Neue Chronik des Gewandhausorchesters

Imposante Gesamtdarstellung der Geschichte der (neben der Dres-dner Staatskapelle) bedeutendsten und traditionsreichsten mitteldeut-schen Musikinstitution. 


Aber auch eine profunde Chronik der Leipziger Musikgeschichte schlechthin.

Claudius Böhm: Neue Chronik des Gewandhausorchesters

Kamprad Verlag. 408 Seiten 


Band 1: 1743-1893


Aus Anlass seines 275. Bestehens des Leipziger Gewandhaus­or­chesters wartet der Kamprad Verlag mit einer zweibändigen Dokumentation auf, die den Weg des Orchesters von seinen Anfängen bis zur Gegenwart nachzeichnet. Autor dieser umfangreichen Publikation ist der Gewandhausarchivar Claudius Böhm.  Der erste Band, der mehr als 400 Seiten stark ist und bis zum Jahre 1893 reicht, ist nun erschienen.

 „In einem Leipziger Privathaus kommt eine neue Konzertgesellschaft zu ihrem ersten ‚Großen Concert‘ zusammen. Es ist eine gemischte Gesellschaft, keine rein bürgerliche. Und ihr Kon-zertunternehmen ist kein bürgerliches, kein zum Wohl des Gemeinwesens errichtetes, sondern ein elitäres.“

Es waren 16 Adlige und Bürger im Alter um die 27 Jahren, darunter Freimaurer, Stadtpfeifer, Kunstgeiger und Kirchenmusiker, die sich 1743 zusammentaten, um ge­meinsam zu musi-zieren.  Sie mussten einen hohen Jahresbeitrag zahlen. Ein mehr­­köpfiges außermusikalisches Management verwaltete dieses „Leipziger Concert“. Es war die Geburtsstunde des späteren, bürgerlichen „Gewandhaus­orchesters“.


Claudius Böhm zeichnet in 14 Kapiteln - in Form einer strengen, übersichtlichen Chronologie  - akribisch die wechselvolle Geschichte der Entwicklung des Orches­ters nach, von den An-fängen bis 1893, dem Datum seines 150. Jubiläums. Es ist der erste Band einer Gesamtdar-stellung der Orchestergeschichte. Der zweite Band, der bis zur Gegenwart reichen soll, wird im November dieses Jahres erscheinen. Man erfährt bei Böhm zahlreiche, wenig bekannte  Fak-ten, Tatsachen und Urteile von Zeit­ge­nossen über Dirigenten, Musiker und Sänger, die in der Leipziger Musik­ge­schich­te eine Rolle spielten, aber auch Details über die wechselnden Orga-nisations­formen, Programmgestaltungen und Aufführungsorte der Stadt. Man kann sie in über 200 historischen Photographien und Graphiken in Augenschein nehmen: die Univer­si­täts­kirche am Grimmaschen Tor und das Gasthaus "Drey Schwanen", in der am 3. Januar 1751 erstmals in Leipzig im Rahmen der „Drey-Schwanen-Konzerte“ Hän­dels Feuerwerksmusik aufgeführt wurde,

Aber auch die Thomaskirche, das Schauspielhaus auf der Ranstädter Bastei,(dort musste das Orchester bis 1864 Zwischenaktmusiken spielen), das alte Gewand­haus, in das man 1781 ein-zog, Altes und Neues Theater, in dem bis heute das Orchester Dienst tut, das „Schützenhaus“, die imposante „Albert­halle“, die Buchhändlerbörse und der Marktplatz, wo man am 2. Juni 1840 mit ei­gens dafür komponierten Werken von Mendelssohn   Bartholdy  400 Jahre Buch­druckerkunst feierte, werden exquisit abgebildet.  


Man hatte Mendelssohn 1835 in zähen Verhandlungen nach dem Motto „Koste es was es wolle“ zum Gewandhauskapellmeister ernannt. Stadtrat Porsche hatte die Devise ausgegeben:

 „Wir müssen in Leipzig einen tüchtigen Mann haben, und zwar den besten in Deutschland.“

Zweifellos war Mendelssohn der herausragendste Gewandhauskapellmeister bis heute. Der Band von Claudius Böhm ist nicht nur eine Chronik der Geschichte der Gewandhauska­pell­meister, sondern auch der vielen Künstler, die in Leipzig zu Gast waren und folgenreiche Eindrücke hinterließen. Alles, was in der Musikwelt Europas Rang und Namen hatte, kam nach Leipzig schon im 18., mehr noch im 19. Jahrhundert:  Dirigenten, Musiker, Sänger und Komponisten. Auch Ludwig van Beethoven.


