Mythos Mozart

Mythos Mozart

Rätselraten um Mozarts ominöses Lebensende


Ein Essay im Mozartjahr 2006




Vor zweihundertfünfzig Jahren, am 27. Januar 1756, wurde er in der Getreidegasse in Salzburg geboren, vor mehr zweihundertvierzehn Jahren ist er in der Wiener Rauhensteingasse gestor-ben, der meistgespielte, meistgeliebte „Klassiker“ der Welt. Alle lieben Amadeus, den Genius, das apollinische Wunderkind, den dionysische Rebell, den Urahn aller Popstars, auf deren For mat er inzwischen vielfach reduziert wurde, im Film und auf der Bühne. Die „Amadeus“-Wel-le hat ihn vollends zur griffigen Kultfigur erstarren lassen. Seit dem Mozart-Jubiläum 1956 ist die Fülle an Mozartbüchern und -Schallplatten (CDs) ins Unüberschaubare angewachsen. Aus Anlass seines zweihundertsten Geburtstages hat die globalisierte Mozart-Pflege eine nie ge-kannte, weltweite Flutwelle von Mozart-Festivals und Mozart-Kongressen ausgelöst. „Mozart-Städte“ versuchen sich gegenseitig zu überbieten seither. Mozart und kein Ende…   


Und doch ist Mozart wie kein anderer Komponist (außer Richard Wagner und Jacques Offen-bach) missverstanden, vereinnahmt, verharmlost, beweihräuchert und zum Mythos erhoben worden. Die absurdeste Ikone der Popularisierung Mozarts ist wohl die Mozartkugel. Ob sie in Salzburg, in Wien oder in München erfunden wurde, worüber bis heute gestritten wird, ist einer-lei. Das Genie als goldpapierverpacktes Betthupferl. Auch einen Blaufräkischen mit dem klingenden Namen „Mozartperle“ gibt es, zu schweigen von Mozartsternen, Mozarttalern, Mozartstangen, Mozarttrüffeln, Mozartecken oder Mozartbomben … Nicht nur die Öster-reicher haben „unser Mozartl“ domestiziert und reduziert auf leicht goutierbare Formate. Ob in unzähligen unsäg­lichen biographischen Annäherungen, ob in  Stein auf gefällige Denkmals-größe reduziert, ob im Konzertsaal und auf CD auf leicht goutierbare "Stilmöbel-Musik" zu-rechtgestutzt: Viel ist gesündigt worden am Schöpfer der  „Kleinen Nachtmusik“.


Seine Musik wurde und wird noch immer häufig – ungeachtete ihrer Intelligenz, subversiven Sprengkraft und Aktualität - aufs Format der Verhunzung zurechtgestutzt zum Zwecke des romantisch besänftigenden Feierabend-Plaisirs für den bürgerlichen Mittelstand und seine gemütvolle Wertschätzung der „most beautiful classics“. Gewissenlose Musiker, ahnungslose Musikmanager und lediglich am Kommerz interessierte  Musikindustrie leben davon. 


Natürlich haben die Neue Mozart-Ausgabe und die so genannte „Historische Aufführungs-praxis“ viel bewirkt. Mutige, gewissenhafte Musikwissenschaftler haben so manches Miss-verständnis des romantisch-verkitschten, reaktionären Mozartbildes des 19. Jahrhunderts, das bis weit ins zwanzigste hinein vorherrschend war, zur Sprache gebracht, ins rechte Licht ge-rückt, korrigiert, ja ausgeräumt.  Es hat sich viel getan in Sachen Mozart, zweifellos. Aber in der Mozartbiographik ist bis heute manches Unbehagen zu beklagen wie eh und je, vor allem das Lebensende Mozarts betreffend, in dem Mozart gegen sein Vergessenwerden in Wien ankämpfte, neue Märkte im übrigen Europa erkannte, sich mit Optimismus einem kreativen Schub an Produktivität hingab und dann plötzlich unter nie geklärten Umständen starb und aus der Welt geschafft wurde. 


