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Wagners Utopie des Gesamtkunstwerks zielte auf die Errettung einer im Industrialisierungs-prozeß ihrer selbst entfremdeten Menschheit durch Kunsterfahrung.
Bermbach erklärt diese Utopie aus radikal linksdemokratischer, aus jungdeutsch vormärzlicher und utopisch-frühsozialistischer Tradition. In der Verschränkung von ästhetischer Vision und politischer Reflexion ist Richard Wagner ein einzigartiger Fall
Udo Bermbach: Der Wahn des Gesamtkunstwerks
Richard Wagners politisch-ästhetische Utopie. 1994
Richard Wagners Verhältnis zur Politik, will sagen, Wagners politischer Standort, aber auch der politische Gehalt seiner Musikdramen - insbesondere angesichts der fatalen wirkungsgeschichtlichen Folgen, also dem Hitlerschen Wagnerismus, war bisher eines der tabuisierten oder hochgespielten, ideologisierten oder verharmlosten Problemfelder der Wagnerforschung. Doch jetzt hat der Hamburger Politologe Udo Bermbach, der mit seinen verstreuten politologischen Anmerkungen und Wagner-Analysen in den letzten Jahren wiederholt auf sich aufmerksam machte, ein schlechterdings als "Non plus ultra" zu bezeichnendes Buch zum Thema vorgelegt.
Der Autor spürt darin die gedanklichen gesellschaftstheoretischen Konstanten und Fundamentalüberzeugungen im Werk und in den viel zu wenig beachteten theoretischen Schriften Wagners auf, erklärt sie gewissenhaft und mit gebotener wissenschaftlicher Disziplin aus dem Kontext ihrer Entstehungs- und Werkgeschichte, aber auch aus dem Leben Wagners vor dem Hintergrund der allgemeinen gesellschaft-lich-politischen Lage Deutschlands. Und er räumt mit so manchen Irrtümern und Legenden über und um Wagner auf. Bermbach durch-leuchtet mit großem biographischem Kenntnisreichtum und mit genauem historischen Verständnis Wagners Dramen und Schriften und macht deutlich, daß Wagner eine Ausnahmeerscheinung unter den Komponisten seiner Zeit ist, weil er nicht nur das Schema der Grand Opéra durchbricht, sondern sich stark macht für die freie, sinnliche Liebe, weil er in seinen Werken ungeniert Ehe- und Adelskritik übt, sich gegen die Kirche wie überlebte Moralvorstellungen ausspricht und aufs heftigste bürgerliches Besitz- und Eigentumsdenken tadelt, wie soziale Ungleichheit und Ständedenken.
Schon in seinen frühesten Opern hat Wagner diesen gesellschaftstheoretischen Fundus angelegt, in seinen Züricher Kunstschriften hat er sie ästhetisiert. Bermbachs Leistung ist es nun, aufzuzeigen, daß Wagner "in seinem ästhetischen Konzept einzuholen" versucht habe, "was die gescheiterte Revoluion von 1849 ihm verweigert hatte: das Umdenken aller bestehenden religiösen, politischen, gesellschaft-lichen und kulturellen Verhältnisse, die revolutionäre Erneuerung einer moralisch wie institutionell als bankrott erachteten Welt durch das von ihm konzipierte Gesamtkunstwerk".
Wagners Utopie des Gesamtkunstwerks zielte auf die Errettung einer im Industrialisierungsprozeß ihrer selbst entfremdeten Menschheit durch Kunsterfahrung. Bermbach erklärt diese Utopie aus radikal linksdemokratischer, aus jungdeutsch vormärzlicher und utopisch-frühsozialistischer Tradition. In eben der Verschränkung von ästhetischer Vision und politischer Reflexion ist Richard Wagner ein einzigartiger Fall. Bermbach rechnet ihn denn auch nicht nur zu den größten Komponisten, sondern auch zu den wichtigen politischen Denkern des 19. Jahrhunderts. Da Udo Bermbach seine Argumentationen mit klarem Verstand und frei von jeglichem ideologischen Überbau ausbreitet, folgt man seinen klugen Ausführungen gern. Am Ende der aufregenden Lektüre hat man viel dazugelernt und vor allem: Wagner besser begriffen. Auf dieses Buch von Udo Bermbach mit dem Titel "Der Wahn des Gesamtkunstwerks" hat man lange gewartet. Es wird manche Revision des vorherrschenden Wagnerbildes nach sich ziehen.
Berlin, 17.Mai 1994
Rezension für BR-E-Musik, "Musik aktuell" u.a.