Musik-Theater & mehr
Photo: Marie-Laure Briane / Gärtnerplatztheater
Fantastisches Nachtstück à la E. T. A. Hoffmann
Stefano Podas kongeniale Münchner „Hoffmann“-Inszenierung
Sie ist bis heute Fragment, Artefakt, Steinbuch der Selbstbedienung jeweiliger Theater, die sie aufführen: die Fantastische Oper „Hoffmanns Erzählungen“ von Jacques Offenbach, die auf ein Libretto von Jules Barbier nach dem gleichnamigen Drama »Les Contes fantastiques d’Hoffmann« von Jules Barbier und Michel Carré, die am 10. Februar 1881 in der Pariser Opéra-Comique uraufgeführt wurde. Da war Offenbach schon fast ein Jahr tot. Er war am 5. Oktober 1880 gestorben und hatte die Oper nicht vollenden können. Seither wird das Stück in verschiedensten Versionen und Fassungen aufgeführt, verstümmelt, ergänzt und dramaturgisch wie Patchwork in Szene gesetzt.
Erst 1977 legte Fritz Oeser eine erste wissenschaftliche Neuausgabe auf dem damals aktuellen Stand vor, in der er mehr als 1.250 Manuskriptseiten aus unterschiedlichen Entstehungsphasen der Oper auswertete, die der Offenbach-Experte António de Almeida zusammengetragen hatte. Diese Fassung liegt der Inszenierung des Münchner Gärtnerplatztheaters zugrunde, in der deutschen Übersetzung von Gerhard Schwalbe. Man spielt die Rezitativfassung (Die Spiegel-Arie ist umstritten, sie wird gesungen, aber - einem Vorschlag der Ausgabe von Oesers folgend - als Arie des Coppelius. Dafür gibt es die echte Dapertutto-Arie im Venedig-Akt.)
In den 1990er Jahren gab Michael Kaye eine zweite Neuausgabe heraus, die sämtliche bis dahin bekannten Varianten, Fassungen, verworfene Nummern und abweichende Deutungen enthält. Doch auch diese Edition war schnell wieder veraltet, denn 1998 entdeckte Jean-Christophe Keck Offenbachs Manuskript für den Schluss des Giulietta-Aktes, der kurz darauf in Hamburg uraufgeführt wurde. Ein endloser Work in Progress, wollte man eine dieser Fassungen spielen, wären sie wohl für Manchen zu lang!
Egal, welche Fassung gespielt wird, es kommt auf die Qualität und Originalität der Aufführung an. Es gibt nicht die eine Wahrheit. Schon gar nicht bei Offenbach. Er stellte für die Möglichkeiten und Defizite eines jeden Theaters eine eigene (Strich-) Fassung zusammen, pragmatisch wie er war.
Die Familie Offenbach und Direktor Carvalho von der Opéra comique hatte nach dem Tod des Komponisten Ernest Guiraud in Windeseile mit der Vervollständigung der Oper beauftragt. Der sichtete das z. T. in mehreren Fassungen vorhandene Material, vervollständigte (insbesondere den 4. und 5. Akt) und schuf sowohl die von Carvalho geforderte Dialogfassung als auch eine Rezitativfassung für die nur kurz darauf angesetzte Wiener Aufführung.
Der besondere Reiz des 1851 uraufgeführten Schauspiels »Les Contes fantastiques d’Hoffmann« aus der Feder von Jules Barbier und MichelCarré, das Offenbach vertonte, lag darin, dass die Autoren nicht nur Elemente aus verschiedenen Texten E. T. A. Hoffmanns zu einem Dramentext vereinten, sondern den Dichter auch als handelnde Person auftreten und zusätzlich als Erzähler der einzelnen Episoden auf der Bühne fungieren lassen. Das Stück wollte die Klischee-Welt der deutschen Romantik – wie man sie seinerzeit in Frankreich sah – in fantasievollen, z. T. überzeichneten Bildern auf die Bühne zu holen. In »Les Contes fantastiques d’Hoffmann« ließen Barbier und Carré ihren Hoffmann drei dramatisch verlaufende Liebesgeschichten erzählen, die sie größtenteils aus der Novelle »Der Sandmann« aus den»Nachtstücken« (Olympia), aus »Rat Krespel« (Antonia) und aus der »Geschichte vom verlornen Spiegelbilde« aus den »Fantasiestücken in Callots Manier« bzw. den »Abenteuern der Sylvester-Nacht« (Giulietta) entnahmen. Die frei erfundene Rahmenhandlung, die die Autoren in der Berliner Weinstube Lutter & Wegner spielen lassen, in der der reale Hoffmann nachweislich verkehrte, enthält des Weiteren Elemente aus »Don Juan« (Stella), den »Serapionsbrüdern« (die Studenten), »Der goldne Topf« (die Figur des Lindhorst bzw. Lindorf) und »Klein Zaches genannt Zinnober« (das Lied von Kleinzack).
