Münkler. Marx Wagner. Nietzsche


Am Sonntag, 15. August 2021, feiert Herfried Münkler seinen 70. Geburtstag. Viele Bücher des emeritierten Professors für Politikwissenschaft an der Berliner Humboldt-Universität gelten als Standardwerke, etwa «Die Deutschen und ihre Mythen» (2009), das mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet wurde, sowie «Der Große Krieg» (2013), «Die neuen Deutschen» (2016) und «Der Dreißigjährige Krieg» (2017), die alle monatelang auf der «Spiegel»-Bestsellerliste standen. Herfried Münkler wurde vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Wissenschaftspreis der Aby-Warburg-Stiftung und dem Carl Friedrich von Siemens Fellowship. Sein neues Buch "Marx, Wagner, Nietzsche. Welt im Umbruch" übr ein Dreigestirn, das mehr als eine Epoche prägte, erscheint am 14. August 2021. 


Drei Strategen des Umbruchs: Marx, Wagner, Nietzsche


Nur über wenige Gestalten der Weltgeschichte ist so viel geschrieben worden wie über Richard Wagner. Er gehört "neben Friedrich Nietzsche mit Karl Marx, Sigmund Freud und Martin Heidegger zu denjenigen Autoren des deutsch-sprachigen Raumes, die die europäische Geistesgeschichte bis heute am nachhaltigsten beeinflusst haben" Ulrich Müller und Peter Wapnewski haben diese Einsicht als Maxine ihrem Wagner Handbuch (Stuttgart 1986) vorausgeschickt.


Über die ersten drei der Genannten hat nun Herfried Münkler, der emeritierte Erfolgsautor und Politikwissenschaftler , der sich seit Jahrzehnten mit Marx, Wagner und Nietzsche befasste, ein bemerkenswertes, ein kluges Buch geschrieben. Sein Credo: „Jeder der drei ragte auf seine Weise in seinem Gebiet heraus, in Gesellschaftstheorie, Musik und Philosophie, alle drei waren Sterne, die einen langen rotglühenden Schweif hinter sich herzogen.“


Münkler erläutert: „Wagners Idee des Gesamtkunstwerks etwa für die Herangehensweise im Film und in aufeinanderfolgenden Staffeln von Serien, in denen auseinanderlaufende Erzählungen wechselnder Personen oder einschneidende Charakterwechsel der Protagonisten durch poetische wie musikalische Leitmotive zusammengehalten werden; Marx’ Gesellschaftsanalyse, nachdem die neoliberale Ära des Kapitalismus die alten Ungleichheiten erneuert und neue soziale Spaltungen hervorgebracht hat; Nietzsches Vorstellung von individueller Freiheit als Wille zum Ausleben der Bedürfnisse und Neigungen unter… ständig wachsenden massengesellschaftlichen Einschränkungen und Reglementierungen. Unverkennbar weisen diese Gegenwartsbezüge mitsamt der darin enthaltenen Kritik nicht in dieselbe Richtung – wie sie das auch zu Lebzeiten der drei nicht getan haben.“


In neun Kapiteln spannt Münkler einen weiten Bogen, nicht chronologisch-biographisch, sondern ideengeschichtlich: Nähen, Distanzen und Abneigungen der drei Protagonisten des Buches sind sein Thema, aber auch die Beschäftigung mit der Widergeburt der Antik, ihre Herausforderungen durch Krankheit, Schulden uns Selbstkritik. Das Buch erreicht seinen Höhepunkt in Analyse und Darstellung von je unterschiedlicher Religionskritik, Arbeit am Mythos und schließlich der Darstellung von drei Gesellschaftsanalysen, dem Umgang mit den Juden, (Antisemitismus) und schließlich der großen Umsturzprojekte in Musik, Philosophie und Politik.


„Marx, Wagner und Nietzsche als Beobachter, Kritiker und Zeitgenossen des 19. Jahrhunderts – ein Jahrhundert, das eines des Umbruchs war, und zwar stärker noch in mentaler als in materieller Hinsicht. Alle drei haben diesen Umbruch verfolgt, doch die Schlussfolgerungen, die sie daraus zogen, waren sehr unterschiedlich: Marx wollte den Umbruch nutzen, steuern und bestimmte Ziele erreichen; Wagner wollte ihn in großen Teilen rückgängig machen, um zu früheren Verhältnissen zurückzukehren, solchen zumal, die eher moralökonomisch geprägt waren, als dass sie den Gesetzen des Marktes unterlagen; Nietzsche dachte in noch weiter gespannten Zusammenhängen, und die «Umwertung aller Werte», auf die er hinauswollte, sollte zu einer vorchristlichen Werthaltung zurückführen.“


Das Werk der drei - so weiß der Autur - ist in den letzten Jahrzehnten neu erschlossen und in erheblich veränderter Form der Öffentlichkeit dargeboten worden – bei Marx und Nietzsche durch Neueditionen, die sich an wissenschaftlichen Standards orientieren, bei Wagner durch Neuinszenierungen auch und gerade in Bayreuth, also am Ort der Traditionswahrung selbst. Bei den Neueditionen sind die nachträglichen Bearbeitungen rückgängig oder zumindest sichtbar gemacht worden. Was zum Vorschein kam, war kein gänzlich anderes, aber doch deutlich verändertes Werk.


