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Photo: Dieter David Schoz
Iván Fischer rekonstruiert erstmals die tragische Urfassung von Monteverdis „L´Orfeo“ im Teatro Olimpico in Vicenza
Im vergangenen Jahr hat der renommierte Dirigent Iván Fischer das oberitalienische Vicenza Opera Festival gegründet. Mit großem Risiko. Die Finanzierung ist noch immer nicht gesichert. Gleichwohl veranstaltet er nun im zauberhaften Teatro Olimpico aus dem Jahre 1585, erbaut von einem der berühmtesten Architekten der Renaissance, Andrea Palladio, dem ersten freiste-henden überdachten Theatergebäude, das seit dem Ende der Antike in Europa errichtet wur-de, zum zweiten Mal sein Festival. Für diese Saison sich hat Iván Fischer Claudio Monteverdis L’Orfeo zugewandt, allerdings hält er eine Überraschung bereit. Er hat die tragische Urfassung des Stücks rekonstruiert. Premiere war am 21. Oktober 2019.
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1607 wurde Claudio Monteverdis Favola in musica, „L´Orfeo” in Mantua uraufgeführt, das er-ste komplett erhaltene, bahnbrechende Werk der Operngeschichte. Das erste Beispiel auch einer „Welterklärung aus Musik“, wie Michel Heinemann in seiner jüngsten Monteverdi-Biographie aufzeigte und die „Entdeckung der Leidenschaft“ in der Musik. Das Stück darf als die Mutter der Vertonungen des antiken Orpheus-Mythos gelten, so wie das Teatro Olimpico in Vicenza das mustergültige Renaissance-Theater an sich ist. Für Iván Fischer das ideale Theater für dieses Stück, da das feststehende, hölzerne Bühnenbild von Andrea Palladio und Vicenzo Sca-mozzi jeder Versuchung von „Regietheater“ oder sonst interpretierendem, kommentierendem „Regisseurstheater“ widersteht.
Die Bühne des Teatro Olimpico ist unveränderlich starr. Sie zeigt perspektivisch die sieben Straßen, die zum Thor Thebens führen, sie wurde für die Aufführung des „Ödipus“ von Sopho-kles konzipiert und darf aufgrund ihrer denkmalgeschützten historischen Unversehrtheit nicht verändert oder bespielt werden. Man spielt deshalb auf dem Proszenium. Ausstatter Andrea Tocchio hat die Vorbühne für die ersten und letzten Akte mit einer Graslandschaft, für die Un-terweltszenen mit einer Spiegelfolie ausschlagen lassen. Charon, der Fährmann der Toten auf dem Totenfluß Acheron, kommt mit einer gläsernen Barke angefahren. Iván Fischer, der nicht nur die musikalische Leitung innehat, sondern auch die Regie der Produktion übernahm, setzt auf antikisch nachempfundene Kostüme, die Anna Biagiotti entwarf, und historisierendes Thea-ter. Sigrid d´Hooft hat dafür das Tanzensemble der Iván Fischer Opera Group zu Hüpf und Schreittänzen animiert, die nicht frei sind von unfreiwilliger Komik. Das blutige Ende des Orpheus wird nicht auf offener Bühne gezeigt, nur blutverschmierte Fetzen seines Gewandes werden über den Boden geschleift, dafür erscheinen Bacchus, der Gott des Weines und der lüsterne Pan auf der Bühne. Die Mänaden, die wie Tarzans Schwestern aussehen, entmannen den mit riesigem, goldenem Phallus ausgestatteten Hirtengott, der zur schaumgeborenen, muschelgetragenen Botticelli-Venus mutiert. Eine Inszenierung, über die sich streiten lässt.