Am 18. Februar 1808 brachte Ludwig van Beethoven in Leipzig sein „Tripel­kon­zert“ zur Ur-aufführung. Aber auch Louis Spohr, Giacomo Meyerbeer, Johannes Brahms, Franz Liszt, Hec-tor Berlioz, Pablo de Sarasate, Richard Wagner, Robert Schumann und viele andere waren in Leipzig zu Gast und prägten seine herausra­gende Musikgeschichte. Leipzig mit seinem Ge-wandhausorchester war im 19. Jahr­hundert in deutschen Landen die Musikmetropole schlecht-hin. Die opulente Publi­kation lässt keinen Zweifel daran. Sie veranschaulicht ein differen­ziertes Ge­samt­bild der ersten 150 Jahre des bedeutendsten Orchesters im mittel­deutschen Zentrum bürgerlichen Musiklebens. Man darf auf den zweiten Band gespannt sein.


Band 2:1893-2018


Nachdem im vergangenen Jahr in einem ersten Band die Jahre 1743-1893 behandelt wurden, ist nun der ergänzende zweite Teil der opulenten Veröffentlichung erschienen, der bis zur Geg-en­wart reicht. Damit rundet sich eine profunde Gesamtdarstellung der Geschichte nicht nur des Gewand­haus­orchesters und seiner Kapellmeister, sondern auch der Leipziger Musikgeschichte schlechthin. Claudius Böhms Chronik wird eingerahmt von zwei „Jubiläen“, dem verspätet gefeierten 150. der Leipziger Abonnementskonzerte von 1893 und dem 275. des Gewand-hausor­chesters mit der Amtseinführung Andris Nelsons als neuem Gewandhauskapellmeister am 23. Februar 2018. Das Buch ist eine Zeitreise (in 14 Kapiteln) vom Fin de Siècle durch zwei Weltkriege und zwei deutsche Diktaturen bis heute. Auf den ersten Seiten des schwer-gewichtigen Buches begegnet man einem bemerkenswerten Konzert: Johannes Brahms diri-gierte am 31. Januar 1895 seine Akademische Festouvertüre und seine beiden Klavierkonzerte mit Eugen d´Albert als Solist. Am Ende des Buches wird Riccardo Chailly als Gewandhaus-kapellmeister (2005-2016) verabschiedet, ohne zum angekündigten Abschiedskonzert zu erscheinen. Die Oper Leipzig (die ja vom Gewandhausorchester bespielt wird), feiert mit der „Götterdämmerung“ Premiere eines neuen (erstmals seit 1976) „Ring“-Abschlusses mit Ulf Schirmer am Pult. Er ist seit 2009 GMD der Oper Leipzig. Aber auch der Tod Kurt Masurs am 19. Dezember 2015 wird ausführlich gewürdigt. Masur, er galt als menschlich schwierig und als autoritäre Persönlichkeit mit unangenehmen Gutsherren-Allüren, war von 1970 bis 1996 Gewandhauskapellmeister und langjähriger, kontrovers beurteilter Vorzeigerepräsentant des DDR-Musiklebens und spielte beim Ende der DDR keine unwichtige politische Rolle. Mit einem Gedenkkonzert am 16. April 2016 wurde er geehrt.


Der Band schildert die wechselvollen Jahre des Wirkens einiger der bedeutendsten deutschen Dirigenten (und Gewandhauskapellmeister): von Arthur Nikisch über Wilhelm Furtwängler, Bruno Walter, Hermann Abendroth, Herbert Albert, Franz Konwitschny, Vaclav Neumann, Kurt Masur und Herbert Blomstedt bis zu Riccardo Chailly. Erster Weltkrieg, Nazizeit und Zweiter Weltkrieg (mit der Zerstörung des alten Gewandhauses), Nachkriegs- und DDR-Zeit (mit der Errichtung des neuen Gewandhauses 1981) sowie die Jahre der deutschen Wieder-vereinigung und die Zeit danach werden im Musikleben des Gewandhausorchesters einschließ-lich seiner künstlerischen Höhe- wie moralischen Tiefpunkte facettenreich gespiegelt.


Das Buch bleibt seinem schon im ersten Band verfolgten Prinzip, Schilderung, Kommentie-rung und chronologische wie geographische Verortung sein zu wollen, treu. Zahlreiche Karten, Dokumente, Fotos und Grafiken veranschaulichen diese imposante Gesamtdarstellung der Geschichte der (neben der Dresdner Staatskapelle) bedeutendsten und traditionsreichsten mitteldeutschen Musikinstitution. 


Beiträge in „Das Orchester“ (Schott) und SWR Cluster