Zwar ein wissenscaftliches, aber ein ungewöhnliches Buch hat Münkler geschrieben: Für die Form seiner Darstellung wählte er „ein weitgehend imaginäres Gespräch zwischen Wagner, Marx und Nietzsche, weil die drei, sieht man einmal von dem engen Kontakt zwischen Wagner und Nietzsche ab, der nach acht Jahren abrupt beendet wurde, kaum voneinander Kenntnis genommen haben. Marx hat sich einige Male über Wagner geäußert, Wagner über Marx hingegen nie, und Nietzsche hat sich weder mit Marx noch hat sich Marx mit Nietzsche auseinandergesetzt.“ Die Darstellung schreitet daher in ihren neun Kapiteln nicht von Lebensabschnitt zu Lebensabschnitt oder von einem historischen Ereignis zum nächsten voran, sondern umkreist die drei zwiebelartig, um von Schale zu Schale näher an ihr Denken heranzukommen. 

 

Münkler geht es aber auch um die Knotenpunkte in den Biographien von Marx, Wagner und Nietzsche, in denen die Biographien und die Denkweisen ineinander verschlungen sind. Damit sind Ereignisse gemeint, die für alle drei von besonderer Bedeutung waren und bei denen sich ihre Lebensläufe kreuzten oder überschnitten: „Der August 1876 etwa ist ein solcher «Knoten»; in Bayreuth fanden die ersten Festspiele statt, auch die Revolution von 1848/49, an der Wagner und Marx aktiv beteiligt waren. Nietzsche, ein auf dem Land aufwachsendes Kind im Alter von gerade vier Jahren, hat von all dem wenig mitbekommen. Die Revolution von 1848/49 wurde zu einem der großen Wendepunkte in Wagners und Marx’ Leben – beide gingen nach dem Scheitern der Revolution gezwungenermaßen ins Exil; für Nietzsches Biographie blieb sie folgenlos. Ein weiterer «Knoten» ist beispielweise der Antisemitismus, mit dem alle drei zu tun hatten, als Gefolgsleute der aufkommenden Judenfeindschaft wie als deren Gegner (Nietzsche)."


Zurecht betont Münkler, dass aber auch und gerade in dieser Angelegenheit die Sache alles andere als einfach sei. Es geht in seiner klugen wie belesenen Arbeit um eine Epoche: Die Lebenszeit von Wagner, Marx und Nietzsche fällt ins 19. Jahrhundert. Alle drei waren also Menschen des 19. Jahrhunderts. Marx und Wagner starben im Jahr 1883, Wagner in Venedig, Marx in London. Nietzsche starb im Jahr 1900. Alle drei waren Menschen des 19. Jahrhunderts und alle drei hatten ihre Musen und Mitarbeiter, Inspiratoren wie Verfälscher:  Friedrich Engels, Cosima Wagner (geborene Liszt) und Elisabeth Förster-Nietzsche.


Münkler beschreibt anhand dreier Repräsentanten eine Epoche der Revolutionen, die die politische Verfasstheit Europas grundlegend umgestalteten; es war zugleich eine Ära der Industrialisierung, die das Leben der Menschen in Westeuropa mindestens ebenso veränderte wie die politischen Revolutionen. Es war eine Ära der Umwälzungen und der Verwandlung der Welt. „Die Erfahrung von Elend und Ausbeutung sowie massenhaftem Pauperismus, den weder gesellschaftliche Mildtätigkeit noch massenhafte Auswanderung zu lindern vermochten, wie sich das Hegel noch in seiner Rechtsphilosophie vorgestellt hatte, stand neben der Vorstellung von der Wiederkehr des Goldenen Zeitalters, einer Zeit unbegrenzten Glücks der Menschheit. Diese konträren Erfahrungen konnten sowohl in der Perspektive des Niedergangs als auch der des Fortschritts gefasst werden. Wagner und Nietzsche begriffen den Umbruch als Niedergang, den sie aufhalten und umkehren wollten; Marx hingegen sah in ihm den Beginn eines nie dagewesenen Fortschritts, den es zu beschleunigen galt. So wurde das 19. Jahrhundert zu einer Epoche des Umbruchs. … Alle drei, Marx, Wagner und Nietzsche, haben versucht, sich auf dieses Jahrhundert einen Reim zu machen, seine Veränderungen auszuloten, die aus ihnen erwachsenen Perspektiven zu beschreiben und Träger der Entwicklung beziehungsweise Gestalter des Wandels zu finden.“


Das Denken der drei wird bei Münkler nicht auf ein bestimmtes Thema fokussiert oder verengt, sondern als Rundumblick behandelt. Dabei treten die Unterschiede deutlich hervor: „Marx hat versucht, systematisch zu denken, wenngleich er selbst kein System geschaffen hat (das haben erst seine Epigonen getan); Nietzsche hat das System wie das Systematische seit Ende der 1870er Jahre strikt abgelehnt und das stilistisch in seiner Vorliebe für Aphorismen zum Ausdruck gebracht; Wagner schließlich hat mit den variierenden Leitmotiven, die das Geschehen auf der Bühne in große Zusammenhänge einbetten, eine Polyperspektivik entwickelt, die ebendieses Geschehen vielfältig ausdeutbar macht.“ Er hat gewissermaßen die Freudsche Psychoanalse im Musikdrama vorweggenommen.


Durch die Parallelisierung geraten Marx, Wagner und Nietzsche in die Beleuchtung durch den je anderen, aber ebenso auch in dessen Schatten, weiß Münkler, aber „durch beides, Licht wie Schatten, können wir sie genauer und deutlicher erkennen.“


Aufschlussreiche Anmerkungen, ein fabelhaftes Literaturverzeichnis und ein sehr nützliches Namensregister ergänzen das herausragende, mit luzider Sachkenntnis gut geschriebene, in Details wie im Großen und Ganzen erkenntnisreiche Buch von 720 Seiten.


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