Wilson: Goethe, Männer Knaben

Hadrian und Antinous

Archäologisches Museum Neapel

Photo: Dieter David Scholz

W. Daniel Wilson: Goethe Männer Knaben.

Ansichten zur ,Homosexualität’


Insel Verlag. Verlag. 503 Seiten.


Viel ist über Goethe geschrieben worden, aber das Thema der Homosexualität bei Goethe ist von der Literaturwissenschaft nur unzureichend aufgearbeitet worden. Der Amerikaner Daniel Wilson, Jahrgang 1950, seit 2006 Professor für Germanistik an der Royal Holloway Univer­sity of London, hat schon mehrere Bücher über Goethe verfaßt. In seinem neusten Buch hat er dem homosexu-ellem Impuls in Goethes Werk und Leben nachgespürt. 


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Wer kennt es nicht, Goethes Gedicht vom Erlkönig, zumal in der Vertonung durch Franz Schubert. Viel wurde darüber spekuliert, wie dies Gedicht zu deuten sei. Aber darf man den „Erlkönig” wirklich nur als Metapher geistiger Konflikte verstehen? Die siebte Strophe des "Erlkönigs" ist doch an Eindeutigkeit nicht zu überbieten.


    »Ich liebe dich, mich reizt deine schöne Gestalt;

    Und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt.«

    »Mein Vater, mein Vater, jetzt faßt er mich an!

    Erlkönig hat mir ein Leids getan!«


Ein Knabe wird von einer gespenstischen Erscheinung mit Geschenken gelockt, mit Gewalt be-droht und pädophil bedrängt. Oder nicht? So manche Deutschlehrer und selbst angesehene Germa-nisten sind über dieses Gedicht in Verlegenheit geraten. Aber es ist kein Einzelbeispiel. Auch Goe-thes nicht minder berühmtes Gedicht „Ganymed” geht auf einen nicht eben zimperlichen antiken Mythos zurück, der die erotische Leidenschaft zwischen Mann und Knabe meinte, einschließlich Knabenraub. Auch durch viele andere Goethe-Werke, etwa durch die "Venezianischen Epigram-me", die "Römischen Elegien", den „Westöstlichen Divan”, den Roman „Wilhelm Meister” und sogar durch "Faust II" (Grablegung) zieht sich wie ein roter Faden das Thema des gleichge-schlechtlichen Eros.


"Ihr scheltet uns verdammte Geister

    Und seid die wahren Hexenmeister;

    Denn ihr verführet Mann und Weib. -

    Welch ein verfluchtes Abenteuer!

    Ist dies das Liebeselement?

    Der ganze Körper steht in Feuer,

    Ich fühle kaum, daß es im Nacken brennt. -

    Ihr schwanket hin und her, so senkt euch nieder,

    Ein bißchen weltlicher bewegt die holden Glieder;

    Fürwahr, der Ernst steht euch recht schön;

    Doch möcht' ich euch nur einmal lächeln sehn!

    Das wäre mir ein ewiges Entzücken.

    Ich meine so, wie wenn Verliebte blicken:

    Ein kleiner Zug am Mund, so ist's getan.

    Dich, langer Bursche, dich mag ich am liebsten leiden,

    Die Pfaffenmiene will dich gar nicht kleiden,

    So sieh mich doch ein wenig lüstern an!

    Auch könntet ihr anständig-nackter gehen,

    Das lange Faltenhemd ist übersittlich -

    Sie wenden sich - von hinten anzusehen! -

    Die Racker sind doch gar zu appetitlich!"



Nicht nur im literarischen Werk des großen Weimarer Dichterfürsten spielt das mannmännliche Begehren, wie das Androgyne eine wichtige Rolle. Auch in seinem Lebensalltag umgab sich Goethe mit einer Fülle von homoerotischen Kunstwerken. Schon im Vestibül des Hauses am Weimarer Frauenplan begrüßen den Besucher Abgüsse antiker Knabenliebhaber oder geliebter Knaben: Apoll, Herakles, Antinous und Ganymed. Die Antike und ihre gesellschaftlich anerkannte Spielart der Homosexualität, die Päderastie, ist denn auch, wie Wilson deutlich macht, das Bezugs-system Goethes. Deshalb hat Wilson das Wort "Homosexualität" im Untertitel seines Buchs in Anführungszeichen gesetzt. Denn der Begriff wurde erst 1869 öffentlich benutzt als Bezeichnung für etwas Krankhaftes. Und das ist mit dem "antiken Verständnis sexueller Vor­lieben völlig unver-einbar." 