Wie wir heute wissen, war Mozart 1787, vier Jahre vor seinem Tod, als Kaiser Joseph II. ihn per Dekret zum „königlichen Kammermusicus“ erhob, durchaus schon eine Berühmtheit, nicht unbedingt auf ein Hofamt angewiesen und alles andere als verarmt. Er hat mehr verdient als der Hofdichter Da Ponte, nur unwesentlich weniger als Hofkappellmeister Salieri und als Kammerkomponist des Kaisers blieb ihm genügend Freiraum, um als Pianist, Komponist und Lehrer frei unternehmerisch tätig zu sein. Er war auf dem besten Wege, sich als europäische Institution zu etablieren, nicht mehr als Wunderkind, aber fast schon als anerkannter großer Komponist. Eben dieses eigenwillig unangepasste Nicht-mehr-und-noch-nicht war wohl das, was seine Zeitgenossen faszinierte und zugleich irritierte. Verkannt wurde Mozart keinesfalls, er polarisierte nur, war damals so unfassbar wie heute. Aber seine Musik war gefragt. Nicht nur in Prag, sondern auch dort, wohin seine letzten Reisen führten, in Leipzig und Dresden, Berlin und Frankfurt, Mannheim, Augsburg und München, wenn auch bei unterschiedlicher Wertschätzung, Bezahlung und Nachfrage.


In seinem letzten Lebensjahr verdiente Mozart, nachweislich mehr als ein Arzt, Universitäts-professor oder Pfarrer. Sein jährliches Grundeinkommen betrug 4800 Gulden, eine damals be-trächtliche Summe. Mozart wurde im Frühjahr 1791 Adjunkt des greisen Domkapellmeisters von St. Stephan, Leopold Hoffmann, mit der Zusicherung der Kapellmeisternachfolge. Noch wenige Monate zuvor hatte er noch Silbergeschirr und Schmuck Constanzes versetzen müssen, um die Reise nach Frankfurt finanzieren zu können.


Im Jahre 1791 hatte er genügend Aufträge, gab Konzerte, erhielt Honorare zugesandt und war wieder kreditwürdig. Warum Mozart auf Angebote des Konzertunternehmers Salomon, der Haydn für zwei Jahre nach London lockte und Mozart ähnliche Avancen mit Aussichten auf traumhafte Einnahmen machte, nicht reagierte, wissen wir nicht. Auch ist es unverständlich, dass Mozart das sehr lukrative Angebot des englischen Opernunternehmers Robert May O´Reilly ausschlug, nach London zu kommen, um dort Opern zu komponieren. Mozart wollte gamz sicher weg von Wien, England reizte ihn ohne Frage. Andererseits war sein Zuhause nun mal die Wiener Rauhensteingasse nahe des Stephansdoms. Dort verbrachte Mozart sein letztes Lebensjahr, abgesehen von einer Reise nach Prag und etlichen Aufenthalten in Baden bei Wien, wo Mozarts Gattin Constanze sich mehrfach wegen eines Fußleidens zur Kur aufhielt. Ihretwegen, so ist zu vermuten, wollte er sich nicht zu einem monatelangen, womöglich jahrelangen Englandaufenthalt entschließen. Das längere Getrenntsein von seiner Frau fiel Mozart nicht so leicht wie Haydn, der nicht im Traume daran dachte, seine Frau mit auf eine seiner Reisen mitzunehmen. Was für das Verhältnis Mozart-Constanze und gegen das der Ehe Haydns spricht.


Mozart blieb also in Wien. Er hatte genug zu tun. Für die Ballmusik hatte er als Hofkomponist viel Tanzmusik zu schreiben. Er komponierte zwei Opern,  "Zauberflöte" und Titus", daneben viel Kammermusik (Lieder, Klaviermusik), Kirchen- und Chormusik, auch größere Solokon-zertstücke wie sein Klarinettenkonzert, und er gab Konzerte. Sorgen bereitete ihm allerdings ein dubioses „Geschäft“, von dem er seiner Frau mehrfach berichtete, ohne je zu sagen, worum es sich handelte.


Nun lebte die Familie Mozart immer auf großem Fuße, wohl immer über ihre Verhältnisse, Mozart war ein Genussmensch und ein Spieler, aber was Mozart mit seinem Geld tatsächlich anstellte, weshalb er sich hoch verschuldete, bleibt bis heute ein Rätsel wie sein plötzliches Lebensende.


Es mangelt nicht an Mozartliteratur, auch nicht an Darstellungen von Mozarts Lenben. Doch kein Ereignis aus Mozarts Biographie ist nebulöser, phantasievoller, unbefriedigender über-liefert als Sterben, Tod und Beerdigung. Selbst namhafte Mozartbiographen befleißigten sich mangels exakten Wissens und zuverlässiger Quellen mehr oder weniger unglaubwürdiger Ausflüchte, Rekonstruktionsversuche oder Erfindungen.


