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Ein schlimmes, an schlimmste deutsche Zeiten erinnerndes Buch!
Karl Richter: Richard Wagner. Visionen. Werk, Weltanschauung, Deutung. Arun Verlag 1993, 668 S.
Wagner und kein Ende. Über keine andere Persönlichkeit der Welt- und Kulturgeschichte ist neben Nietzsche, Marx, Jesus und Freud derart viel geschrieben worden wie über Richard Wagner. Wer sich mit Wagner eingehender, gar wissenschaftlich beschäftigt, weiß dies zu beklagen. Denn die mehr als 50.000 Titel an gegenwärtig verzeichneter Wagnerliteratur sind nur zu einem kleinen Bruchteil wichtige, will sagen brauch- und lesbare Beiträge zum Thema Wagner. Aber die Flut immer neu ans Ufer des Büchermarktes angeschwemmter Wagner-Literatur will nicht verebben.
In diesem Jahr sind gleich mehrere, darunter sehr interessante, Publikationen auf den Büchermarkt gekommen. Etwa Hanjo Kestings Arbeit über das "Pump-Genie" Wagner oder das vorzügliche, zweibändige Buch von Solveig Weber über "Das Bild Richard Wagners". Beide Arbeiten haben sich sowohl um wissenschaftliche Disziplin als auch um Lesevergnügen (ein legitimes Interesse des Lesers) bemüht. Nichts martert den Leser mehr als verkniffen-trockene, oder auch süßlich-verehrungsvolle Schreibe. Geradezu unerträglich wird Wagner-Literatur, wenn sie ins Esoterische mit seinen willkürlichen Abschweifungen ins verkappt Religiöse oder gar rechtsradikal Weltanschauliche entgleitet.
Ein geradezu abschreckendes Beispiel dafür ist die Neuerscheinung von Karl Richter. Sein Versuch einer umfassenden Gesamtschau von Person, Werk und vermeintlicher Aktualität Wagners knüpft an eine wenig rühmliche Tradition jener Autoren an, die Wagner immer schon zum "Seher" kommender politischer Umwälzungen erklärt hatten, zum Propheten oder Ahnherrn dieser oder jener Welterklärung, Lebensphilosophie, Kulturauffassung oder Politik. Unrühmlichstes Beispiel: "Der Seher von Bayreuth" von Johannes Bertram. Das Buch erschien 1943. Der Autor wollte darin "der Gesamtheit der Nation Wagner und sein Werk immer mehr zugänglich" machen durch eine "Führung in die Untergründe seines seherischen Gehaltes", der ducrh die Lektüre "in die eigene Seele überfließen" solle, zum Wohl des deutschen Volkes und seines wagnerliebenden Führers, der dieses Volk und andere Völker 1945 in eine der größten Katastrophen den Neuzeit trieb.
Heute, 1993, fordert Karl Richter in seinem jüngst erschienenen Wagnerbuch vor dem "Stimmungshintergrund" des politischen "Umbruchs" (gemeint sind die ihn zu seiner deutschnational inspirierten Wagnerexegese animierenden "Monate des deutschen Zusammenwachsens"): "Richard Wagner war, ist einer der großen Fundamentalisten der Geistesgeschichte. Einer der ganz großen Visionäre des abendländischen Kulturkreises, ... Es ist an der Zeit, sich dies ins Gedächtnis zurückzurufen". Wo doch die Zeiten sich geändert haben. "Neubewertungen von Vergangenem" seien "allemal statthaft und an der Zeit." In der Tat: "Ein Ruck hat die Republik erfaßt". Eben jener Ruck hat dem Autor des vorliegenden Buches den Rücken gestärkt. Ohne jede Scheu behauptet er: "Der Zug ins Totale, Totalitäre ... verbindet Wagner-Zeit und Jetztzeit ... Schwellenzeiten wie unsere brauchen...Visionen". Wagner ist für ihn der größte Visonär. Den "Kosmos seines Denkens, seiner geistigen Entwicklung, das Mythologikum seiner eigenen Weltsicht" vor dem Leser auszubreiten ist denn auch das erklärte Ziel des Buches, "eine Art musikalisch-exegetischer Zusammenschau". Im schwärmerischen Erzählton willkürlicher Deutungsbeflissenheit unternimmt es Richter, "Wagner einer Epoche näherzubringen, die ihrerseits für Ganzheitliches wieder empfänglicher wird". Was da letztlich an Ganzheitlichem gemeint ist, hat mehr mit des Autors politischer Interpretation der deutschen Wiedervereinigung zu tun als mit dem, was man gemeinhin unter "ganzheitlichem Denken" versteht. Deutschland sei "wieder ein Land der Anfänge." Dieses Land brauche jetzt dringender denn je Visionäre. Wagner sei einer der Größten, mehr noch, "ein deutscher Vor-Denker".
Spätestens im Schlußkapitel seines Buches räumt Karl Richter jeden letzten Rest an Zweifeln darüber aus, wes Geistes Kind er ist. Da wettert er gegen die "mentale Wüstenei" der Nachkriegszeit, gegen "rituellen Dauerexorzismus" an Wagner, sagt "bundesdeutscher Weinerlichkeit" den Kampf an, polemisiert in anrüchigem Vokabular sowohl gegen den "westlich-parlamentarischen Schmerbauch" als auch gegen den intellektuellen "Dämon" unserer Zeit, den "pinscherhaften Widerspruch" gegen Wagner, gegen "Besserwischerisches Naserümpfen ob der vermeintlichen Mitverantwortlichkeit des Bayreuthers für die Entgleisungen unseres Jahrhunderts", aber auch ob "des krampfhaften Zwangs zum Distanzieren von unserer Vergangenheit, unserer Identität, unserem volkhaften Sein." Zuletzt versteigt er sich zu der geradezu infamen Verharmlosungsbehauptung, "zivilisatorisch-ökonomische Weichenstellungen" hätten "Auschwitz schon jetzt hunderttausendfach in den Schatten gestellt". Die Zitate sprechen für sich.
Ein schlimmes Buch! Daß sich ein Verlag heutzutage nicht schämt, ein solches Werk zu publizieren, stimmt angesichts der nahezu täglichen rechtsradikalen Geschehnisse auf der Straße nicht nur nachdenklich, es empört! Sind wir schon wieder so weit?
Rezension für die Neue Zeit