Musik-Theater & mehr
Richard Wagner. Sämtliche Briefe des Jahres 1867
Hrsg.von Margret Jestremski
Breitkopf & Härtel, Wiesbaden 2011
672 Seiten
Mehr als 300 Briefe hat der Komponist Richard Wagner allein im Jahr 1867 geschrieben: An seine Geliebte Cosima, seinen Freund und Mäzen König Ludwig II., seinen Arzt und seine Putzmacherin in Wien. Viele seiner Briefe waren bisher nicht veröffentlicht. Anfang der Sechziger-ahre begann man mit dem kühnen Unterfangen, sämtliche Briefe Richard Wagners herauszugeben. Damals noch in Leipzig (VEB Deutscher Verlag für Musik); seit 1999 wird das schier endlose Projekt in Wiesbaden (Breitkopf & Härtel) weitergeführt. Inzwischen ist man bei Band 19 angekommen, der die 322 Briefe des Jahres 1867 beinhaltet.
1867 war ein besonders wichtiges Jahr. In ihm vollendete Wagner die Partitur der "Meistersinger", immerhin sein erfolgreichstes Stück zu Lebzeiten, nach dem „Rienzi“. Dann hat er in München, wohin er von Ludwig II., seinem königlichen Mäzen, gerufen wurde, zwei Musteraufführungen anberaumt, „Lohengrin“, zum ersten Mal ungekürzt, und „Tannhäuser“, zum ersten Mal in der Pariser Fassung, die natürlich eingedeutscht wurde für München. Und Wagner konnte Hans von Bülow als Hofkapellmeister berufen lassen in München. Bülow war später einer der wichtigsten Wagnerdirigenten und -Propagandisten. Auch eine Schule für Musik und dramatische Kunst sollte gegründet werden. Und last but not least: Wagner hat sich, nachdem er den Bogen überspannt hatte mit seiner illegitimen Lebens- und Liebesführung mit Cosima, Baronin von Bülow, der Gattin von Hans von Bülow, endgültig in Tribschen am Vierwaldstädter See niedergelassen und etabliert. Auf Kosten natürlich des Königs, der ihm eine lebenslängliche Leibrente von jährlich 8000 Gulden zusicherte. Eine immense Summe, zu der noch die Begleichung sämtlicher Miet, Umzugs-, Umbau- sowie Einrichtungskosten hinzukamen. Wagner war 1867 „ein gemachter Mann“ und lebte in Saus und Braus.
Alles dies spiegelt sich in Wagners Briefen wieder, wird reflektiert, gebrochen je nach Perspektive der Adressaten. Die Briefe an Ludwig den Zweiten beispielsweise offenbaren Wagners verlogene Theatralik. Schon die Anreden: „Edler, geschätzter Freund“, „Innig geliebter Freund“, „Mein liebes schönes Wunder“. Wagner war immer im Zwiespalt zwischen Unterwerfung bis hin zum Kriecherischen und rebellischem Größenwahn. In diesen Briefen an Ludwig II. versucht er einen Spagat zwischen Fordern und Dienen. Das war nicht immer konfliktfrei, wie man anhand der Briefe des Jahres 1867 erkennt. Ludwig hat Wagner trotzdem nie seine Freundschaft aufgekündigt.
Besonders interessant, ja pikant sind die Briefe Wagners an seine Putzmacherin Bertha Goldwag, die er in Wien kennen gelernt hatte, wo er mit seinem "Tristan"-Projekt scheiterte. Aber Wagner läßt sich von ihr auch noch in Tribschen in seiner skurrilen Kauzigkeit seine Samtbarette schneidern, seine rosaroten Atlas-Morgenröcke sowie andere Textilobjekte und Wäschestücke. Er gibt genaueste Anweisungen, welche Stoffe, Spitzen, Seiden, Satinbänder und Futtermaterialien zu verwenden seien. Nur die feinsten natürlich. Es sind Briefe, in denen sich Wagners Textilfetischismus deutlicher denn je zu erkennen gibt, der allerdings auf Wagners lebenslange Kränklichkeit hinweist.
In diesem Zusammenhang sind die Schreiben an seinen Arzt Dr. Standhardtner in Wien aufschlussreich. Wagner litt ja fast sein ganzes Leben an diversen Haut- und Unterleibsbeschwerden, über die man in diesem Band Genaueres erfährt. Auch über seine kulinarischen Gewohnheiten und Vorlieben. Wagner war ja kein „deutscher“ Stammtisch-Michel, der sich mit Bier, Sauerkraut und Würsten zufrieden gab. Er beschreibt in einem Brief seine „Kur“, die neben zartem Fleisch aus bestem Rheinwein, Burgunder und Champagner bestand. Auch Austern hat er nicht verschmäht.
Interessant sind auch Wagners Briefe an seinen Musikverleger Schott in Mainz. Sie belegen des Komponisten präzise Vorstellungen von genauen Partituren. Und schließlich sind immerhin ein Viertel aller (erhaltenen) Briefe an Cosima, die ein Jahr später mitsamt ihren Kindern endgültig zu Wagner ziehen wird, in diesem Band zu finden. Sie offenbaren Wagners immenses Selbstdarstellungs- und Mitteilungsbedürfnis einem ihm bedingungslos ergebenen Menschen gegenüber.
Gerade diese menschlich-allzumenschlichen Seiten Wagners zeigen sich in den Briefen Wagners sehr deutlich, jenseits dessen, was von den meisten Wagnerbiografen geschrieben wird. Auch die Zwiespältigkeit seiner Persönlichkeit zwischen Rebellentum, Antibürgerlichkeit und bürgerlicher Großmannssucht. Zwischen kompromissloser Anspruchshaltung und zweckdienlicher Demut, ja Devotheit. In diesem Band lernt man einen in vieler Hinsicht "anderen" als den üblichen Wagner kennen. Die Briefe korrigieren insofern manches Klischee der Wagnerbiographik und zeigen ein sehr viel facettenreicheres als das übliche Wagnerbild.
Die Briefe sind übrigens bestens kommentiert. Fast die Hälfte der knapp 700 Seiten bieten sehr detaillierte lebens- und zeitgeschichtliche, auch biographische Erklärungen jedes einzelnen Schreibens. Das Editionsteam besteht aus international renommierten Spezialisten. Die Edition wird großzügig gefördert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft sowie der Oberfrankenstiftung.
Auch handwerklich ist dieser Band hervorragend gestaltet, fadengeheftet, mit Lese-bändchen und festem Einband. Eine weitere Etappe auf dem Weg zur Gesamtausgabe der Briefe. Leider ist man erst erst im Jahre 1867 angekommen. Bleibt zu hoffen dass sie - wann, steht in den Sternen - einmal zu Ende kommt. Und wenn das Sterbejahr 1883 erreicht sein wird, tauchen womöglich weitere Blätter Wagners im Antiquariatshandel oder in Archiven auf. Wagner war einer der fleißigsten Briefeschreiber.
(Inzwischen ist die Edition bei Band 25 / 1873 angekommen)
Besprochen in DLR Kultur am 2.12.2011