Die Legende, dass ein eigenartig gewandeter Bote eines unbekannten Auftraggebers, ein „grauer Bote“ im Juli 1791 wie ein Abgesandter aus einer anderen Welt an Mozarts Tür er-schienen sei und ihn im Auftrag eines anonym bleiben wollenden Bestellers mit der Kompo-sition einer Totenmesse beauftragte, wird von fast allen Biographen Mozarts überliefert. Auch dass es danach bergab gegangen sei mit Mozarts Gesundheit. Dass dieser graue Bote Franz Anton Leitgeb hieß und ein Abgesandter des musikliebenden Grafen Walsegg war, dessen Frau im Frühjahr verstorben war, weiß man heute. Walsegg wollte sich selbst als Komponist dieses Requiems ausgeben. Im Augenblick der Bezahlung Mozarts hätte das nach damaligen Gepflogenheiten seine Ordnung gehabt. 


Gegen Ende November 1791 legte sich Mozart krank zu Bett, von dem er nicht mehr aufste-hen sollte. Noch auf seinem Todeslager, so wird berichtet, arbeitete er fieberhaft an dem Werk, das er nicht unvollendet lassen wollte. Am 4. Dezember, dem Tag vor seinem Tod, probte er angeblich mit einigen Freunden daraus das Lacrimosa, elf Stunden später war sein Körper dem „hitzigen Frieselfieber“ erlegen. Noch wenige Minuten zuvor habe er mit seiner Frau heiter geplaudert. Baron van Swieten, ein reicher Bekannter und Mäzen Mozarts, ordnete aus Grün-den der Sparsamkeit ein Begräbnis 3. Klasse an. Am 6. Dezember fand die Trauerfeier statt. Constanze, die gleich nach dem Tode ihres Gatten erkrankte, konnte später, als die Grabstelle ihres Mannes aufsuchen wollte, keinerlei Spuren mehr finden. So endete bekanntlich das Leben dieses Genies. Oder war alles ganz anders?


2004 hat der Kölner Mozart-Privatgelehrte Ludwig Köppen das Rätsel um Mozarts Tod zum Thema eines Buches gemacht,[1] in dem er diese Frage an den Beginn stellte. Er will sich nicht zufrieden geben mit den überlieferten Behauptungen und Vermutungen um Mozarts Tod. Tatsächlich verschleiern ihn alle namhaften Mozartbiographen mehr oder weniger, ob Otto Erich Deutsch, Erich Schenk, Egon von Komorzynski, Franz Xaver Niemetschek, Friedrich Rochlitz, Georg Nikolaus Nissen, der spätere Gatte Constanzes, ob Otto Jahn, Carl Bär oder Volkmar Braunbehrens. Alle Biographen sahen sich der Verlegenheit ausgesetzt, über die ge-naue Todesursache Mozarts und das Verschwinden seiner Leiche nur Mutmaßungen anstellen zu können. Wo sie nichts wussten, halfen sie sich mit Vermutungen und nebulösen Formu-lierungen.


Sie alle sind sich einig, dass Mozart, der immerhin von zwei bedeutenden Ärzten Wiens be-treut wurde und schlimmste Vergiftungssymptome, darunter totales Nierenversagen aufwies, nicht in ein Krankenhaus gekommen sei, dass Mozarts Leiche, nach einem Tag Aufbahrung im Sterbehaus von Unbekannten weggeschafft worden, angeblich für nur einen Tag in eine Sei-tenkapelle von St. Stephan, die Kruzufixkapelle gebracht worden und am Abend, nach Ein-bruch der Dunkelheit in den 5 Kilometer vor Wiens Mauern gelegenen St. Marxer Friedhof überführt worden sei. Weder Mozarts Gattin, noch Verwandte, Freunde, Kollegen oder die Brüder der Freimaurerloge, der Mozart angehörte, hätten sich, so liest man übereinstimmend, um Mozarts Tod und Beerdigung gekümmert. Merkwürdig für einen der aufsehenerregendsten Komponisten seiner Zeit!


