Le Postillon de Lonjumeau Frankfurt

Fotos: Barbara Aumüller


Eine Sternstunde der Abkehr vom Regisseurstheater:

Adolphe Adams "Le Postillon de Lonjumeau" in Frankfurt am Main
 
Gesehene Aufführung: 9.4.2025
 


Adolphe Adams launige Opéra comique avancierte bereits kurz nach ihrer erfolgreichen Pariser Uraufführung 1836 zum internationalen Kassenschlager: Man pfiff die eingängigen Melodien auf den Straßen der europäischen Hauptstädte und erzählte sich die Pointen der gesprochenen Dialoge in den Schenken. Sogar Richard Wagner summte hin und wieder das berühmte »Postillon-Lied« mit dem spektakulären hohen D vor sich hin, wenn er nachts nicht schlafen konnte. Die Partitur des heute weitgehend vergessenen Meisterwerks der musikalischen Komödie wartet nicht nur mit hohen Spitzentönen und anspruchsvollen Koloraturen, sondern auch mit geschickt verflochtenen Ensemble- und Chornummern auf.


Die Tiroler Festspiele Erl haben das Stück im Dezember 2021 ausgegraben und auf die Bühne gebracht. Die Oper Frankfurt hat diese Produktion im März 2025 übernommen. Man muss dankbar dafür sein, denn es ist eine exemplarische Inszenierung, ohne jede Aktualisierung oder Überschreibung. Das Stück ist verortet in der Zeit, in der es spielt, im Spätbarock, um nicht zu sagen Rokoko. Dafür hat Kaspar Glarner ein geradezu phänomenales Bühnenbild entworfen., wie man es heute nur noch selten sieht: Er hat eine barocke hölzerne Guckkastenbühne samt beweglicher Bühnenmaschinerie und (barocken) gemalten Kulissen nachbauen lassen, der von Bühnenarbeitern in historisierender Kostümierung um die eigene Achse gedreht werden kann. So etwas sah man zuletzt in Stefan Herheims Inszenierung des Händelschen „Xerxes“ 2012 an der Komischen Oper Berlin. Das war eine Sensation, obwohl Herheim sich kostümlich einige ironische Freiheiten der Überzeichnung gestatte. Kaspar Klarner (der auch die Kostüme entwarf) wartet hingegen mit einem historisch akkuraten Rokoko-Kostümfest auf, wie man es heute im Theater kaum mehr erlebt. Es ist die reinste Augenweide. Im Programmheft schreibt Kaspar Klarner zurecht: „Es würde dem Stück nicht weiterhelfen, wenn der Postillon als moderner Paketbote auftreten würde“ (etwa als Paketträger in DHL-Uniform). Klarner hat mit seiner Bühne dem Regisseur Hans Walter Richter eine ideale Spielfläche zum bewussten Verzicht auf „Gesellschaftskritik“, kritische Überbauten und zeitliche Verlagerungen aus „brennender Aktualität“ oder das „Hinterfragen von Konventionen“ gebaut. Damit widersetzt sich diese Produktion dem inzwischen gängigen Regisseurstheater, wie man es allerorten sehen darf (muss).


2010 sah man in Rom (aus purem Geldmangel) eine Tosca in den noch erhaltenen gemalten Uraufführungskulissen des Jahres 1900 von Adolf von Hohenstein. Auch das war ein bewusster Akt der Abkehr vom sogenannten „Regietheater“. Altbacken, konventionell oder verstaubt wirkte das in Rom so wenig wie heute in Frankfurt am Main. Eher war es der schlagende Beweis, dass man Opern auch heute noch so belassen (zeigen) kann, wie sie von Komponisten und Librettisten gemeint und gewollt waren, auch und gerade szenisch.


