Carmen Bregenzer Festspiele 2017

Foto: © Bregenzer Festspiele / Anja Köhler


George Bizets "Carmen" auf der Seebühne der Bregenzer Festspiele

Eröffnungspremiere 19.07.2017


Schicksalsschweres Glücksspiel als Riesen-Karten-Spektakel


"Bei Gewitter und Sturm" fand die Eröffnungspremiere der 72. Bregenzer Festspiele auf der weltgrößten Seebühne statt. Man spielte nicht etwa Richard Wagners "Fliegenden Holländer", sondern die Oper "Carmen" seines, wie Nietzsche meinte, Antipoden Georges Bizet.


Für die Ausstattung der in jeder Hinsicht  außergewöhnlichen Inszenierung des Regisseurs Kas-par Holten, Intendant des Royal Opera House Covent Garden in London, hatte die britische Künstlerin Es Devlin gesorgt, in deren Kulissen schon Popstars wie Adele, U2, Take That, Pet Shop Boys und Kanye West auftraten. Sie hat, als erste weibliche Bühnenbildnerin der Bre-genzer Festspiele, eine 21 Metier hohe, rund 24 Tonnen schwere, spektakuläre Skulptur aus dem See herausragender Hände geschaffen,  in der linken Hand eine brennende Zigarette, zwischen ihr und der rechten Hand "schwebende" Karten. Man zeigt "Carmen" als schicksals-schweres Glücksspiel zweier Aussenseiter, des  desertierten Sergeanten Don José und der Zigarettenfabrikarbeiterin Carmen, die einander verfallen und aneinander zugrunde gehen.


Die vier Akte der ohne Pause durchgespielten, auf zwei Stunden gekürzten Oper werden als überdimensionales Kartenspiel für Riesen gezeigt. Auf 62 im Wasser versenkbaren (Beach Cards), in der Luft schwebenden (Flying Cards) und auf einer Drehbühne von zehn Meter Durchmesser bespielbaren (Das Mash) Spielkarten wird Bizets Oper als spektakuläres Kalei-doskop prall sinnlicher Carmen-Assoziationen vorgeführt. Videokünstler Luke Halls weiß computergesteuert und punktgenau getimt, Spielkarten, historische Tarotkarten, Städteansichten von Sevilla und Videos singender Mitwirkender  sich bewegend, drehend, im Wasser versin-kend, zerlaufend durcheinander zu wirbeln. Perfekte Zauberei.  Eine virtuose szenische Phantasie  über die Karten, die Carmen ihr  auswegloses Schicksal vorhersagen: "Karo! Pik!...Der Tod!"


Anja Vang Kragh hat dafür hunderte farbkräftiger, markanter, phantasievoller und mitnichten klischeehafter Kostüme für die Heerscharen von Mitwirkenden, Sängern, Statisten, Stunts, Fassadenkletterer und Tänzer entworfen. Hinreißend ist das geradezu königliche Kostüm der Schlussszene, in der Carmen wie eine Todesgöttin auftritt. Von wegen Zigeunerin! Signe Fabricius hat aufsehenerregende Choreographien von Wasserballetten beigesteuert. Wie Caspar Holten, der auf der gigantischen, unkonventionellen Bühne souverän Tableaus arrangiert, Massen bewegt und glaubwürdige individuelle Personenregie ermöglicht, das Stück, dem Aufführungsort angemessen, als szenische "Wassermusik" realisiert, nötigt Respekt ab, mit einer Carmen, die sich ihrer Verhaftung durch einen beherzten Sprung ins kalte Nass  entzieht, mit an und ablegenden Schmugglerbooten, einem Auftritt Escamillos (im vierten Akt)  im Motorbot bei Feuerwerk. Der für die Lichtregie zuständige Bruno Poet macht seinem Namen alle Ehre: Farbwechsel der Karten, brennende Feuerschalen, magische Stimmungen und symbolische Lichtregie des opernhaften Kartenspiels sind Zaubertheater der technisch perfekten Art.


Sängerisch dominiert Gaëlle Arquez als Carmen die Aufführung, eine imposante stimmliche wie schauspielerische Erscheinung, eine Idealbesetzung der Titelpartie, eine Sängerin, die durch ihren satten Mezzo, warmes Timbre, feinste Gesangskultur und Feuer der Gestaltung überzeugt. Auch Elena Tsallagovas kletterfeste und schwindelfreie Micaela ist außerge-wöhnlich, was man vom stimmlich eher rustikal-konventionellen, etwas abgenutzen Bariton Scott Hendricks, der Escamillo als machohaften Alt-Torero gibt, nicht sagen kann. Daniel Johanssons Don José besticht zwar auch nicht gerade durch Stimmschönheit, aber er punktet durch überzeugende Leidenschaft der Rollengestaltung. Wie er im Wasser des Bodensees versinkend, Carmen ertränkt, das hat geradezu antikisch-tragisches Format. Auch die dra-matisch aufgepeitschte und doch subtile Wiedergabe der Partitur durch die exzellenten Wiener Symphoniker, die seit 1946 jeden Sommer als "Orchestra in Residence" bei den Bregenzer Festspielen verbringen, ist außergewöhnlich. Der unerwartet temperamentvolle Paolo Carignani am Pult ist ein zuverlässiger Anwalt der Partitur.


Immer wieder überwältigend ist der einzig-artige Sound der Bregenzer Festspielakustik.  Zurecht bescheinigte der österreichische Kulturminister Thomas Drozda beim Eröffnungs-Festakt des  zweit wichtigsten Kulturunternehmens des Landes nach den Salzburger Festspielen, dass es "ein Achttausender in der österreichischen Kulturlandschaft" sei. Das Premierenpublikum war außer sich vor Begeisterung. Hut ab vor Festivalintendantin Elisabeth Sobotka, der in diesem Jahr ihre bisher spektakulärste Produktion seit ihrem Amtsantritt gelang.


Rezension auch in Freie Presse