Es war Baron van Swieten, einflussreicher Hofbeamter, und einer der reichsten Mäzene und Freunde Mozarts, der sich  um Mozarts Begräbnis kümmerte. Ausgerechnet ihm war Mozart  allerdings nur ein Begräbnis dritter Klasse wert? Mozarts Witwe Constanze wurde angeblich sofort nach Mozarts Tod – von wem auch immer - zu einer ihr offensichtlich wenig oder unbe-kannten Familie gebracht. Und dann verlieren sich die Spuren. In aller Anonymität und Eile wurde Mozart auf dem St. Marxer Friedhof verscharrt, in einem Reihengrab. Es erhielt weder Kreuz noch Grabstein, blieb unauffindbar für alle, die nach ihm suchten, bis heute. Die Ze-itungen schwiegen, die Witwe Constanze schwieg, sie besuchte den Friedhof ihres Mannes erst 17 Jahre nach seinem Tod zum ersten Mal.  Da war bereits keine Spur seines Grabes mehr aufzufinden.


Man muss kein Kriminalist sein, um die Tatsächlichkeit dieser Zusammenhänge in Frage zu  stellen. Ludwig Köppen wagte eine Hypothese. Sie ist, wie er selbst zugesteht, nicht neu. Schon Wolfgang Hildesheimer hat den Verdacht geäußert, aber Köppen geht ihm mit krimina-listischem Spürsinn nach: Mozart habe intimen Verkehr mit einer Frau gehabt, „die an Lues erkrankt ist. Nach etwa 2 Wochen treten die Symptome des Primärstadiums auf, sie sind weder zu übersehen noch zu verkennen. Mozart behandelt sich lokal mit quecksilberhaltigen Salben. Dies führte er in Prag fort, wo er mit Constanze und Franz Xaver Süßmayer am 28. August eintrifft." Franz Xaver Niemetschek, der mit Mozart in Prag Umgang pflegte, bestätigte in seinem Mozartbuch diesen Verdacht:  „Schon in Prag kränkelte und medizinierte Mozart unaufhörlich; seine Farbe war blaß und die Miene traurig."


Das in der Berliner Gemäldegalerie befindliche, Mozartporträt Johann Georg Edlingers, das auf der letzten Münchenreise Mozart entsand, das einen auffällig aufgedunsenen, krank wir-kenden Mozart im grünen Rock, mit Rüschenkragen und grauer Perücke zeigt, erweist sich vor der vermuteten Krankengeschichte Mozarts einmal mehr als das mutmaßlich letzte authen-tische Porträt Mozarts. Mozarts Gesundheitszustand verschlechtert sich nach seiner Rückkehr nach Wien – so Köppen - infolge zunehmender Quecksilbervergiftung dramatisch. 


"Jedenfalls kommt es bei Mozart zu einer irreversiblen Schädigung des Nierenparenchyms, in deren Gefolge Nierenversagen mit komplett eingestellter Harnproduktion und fortschreitender Harnvergiftung auftreten. Mozart ist mit keinem damals vorhandenen medizinischen Mittel zu retten." Am 20. November wurde Mozart bettlägerig, 15 Tage später stirbt er.


Die Tatsache, dass beide Mozart behandelnden Ärzte, Dr. Closset und Dr. Salaba, Spezialisten für Venerologie und zuständig auch für das Hauptspittal Wiens samt Siechenhaus und Station fürs Venerische, Mozart nicht einlieferten, sondern zuhause qualvoll sterben liessen, eine Verlegenheitsdiagnose vom Frieselfieber stellten, dass Mozart heimlich und anonym beerdigt wurde, verdichtet sich für Köppen zu einer eindeutigen Indizienkette: "Hier ist eine Retuschierung der Wahrheit vorgenommen worden. Die beiden erfahrenen Ärzte lassen den Moribunden  in Ruhe zuhause sterben, was den Vorteil einer Ehrenrettung hat."


Man muß sich fragen: Warum wird Mozart nicht eingesegnet, warum verweigert ihm die Kirche die Sterbesakramente, warum unternehmen die Brüder von der Loge nichts, warum schweigt Constanze auch später zu den Vorgängen? Die entscheidende Frage aber lautet: Warum agiert Gottfried van Swieten so seltsam, reißt alle Formalitäten an sich und lässt Mo-zart in einem anonymen Grab begraben? Immerhin ist er einer der bis dahin spendabelsten Freunde und Auftraggeber Mozarts gewesen, zudem als Präses der Studien- und Bücherzen-surhofkommission, Präfekt der Hofbibliothek und königlicher Stephansritterordenskomman-deur einer der reichsten Männer Wiens. Auch dafür hat Köppen eine Antwort:


"Alles hängt einzig von seiner unglücklichen Tat ab, die darin bestand, daß er Mozart mit dem quecksilberhaltigen Therapeutikum aus dem Vorrat seines Vaters versorgt hat, wozu ihm jegliche Befugnis fehlt. Ein unter Kaiser Joseph dem Zweiten herausgegebener Erlaß schreibt vor, daß Gifte nur von Apothekern abgegeben werden dürfen, die darüber genau Buch zu führen haben. Aus der Sicht eines Strafverfolgers hat Baron van Swieten widerrechtlich Gift weitergegeben. Er steckt in einem Dilemma: Kommt sein Vergehen an den Tag, läßt sich ein Skandal kaum unterdrücken. Vielleicht muß er eine polizeiliche Untersuchung gewärtigen und ist gesellschaftlich ruiniert."


Deshalb, so Köppen, habe der Baron, in Absprache mit dem Hof, vorgesorgt und ein Ver-schleierungs-Szenario entworfen und durchgeführt, das sicherstellte, dass alle pikanten Details geheim gehalten, die Öffentlichkeit ausgeschlossen, dass sein eigener und der Ruf Mozarts unbescholten blieben und Constanze - der dafür materielle Sicherheit versprochen wurde – stillschwieg.  Constanze bekam gleich nach dem Tod ihres Mannes vom Kaiser eine Rente ausgesetzt. Van Swieten wurde noch am Tage von Mozarts Tod sämtlicher Hofämter enthoben.


Köppens Hypothese ist konsequent und in sich schlüssig. Seine Indizienanhäufung ist erdrüc-kend. Aber er liefert keinen einzigen Beweis. Im Übrigen hat bereits 1963 der Mainzer Inter-nist Dieter Kerner[2] Köppens Hypothese von der Quecksilbervergiftung in die Welt gesetzt. Das Gerücht, der angebliche Todfeind Salieri habe Mozart (mit Quecksilber?) vergiftet, hat sich längst als Legende erwiesen. Auch die 1936 von der Ärztin Mathilde Ludendorff vorge-brachte, gewagte These, Freimaurer hätten Mozart ermordet und weggeschafft, da er Logen-geheimnisse verraten habe, ist in ihrer Abstrusität nicht ernst zu nehmen. Oder hat Süßmayr, der Mozartfreund, -Assistent  und -Meisterschüler, der das Requiem zu Ende komponierte, Mozart ermordet? Aus Liebe zu Constanze? Oder war er gar ein Agent Salieris? Oder hat Constanze ihren Ehemann Mozart mit dem Logenbruder Franz Hofdemel betrogen, der aus Eifersucht Mozart vergiftete? Und sich anschließend selbst entleibte. Alle Spurensuchen verliefen im Sande…


Für alle Mozart Kriminalisten und Fährtenleger gilt, was der am 5. Dezember 2004 ver-storbene Mozart-Forscher Helmut Perl in Bezug auf die übrigen Mozartbiographen in seinem kürzlich erschienenen Buch[3] anmahnt: "Nicht ein einziges der als faktisch unvermeidlich und damit unwiderleglich hingestellten und als Tatsachen vermuteten und dargestellten Ereignisse kann belegt werden."


Es bleiben also weiterhin alle Fragen offen. Und Köppens Hypothese bleibt ein - wenn auch faszinierendes und in sich logisches - Gedankenkonstrukt. Was die Syphilis im Wien des acht-zehnten Jahrhunderts bedeutete, hat man anschaulicher nie vermittelt bekommen als in Köp-pens Buch. Insofern schließt das Buch in jedem Fall eine Lücke der Mozart-Literatur. Die Lücke in Mozarts Biographie schließt es nicht. Viele Fragen bleiben offen. Des Rätsels Lö-sung, die 2004 Ludwig Köppen auf dem Titel seines Buches verspricht, sie bleibt in weiter Ferne. Es könnte alles auch ganz anders gewesen sein.


Mozarts Tod ist als Kriminalfall in den letzten Jahrzehnten immer wieder aufgegriffen, neu aufgewickelt und neu gelöst worden. So glaubte etwa 1984 der australische Mediziner Peter J. Davies herausgefunden zu haben, dass Mozart an Streptokokkeninfektion (Schoenlein-Henoch-Syndrom, Nieren­ver­sagen, Gehirnblutung und Bronchpneumonie) gestorben sei. Der Wiener Internist Anton Neumayer widersprach 1987 und diagnostizierte „Akutes Rheuma-tisches Fieber mit dem klinischen Bild einer rezidivierenden rheumatischen Gelenksentzün-dung… mit einhergehendem Zerebralrheumatismus mit Lähmung der wichtigsten Hirn-zentren.“ Als unmittelbare Todesursache müsse jedoch der zwei Stunden vor seinem Tod verordnete Aderlass angesehen werden.