Hans Walter Richter jedenfalls gelingt in Frankfurt jedenfalls eine bezaubernd liebevolle, heitere, historisch korrekte und überzeugende Animation einer der besten (wenn auch oft verkannten) französischen Spielopern aus unruhigen Zeiten Louis Phillips.
Im Jahr 1836 entstand Adolphe Adams Oper „Le Postillion de Lonjumeau“, in der es um Liebe und Kunst, Vertrauen und Ehrlichkeit geht. Sie spielt im Ancient régime, im Jahr 1756. Eine Geschichte aus der »guten alten Zeit« der Postkutschen und Reisen zu Pferd. Das war schon damals pure Nostalgie. Die Wirklichkeit gehört jedoch bereits der Ausdehnung des Eisenbahn-Netzes.
Zur Handlung: Am Tag seiner Hochzeit erhält der Postkutscher Chapelou ein unschlagbares Angebot: Der Intendant der Royalen Oper, der ich mit seinem Postkutscherlied hörte, will ihn auf der Stelle für die »kleinen Belustigungen« des französischen Königs abwerben. Er begegnet ihm während einer Reparaturpause seiner Kutsche im ländlichen Lonjumeau, südlich von Paris. Chapelou, so heißt der Postillon, hat sich zwar gerade frisch vermählt, zugunsten einer Gesangskarriere in Paris lässt er sich allerdings überreden, seine Braut zu verlassen. Zehn Jahre später ist sie – die Chapelou immer noch liebt - durch die Erbschaft ihrer Tante zu Wohlstand gekommen. Sie sucht Chapelou in Paris, wo er inzwischen zum Star des königlichen Opernensembles aufgestiegen ist. Er findet erneut Gefallen an ihr, ohne sie zu erkennen. Um sich zu rächen bringt sie ihn dazu, sie unter neuem Namen erneut zu heiraten. Ihr Gatte wird daraufhin der Bigamie angeklagt, worauf die Todesstrafe steht. Dem Strick entgeht er nur durch die Bekanntgabe der Tatsache, dass er zwar zweimal geheiratet hat, jedoch dieselbe Frau.
Diese Handlung wird Eins zu Eins erzählt, mit den opernhaften Mitteln der Entstehungszeit des Stücks, nicht ohne Ironie, Humor und Witz, und mit stückinternen parodistischen Seitenhieben auf die Kunstform der Oper.
Hans Walter Richter hat das Stück humorvoll, aber nicht übertrieben komisch in Szene gesetzt, hat seine Geschichte ernst genommen und nachvollziehbar erzählt, mit souveräner Personen- und Chorregie. Der Chor der Oper Frankfurt, der viel zu tun hat in dem Stück, spielte und sang vorzüglich unter Leitung von Álvaro Corra Matute.(Choreographie Gabriel Wanka)


Sängerisch präsentiert sich der Abend hochkarätig. Der weltweit gefeierte Tenor Francesco Demuro singt einen souveränen Chapelou/Saint-Phar, selbst seine gefürchteten hohen Ds kommen wie selbstverständlich. Die irische Sopranistin Ava Dodd, die in der gesehenen Vorstellung die Madelaine (alias Madame de Latour) sang, wartete mit makellos geführter, schöner Stimme auf. Barnabey Rea sang einen stimmgewaltigen Bijou/Alcindor. Der amerikanische Bariton Jarrett Porter sang einen überzeugenden Marquis de Corcy, der neuseeländische Bariton Morgan -Andrew King einen noblen Bourdon. Wolfgang Gerold als König Ludwig XV und Gabriel Wanka als Rose (en travestie) vervollständigten ein formidables Ensemble.


Einen Einwand gibt es allerdings. Man gestattet sich einen Eingriff in die musikalische Substanz des Stücks. Im letzten Akt stimmt Chapelouo alias Saint-Phar (so sein Name als gefeierter Sänger) plötzlich ein Zitat aus Wagners „Lohengrin“ an („Das süße Lied verhallt. Wir sind allein, zum ersten Mal allein, seit wir uns sahn…“), während auf der Barockbühne ein Schwan durch die Wellenmaschinerie gezogen wird. Doch darf dies als augenzwinkernde Reverenz an Richard Wagner verstanden werden, der das Postillonlied Adams besonders liebte.
Der japanische Dirigent Takeshi Moriuchi leitet den Abend frisch drauflosgehend, elegant und mit Freude an der Musik Adams und den Sängerdarbietungen, die er sensibel einbettet in eine schwungvolle Interpretation der Opéra comique.


Es gibt nur noch eine weitere Aufführung dieser Ausnahmeproduktion. Man sollte sie sich nicht entgehen lassen!


Besprechung in: Der Opernfreund