Monteverdis „L´Orfeo“ wurde nur 22 Jahre nach der Eröffnung des Teatro Olimpico, uraufge-führt, und auch deshalb ist es für Iván Fischer "die perfekte Oper für das perfekte Theater" – beide Werke nämlich zeugten mustergültig von dem Wunsch der Zeit, die antike Tragödie wiederzubeleben. Deshalb will der ehemalige Assistent von Nikolaus Harnoncourt gewisser-maßen "zu den Wurzeln" zurückgehen, um inhaltlich so nah wie möglich an der antiken Sage und überdies am erhaltenen Original-Libretto Alessandro Striggios zu sein, näher als die Fas-sung der im Jahre 1609 herausgegebenen Partitur. In der Urfassung zerreißen die Mänaden Orfeo aus Rache dafür, dass er allen Frauen entsagen will. In der späteren, gedruckten Partitur vergeben sie ihm und er wird von Gott Apollo in den Himmel geholt.
Schon Nikolaus Harnoncourt hat im Booklet seiner wegweisenden Orfeo-Einspielung, die vor 31 Jahren entstand, vermutet, dass es wahrscheinlich sei, dass eine Erstfassung von Montever-dis Orfeo, die sogar in Cremona aufgeführt worden sein soll, einen tragischen Schluss hatte, der im Libretto festgehalten ist. Dem schließt sich Iván Fischer an: „In diesem Buch ist die Schluss-szene anders, als wir die Oper kennen. Es gibt ein Bacchanale. Verrückte oder betrunkene Frauen kommen herein, Dionysosanhänger, und sie zerreißen Orpheus, er stirbt und es gibt ein Fest, das zur finalen Morescha der Oper führt. Zwei Jahre später hat Monteverdi die Idee ve-ändert, er hat eine Partitur drucken lassen mit einem veränderten Schluss. Keine Bacchanal-Szene, Apollo erscheint vom Himmel und rettet Orpheus, Happy End.“ Für Fischer ein kon-formistischer Kompromiss, und ein Verrat an der Renaissance-Idee zugunsten der Barock-ästhetik mit dem guten Herrscher, der alles löst.
Die ursprünglichen Fassung des „L´Orfeo“ ist als Text im Erstdruck des Librettos erhalten. Die Musik allerdings nicht. Iván Fischer, der sich gründlich mit Monteverdis Stil befasste, hat für die letzten 10 Minuten der Oper eine eigene Komposition geschrieben. Sein Ziel war: "Sie sitzen im Theater und sie merken nicht, wo Monteverdi aufhört und wo meine restaurierte Mu-sik anfängt.“
Man merkt es tatsächlich nicht: Die Musik dieses „L´Orfeo“ ist wie aus einem Guss, wenn auch - nicht nur in der Schlussszene - hörbar von Iván Fischer eigenwillig instrumentiert und bear-beitet. So hat man das Stück noch nicht gehört. Die Aufführung überzeugt mit exquisitem Sängerensemble, aus dem Valerio Contaldo als Orpheus, Emöke Baráth als Eurydike, Núria Rial als Proserpina. Luciana Mancini als Messagiera und Antonio Abate als Charon heraus-ragen, mit erstklassigem Chor der Fischer Opera Company und historisch informiert spielendem Budapest Festival Orchestra. Auch wenn Iván Fischer zwischen extrem langsamen Tempi und rasanter barocker Klangrede, zarter Verinnerlichung und robustem Temperament, attackierender Schärfe und spätromantischer Verzärtelung hin und her schwankt, die Aufführung ist faszinierend und hochinteressant! Der Produktion, die zuvor halbszenisch im Budapester Müpa-Konzertsaal gegeben wurde und Ende Oktober ans Grand Theater de Genève geht, ist – trotz aller Fragwürdigkeit der Inszenierung - das Etikett der Außergewöhnlichkeit nicht abzu-sprechen und als unbedingt sehens- , vor allem aber hörenswert zu empfehlen. Wer an Monte-verdi jenseits des Gewohnten interessiert ist, darf sich auf eine geplante Veröffentlichung des Mitschnitts der Aufführung in Vicenza freuen.
Beiträge in nmz online und DLF / Musikjournal