Musik-Theater & mehr
Ariane Mnouchkine: Molière
2 DVDs - Bel Air BAC 503 – 244 Minuten
Biografisches Monumentalepos und grandioser Musikfilm, endlich auf DVD
Es ist einer der größten Historienfilme der Filmgeschichte: der Film „Molière“ der Theatermacherin Ariane Mnouchkine, der am 30. August 1978 in die französischen und drei Monate später auch in die deutschen Kinos kam. Ariane Mnouchkine hatte seit 1976 an dem Projekt gearbeitet, an dem auch viele ihrer Schauspieler vom Théâtre du Soleil teilnahmen. Jetzt ist dieser Film auf 2 DVDs in aufwendiger Klang und Bild-Restaurierung beim Label Bel Air auf den Markt gekommen.
In Ariane Mnouchkines aufwendiger Filmbiografie über Molière aus dem Jahre 1978 wird kein Schiff übers Gebirge gezogen wie vier Jahre später in Werner Herzogs "Fitzcarraldo". Aber als Geschenk aus Venedig kommend, sind immerhin drei Gondeln zu sehen, die unterwegs über den Schnee in den Alpen auf dem Weg nach Frankreich sind. Es ist eine bezeichnende, eine der der phantastischsten, ja surrealsten Szenen des Films. Ariane Mnouchkine und das von ihr angeführte Kollektiv des "Théâtre du Soleil" waren zu Ruhm gekom-men mit großen Theaterproduktionen wie "1789" und einer Shakespeare-Trilogie, deren Inszenierungen vom japanischen Kabuki-Theater inspiriert waren. Aber mit dem Kino hatte die Truppe keine Erfahrung. Dann riskierte die Mnouchkine etwas ganz Neues: einen bio-grafischen Film über Molière. Vier Stunden war der Film am Ende lang. Er wurde zu einem beispiellosen Zeitpanorama. Das Theater der Mnouchkine wurde Kino, ihr Kino war Theater.
Mnouchkines Moliere-Film folgt auf mit insgesamt 38 Episoden der Biografie Molières chronologisch, macht aber von Anfang an klar, dass er die Fesseln der konventionellen Biopic-Dramaturgie zu sprengen gedenkt. Man sieht Urszenen von Molières Spiel- und Schau-spielbegeisterung, phantastische Bilder eines fliegenden Ikarus, riesige Fabelwesen, eine über traumhafte Landschaften gezogene Bühne inklusive Portal und wehendem Theatervorhang, grell geschminkte Schauspieler, noch greller geschminkte Hofschranzen. Gewitter, Sturm, Kerzenlicht, Naturstimmungen. Man sieht von der Commedia dell´Arte inspiriertenAufführungen. Der Film zeigt zeigt schließ-lich das erste feste Engagement Molières, dann seine Einladung nach Paris, Molières Erfolge als Chefautor seiner Truppe in den Diensten des jüngeren Bruders Ludwigs XIV., dann sieht man ihn gemeinsam mit dem Komponisten Jean-Baptiste Lully als Organisator von Festen am Hof von Versailles.
Durch die vielen essentiell eingebauten Musiken ist Ariane Mnouchkines Moliere-Film nicht nur ein biographisches Monumentalepos, an dem 120 Schauspieler und 600 Statisten mitwirkten. 1300 Kostüme wurden genäht, an 220 Schauplätzen wurde gespielt und gedreht, innen wie außen, an Originalschauplätzen, in Studios, in der Natur, auf dem Theater. Der Film ist durch die Mitwirkung des Clemencic Consorts und des Deller Consorts auch ein grandioser Musikfilm geworden, der ein musikalisches Panorama entfaltet von Claudio Monteverdi über traditionelle Gebrauchsmusiken des 17.Jahrhunderts bis zu Lully und Jean Japart.
Der Film dreht sich nicht permanent um Molière, sondern stellt ihn hinein in eine Szenenfolge anrührender, faszinierender Bilder aus seiner Zeit. Man sieht Intimes, Öffentliches, grandiose Massenszenen. Einer der Höhepunkte des Films ist eine große Karnevalsszene als Getümmel, in das sich die Kamera, als wäre sie direkt dabei, hineinbegibt.
Ein Wort noch zum Kameramann Bernard Zitzermann. Seine agile, unstetige, quasi neugierige Kameraführung zwingt das Geschehen nicht in Rahmen, sondern bewegt sich voyeuristisch zwischen den Menschen und in kleinste Räume hinein. Er geht auf Plätze und Stra-ßen, folgt Massen und beobachtet Individuen, intim und zugleich kraftvoll. Ein Filmkritiker nannte das einmal die „Methode kontrollierter Entfesselung“. Sie kulminiert in der vielleicht großartigsten Szene des Films, der vom Sterben Molières. In rasendem Stillstand treten die Darsteller, den sterbenden Molière in den Armen, auf den Treppen eines Schlosses auf der Stelle. Die Kamera macht daraus eine unwirk-liche Bewegungsillusion, und das zur Musik des Frostgeistes aus Henry Purcells Semi-Opera „King Arthur“.
Der mit vielen Preisen und Auszeichnungen versehene Molière-Film von Ariane Mnouchkine, der nun endlich in bestechender Bild- und Tonqualität auf DVD vorliegt, man kann ihn in 5 Sprachen übertiteln, ist eine opulente Mischung aus Theater und Film, Phantasie und Dokumentation, ein Meilenstein der Filmgeschichte, an dem man sich das Herz erwärmen und sich hineinträumen kann in die prallbunte, sinnliche Welt Molières und seiner Zeit des 17. Jahrhundert.
Besprechung auch in MDR Kultur, 13.07.2017