Wie auch immer: Mozart könnte tatsächlich eines ganz natürlichen Todes gestorben sein. Nur warum dieses „schmähliche Ende“ mit rascher Beiseiteschaffung der Leiche, Abführung der Ehefrau Mozarts von Unbekannten (oder waren es wirklich der Freimaurer Joseph von Bau-ernfeld und der Kaufmann Joseph Goldhahn?) an einen unbekannten Ort, mit eiligem Begräb-nis dritter Klasse (ohne Zeugen) auf dem weit außerhalb gelegenen St. Marxer Friedhof in einem anonymen Reihengrab.


Viel spricht für die Hypothese Helmut Perls, der vermutet, dass nach der "Zauberflöte", die er in seinem letzten Buch[4] als chiffrierte Kampfansage eines radikal aufklärerischen Illumina-ten an Adel und Klerus überzeugend dechiffrierte, dass nach dem gewagten „Titus", den die Kaiserin als "porcheria tedesca" bezeichnete, die "Begräbnisreaktion" von Adel und Klerus zum Racheschlag an Mozart ausgeholt habe. Er sei exkommuziert worden und  schließlich, an-geführt vom reaktionären Leopold dem Dritten, der für seine gnadenlose und grausame Hatz auf die Illuminaten bekannt war, unterstützt von den Jesuiten, unter deren starkem Einfluss die Kaiserin stand, anonym unter die Erde gebracht und der Zugriffsmöglichkeit der Nachforschungen der Öffentlichkeit entzogen worden. 


In einer der vielen zum 250.Geburtstag Mozarts erschienenen Biographien hat Maynard Solo-mon allen Erklärungsversuchen den Boden entzogen, indem er kurzerhand der Vermutung Ausdruck verleiht, es sei womöglich Mozarts höchsteigener Wunsch gewesen, anonym, ohne Pomp und Feierlichkeit „mit seinen Menschenbrüdern vereinigt in Staub aufzugehen“[5].   Die einfachste aller denkbaren Erklärungen. Und alle Fragen bleiben offen.


Wie auch immer man die Umstände von Mozarts Tod, mehr noch seiner Beerdigung und der Unauffindbarkeit seines Grabes bewerten, welche Schlüsse man daraus ziehen mag: Das omi-nöse Geschehen um Mozarts schmachvolles Ende (und als solches empfanden es nicht nur die Logenbrüder Mozarts)  ist bezeichnend für das Ende der liberalen Epoche Wiens (unter Joseph dem Zweiten), bezeichnend aber auch für Mozarts Größe und die Irritation, die er schon zu Lebzeiten ausgeübt haben muss.


Das Thema wird die Mozartverehrer auch weiterhin beschäftigen. Sicher ist nur, Mozart starb mit 35 Jahren, 53 Tage vor seinem 36. Geburtstag, am 5. Dezember 1791 nach nur 15-tägiger Bettlägerigkeit. Auch wenn die Umstände seines Begräbnisses rätselhaft bleiben: Die Vorstel-lung, er hätte Beethoven und Schubert womöglich überlebt, ist doch furchtbarer als die Unge-wissheit seiner Todesursache und des Verbleibs seiner sterblichen Überreste. So unfassbar die rebellische Unangepasstheit, die kompositorische Eigenwilligkeit, Intelligenz, Vielseitigkeit und enorme Leistungsfähigkeit des jungen und jung gestorbenen Genies Mozart  ist, so unfassbar bleibt sein Verschwinden aus dieser Welt. Ist das nicht vielleicht gut so?





 

 


[1] Ludwig Köppen: Mozarts Tod. Ein Rätsel wird gelöst. Köln, 2004



[2] Dieter Kerner. Krankheiten großer Musiker. Stuttgart 1963



[3] Helmut Perl: Der Fall Mozart. Aussagen über ein mißverstandenes Genie. Mainz 2005



[4] Helmut Perl: Der Fall Zauberflöte. Zürich und Mainz 2000



[5]  Maynard Solomon: Mozart. Ein Leben. Kassel 2005