Offenbach sah das Stück im Pariser Théâtre de l’Odéon in Offenbach. 1877 erinnerte er sich daran und fasste den Entschluß, daraus eine Oper zu verfertigen. Man kann sie als musikdramatischen Surrogatextrakt der Erzählungen und der Person E.T.A. Hoffmanns verstehen.
Zur Erinnerung: E.T.A. Hoffmanns Leben in Königsberg, Posen, Warschau, Berlin, Bamberg, Dresden, Leipzig und Berlin war das einer gespaltenen Persönlichkeit, Tags war er braver bürgerlicher Jurist, nachts phantatstischer, musikalischer Schriftsteller. Die Geschichten, die er in Berlin neben seinem Amt als Richter schrieb, gehörten zu den zu seiner Zeit meistgelesenen überhaupt. Wenn er zu viel trank, beschlichen ihn die Unholde, der Wahn, die Schreckgespenster, die er wie kein anderer zu Papier bringen konnte. Er war ein Meister der schwarzen Romantik. Das Bild eines Hoffmann, der tags im Amt, nachts im Berliner Weinhaus Lutter & Wegener bei flackerndem Kerzenschein von allerlei Schreckbildern heimgesucht wurde, machten ihn selbst zur literarischen Figur.
Kein Regisseur vor Stefano Poda hat das bisher so kongenial in Szene gesetzt, diese zutiefst romantische Vermischung von Fantasie und Realität, Romantik und Alptraum, Kunst, Wahn und Künstlerapotheose.
Er hat mit seiner suggestiven, bildmächtigen Inszenierung eine schlüssige, schnörkellose, alles Konventionelle und Kitschige meidende Metapher für männliche Weiblichkeits-, Künstlerinnen- und Liebesillusionen geschaffen, die überrascht und frappiert: In einem weissen, von Zetteln und Manuskripten tapezierten Raum stehen auf der Drehbühne gläserne Vitrinen, in denen sich mal die Symbole der Werke E.T. A. Hoffmanns, mal große, verstorbene Sängerinnen, mal Mode-Puppen, mal Kurtisanen, schliesslich nur noch Zahlen befinden. Ein irreales Karussell der Wünsche und Begierden, Eitelkeiten und Träume.
Da stehen sie, in Gestus wie Habitus erstaunlich animierte Verstorbene der großen Sängerinnen der Operngeschichte, von Nellie Melba und Isabella Colbran zu Joan Sutherland, Renata Tebaldi, Kirsten Flagstadt, Maria Callas und Montserrat Caballé bis hin zu Edita Gruberova. Auch Antonias Mutter ist als „Angelina de Angeli“ unter ihne, und für Antonia „de Angeli“ wartet ein leerer Schaukasten. In ihm wird sie ihr Leben aushauchen.