Es geht dem amerikanischen Germanisten Daniel Wilson mitnichten darum, etwa zu beweisen, dass der Dichterfürst homosexuell gewesen sei. Wilson schreibt zurecht: Die Frage "war er, oder war er nicht" hat schon so manche "reißerischen Autoren wie seriösen Wissenschaftler... in die biografische Falle gelockt". Als Literaturwissenschaftler weiß Wilson zu unterscheiden zwischen "empirischem Autor einerseits und lyrischem Ich in einem Gedicht oder Erzähler in einem Prosa-text". Deshalb versagt er sich alle Mutmaßungen über Goethes angeblich "latente Homosexualität" oder womögliche "homoerotische Obsessionen". Das wäre auch abwegig bei einem verheirateten Mann, der fünf Kinder zeugte und noch als greiser Geheimrat einer 19-Jährigen Frau nachstellte.


Aber Wilson beweist als Erster, "dass das Thema Goethe wichtiger war, ... als bislang angenom-men". Und es gelingt ihm mit  "Blick aufs andere Ufer" auf 500 Seiten überzeugend darzustellen und nachzuweisen, dass Goethe in seinem gesamten Werk die Grenze zwischen gleich- und gegen-geschlechtlicher Liebe schritt­weise verwischt. Wobei das Spekt­rum der homoerotischen Äuße-rungen Goethes von sublimer romantischer Liebe bis zu pornographischer Derbheit reicht. Goethe (wie auch Wilson) nehmen kein Blatt vor den Mund. In seinem venezianischen Notizbuch schrieb Goethe ("in der Art eines pubertierenden Lateinschülers") ungeniert eine Liste öbszöner Wörter auf Latein, die keine Fragen offen lassen: paedicare (in den Arsch ficken), Masturbare (einen runterholen), irrumare (in den Mund ficken) und fellare (Schwanz lutschen). Nichts Menschliches war Goethe fremd. In seinen venezianischen Epigrammen zitiert er, quasi als "Fanfarenstoß", wie Wilson meint, den erotischen Dichter Martial: "jede Seite von mir schmeckt nach dem Menschen allein".


Wilsons Kernaussage: Goethe  bereicherte die Vorstellung der mannmännlichen Liebe durch das  Mo-ment der Partnerschaftlichkeit. Und damit, "stösst er der gleichgeschlechtlichen Liebe das Tor zur Moderne auf. Goethe erlebt als Zeitgenosse, wie sich die gleichgeschlechtliche Liebe allererst hin zur Homosexualität entwickelt und versucht sie zu beeinflussen: liebe- und achtungsvoll nach innen, liberal nach außen”. Daniel Wilson zollt Goethe dafür allen Respekt:


"Nach den Verletzungen, Entfremdungen und gewalttätigen Verbrechen, die `Konträrsexu­elle´ und Invertierte, Schwule und Lesben im weiteren Verlauf des 19. und bis weit ins 20. Jahrhundert erleiden mussten und weltweit vielerorts noch müssen, ist die Zeit gekommen für Goethes Erbe der universellen Liebe".


„Ein erfülltes Leben braucht Liebe, ganz egal, wem sie gilt”: Schon Goethe habe es gewußt. Ein faszinierendes, ein wichtiges Buch mit umfangreichem wissenschaftlichem Apparat. Es schließt eine Lücke der Goethe-Forschung. Aber es ist für jedermann verständlich geschrie­ben. Angela Steidele hat Wilsons Buch brilliant aus dem Amerikanischen übersetzt. Ein Glücksfall, denn die Übersetzerin hat ihrerseits einige Bücher zur Geschichte der Homo­sexualität geschrieben und weiß, wovon Daniel Wilson redet


 


Rezension auch im MDR