, singend, spielend mit Mozarts Partitur auseinender, schlüpft in immer neue Rollen, um den Mythos, den Archetyp Giovanni zu erfah-ren, und damit auch etwas Neues von sich selbst. Die Geschichte von Don Giovanni noch einmal eins zu eins nachzuerzählen ist nicht das Ziel der Aufführung.  

 

Szenisch ist diese Don Giovanni „Passion“ ein performatives Experiment zwischen Musik- und Sprechtheater: Es geht um Sinnsuche und Triebhaftigkeit, Leben und Tod, eine unkonven-tionelle Mischung aus Totenfeier und Karnevalstaumel, Prozession und Stierkampf, Brauchtum und Oper. Eine starke, immer wieder auch traditionelle Geschlechterrollen in Frage stellende Auseinandersetzung mit dem  Assoziationsraum „Don Giovanni“. Die Aufführung ist eine Gratwanderung zwischen Mitmachtheater und Happening, aber auch  eine Reise durch ver-schiedenste Zeiten und Stile. Es gibt Funk-, Techno und Jazzanleihen. Sampler und Synthesizer werden eingesetzt.  Immer wieder erklingt Tanzmusik, bei der auch das Publikum eingeladen wird,  mitzutanzen auf einer Spielfläche, die weder Bühne noch Orchestergraben kennt und auch nicht die strikte Trennung von Zuschauerareal und Spielfläche. Alles durchdringt sich. 

Die Instrumentalisten und Sänger (Hrund Ósk Árnadóttir, Daniel Arnaldos, Derva Atakan, Thomas Florio, Enrico Wenzel und Justus Wicken), die mal in Männer-, mal in Frauenkleidern auftreten, wagen viel, gehen an ihre Grenzen, gelegentlich überschreiten sie ihre Möglichkeiten, zugegeben. Sie verausgaben sich jenseits von purem Schönklang und edler Gesangskultur, aber mit persönlicher Leidenschaft. Wer eine traditionelle Aufführung von Mozarts Oper in Neu-kölln erwartet, wird womöglich enttäuscht sein von dieser Produktion. Doch für das junge, unvoreingenommene und neugierige Publikum der Neuköllner Oper, das eher selten in die staatlichen Berliner Opernhäuser geht, ist diese respektlos-kreative, barrierelose  Expedition in die Alchemie des Mythos Don Juan und den Zauber der Mozartoper  - aus dem Hier und Heute und jenseits elitärer hochkultureller Ansprüche - eine willkommene Annäherung an eine der Säulen des traditionellen Opernrepertoires Der Beifall des begeisterten Premierenpublikums hat es bestätigt.

 

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