Zur Rahmenhandlung fährt die Unterbühne hoch und man sieht Hoffmann an einem Tisch, Weinflaschen leeren und in die Tasten einer Schreibmaschine hauen. Der Schriftsteller eben. Schwarze, lemurenhafte Gestalten mit sepulcral anmutenden Federbouguets auf ihren Zylindern durchziehen die Aufführung. Viel Nebel. Ein hoffmaneskes Nachtstück. Nosferatuafte Grotesk- und Spukgestalten, ja Teufelsgeiger beherrschen die Szene. Die alptraumhafte Inszenierung voll schöner Details und subtiler Personenführung ist ein ritualhafter Totentanz, ein marionettenartiger Ritus des Scheiterns und des Sterbens, bis am Ende sich die weiße Zettel-Wand herabsenkt und Manuskriptblätter vom Bühnenhimmel regnen. Zu der rührenden, finalen Künstlerapotheose werden alle Kostüme auf wundersame Weise weiß, alles Schwarze verschwindet und - befeuert von der Muse (“Man wird groß durch die Liebe, größer noch durch Tränen”) verklärt sich nach dem Erinnerungs-Drama Hoffmanns alles ins Helle. Der Triumph des Künstlers!
Magisch sind die Beleuchtungseffekte Stefano Podas, der außer dem Bühnenbild auch die superbe Kostümschau verantwortet. Neben hoffmannesken Phantasiekostümen in Gothik Style und Leder gibt es auch Haute Couture in feinsten Stoffen und futuristische Netzkreationen in Rot und Silber sowie Motorradhelme, die über und über mit Juwelen besetzt sind. Ein genialer Gesamtkunstwerker!
Aber auch sängerisch und dirigentisch ist die Produktion grandios: Die Besetzung lässt keinen Wunsch offen: Cameron Becker singt die Titelfigur mit stimmlicher wie darstellerischer Leidenschaft, erstaunlicher Höhe, enorme Durchschlagkraft und Ausdruck. Er hat Emotion, Erotik und Dichterwahn (-sinn).
Anna-Katharina Tonauer in der Doppelpartie der Muse wie des Niklas hat keine große Stimme, aber einen wohltönenden, balsamisch Mezzosopran,
Mathias Hausmann in den Rollen der Bösewichter ließ sich bedauerlicherweise wegen Krankheit entschuldigen, an seiner statt sang aus der linken Proszeniumsloge George Humphreys glaubwürdig und stimmprächtig, Regieassistent Andreas Zimmermann doubelte pantomimisch auf der Bühne. Eine überzeugende Rettung der Aufführung!
In den Partien des Andreas, Cochenille, Franz und Pitichinaccio überzeugte Maximilian Mayer mit brilliantem, stilsicheren Offenbach-Buffotenor.
Die Figuren der Geliebten Hoffmanns sind mit drei verschiedenen Sängerinnen bestens besetzt. Die Olympia von Ilia Staple singt hochvirtuos, ohne Fehl und Tadel, mit außergewöhnlichen Koloraturen und extremen Spitzentönen. Die Antonia von Judith Spießer hat warmes Timbre und dramatische Reserven. Sie singt eine inbrünstige todkranke Diva in spe. Camille Schnoor ist mit Straußenfedernhut (man denkt unwillkürlich an „Die Sache Makropoulos“ mit Anja Silja) und Liebhaber an der Leine brilliant die intrigante Edelkurtisane im Edelbordell Podas.
Auch alle weiteren Rollen sind überzeugend besetzt, aus ihnen sticht Antonias Mutter (Anna Agathonos) edel wohltönend hervor. Auch die darstellerische und gesangliche Leistung des Chores ist bemerkenswert. Pietro Numico hat ihn bestens einstudiert.
Anthony Bramall am Pult versteht es, das Orchester des Gärtnerplatztheaters zu einer geradezu modellhaften Offenbachinterpretation zu motivieren. Ohne alle Süsslichkeit, scharf und analytisch-klar, in zügigen Tempi und doch mit grossem Atem für die Aufschwünge setzt er die faszinierend irrlichternde Partitur um, klangprächtig und doch transparent, mit Sinn fürs Lyrische, Romantische wie Grotesk-Komische. Aber auch die fahlen Töne und untergründigen Klänge aus den “Rheinnixen”, die im Giulitta-Akt sehr auffällig und ungewohnt anklingen, werden verblüffend umgesetzt, nicht nur die Barcarole wird zitiert, sondern auch die finale Szene der Armgard aus dem zweiten Akt.
Eine außergewöhnliche Produktion, ja eine Sternstunde!