Jonas. Oper für alle

Im April 2020, im Alter von 73 Jahren, erlag Sir Peter Jonas seiner Krebserkrankung. In den zwei Jahren vor seinem Tod führte er zahlreiche Gespräche mit der Autorin Julia Glesner. Aus ihnen ging die Biographie von Sir Peter Jonas hervor, die jetzt erschienen ist, mit einem huldvollen Vorwort der musikalischen, insbesondere der Barockoper zugetanen Krimiautorin Donna Leon und einem ebenfalls freundschaftlicher Verbundenheit verpflichteten Nachwort von Daniel Barenboim.


Sir Peter Jonas (1999 von der Queen geadelt) war einer der führenden Theatermenschen seiner Zeit und eine der elegantesten, spleenig-stilvollen Persönlichkeiten des Opernlebens. 1946 wurde er in London geboren. Er wuchs in England auf, studierte in Sussex, Manchester und London. 1974 ging er zum Chicago Symphony Orchestra zu Sir Georg Solti, wo er zunächst sein Assistent, dann künstlerischer Betriebsdirektor wurde. 1984 wurde er Generaldirektor der English National Opera, 1993 Intendant der Bayerischen Staatsoper München, wo er mit seinem provokativen Musiktheaterkonzept Publikum und Presse polarisierte, aber für ein volles Haus sorgte. 


Wie ein roter Faden durchzieht die Janusköpfigkeit der Persönlichkeit die Biographie. Peter Jonas nannte sich selbst einen Traditionalisten und kämpfte doch gegen das Etablierte. „Er wollte Teil des Establishments sein, um zu bekämpfen, was ihm missfiel. Er schaffte den Spagat, zum Establishment zu gehören, ohne sich anzupassen. Dafür wurde er von vielen bewundert, damit provozierte er aber auch Feindschaft,“ so schreibt Daniel Barenboim zurecht. Einerseits war Jonas ein intellektueller Opernfreak, anderseits liebte er Autos, Cricket und Fußball. Er war jüdisch-libanesischer Abstammung, war konservativer Brite und wurde doch ein wagemutiger Kosmopolit, ein Theatermann, der Konventionen sprengte.


„Obwohl ich mich nach klassischer Schönheit auf der Bühne sehnte, bemerkte ich auch, dass ich mich doch mehr begeisterte, wenn etwas leicht verzerrt war, sich jenseits des Normalen bewegte. In den späten 1970er und frühen 1980er Jahren dominierte aber immer noch der Naturalismus auf der Bühne.“ Walter Felsenstein und Wieland Wagner waren für ihn Paradebeispiele ästhetisch anderen, neuen Musiktheaters. Beide bewunderte er. Die durch Felsenstein begründete Operndramaturgie „Text, Musik, Szene und Darsteller einer Oper gleichberechtigt aufeinander zu beziehen und mit den Konventionen der Sängeroper zu brechen, ermöglichte es vielen überhaupt erst, die Oper als adäquate zeitgenössische Kunstform zu begreifen.“ Was Wieland Wagner angeht, gesteht Jonas: „Für uns Studenten aus dem Vereinigten Königreich, die wir Opern nur in Stoffbühnenbildern und dramaturgisch dürftigem Hyper-Realismus kannten, war die Idee einer derartigen Abstraktion eine Schocktherapie, die uns süchtig machte nach Schallplatten von Richard Wagners Werke.“


Es war nicht zuletzt die Sängerin Lucia Popp (mit der er einige Jahre partnerschaftlich liiert war) durch die er diese Andersartigkeit des deutschen Musiktheaters kennenlernte, die „Idee, dass das Opernhaus ein Theater der Konfrontation, der Neuheit und der Herausforderung sein sollte“, wie er der Autorin sagte. Julia Glesner hat alles, was ihr Peter Jonas sagte, aufgeschrieben, aber gelegentlich schweift sie gewaltig ab, beispielsweise wenn Sie den Inhalt des Buches von Alice Miller „das Drama des begabten Kindes“ referiert, das die Sängerin Hildegard Behrens Sir Peter empfahl.  Auch über die psychoanalytischen Erfahrungen von Peter Jonas wird ausführlich berichtet.

Vor allem aber die vielen kleinen Biographien (erwähnter Künstler und Weggefährten) in der eigentlichen Biographie blähen das Buch auf mehr als 600 Seiten auf. All diejenigen die die Karriere von Peter Jonas befeuerten und überhaupt erst ermöglichten, werden gewürdigt, Freunde wie Feinde.  Man könnte dieser Jonas-Biographie Namedropping vorwerfen, doch der Autorin geht es um bestmögliche Genauigkeit und Vollständigkeit der Darstellung einer künstlerischen Ausnahme-Vita, der Kindheit und Jugend in London, dem Studium in Sussex, Manchester und London sowie den beruflichen Stationen in Chicago, London und München. Krisen und Triumphe, Kulturpolitik und Geld sind Thema dieser Biographie, aber auch Sponsoring und Spielplanpolitik. 


Mit großem Respekt und Betroffenheit berichtet die Biografin immer wieder von der Krebserkrankung, von der Peter Jonas sagte: „Die Krankheit selbst befreite mich, um mich zu entwickeln.“ Schon mit 29 erkrankte er, es war wohl die lebenslange Todesnähe, die seinen Lebenswillen mobilisierte. Kranken- und Familiengeschichte, künstlerische und persönliche Vita werden von der Autorin ineinander verwoben, auch Bekanntschaften und Zusammenkünfte mit den Großen der Musikwelt werden geschildert. Das individuelle Schicksal wird von Julia Glesner allerdings zum Panorama der Opernwelt geweitet. Sie beschreibt ein Leben, das von Wanderschaft geprägt ist. Das Theater wurde   Jonas zur Familie. An den drei großen Wirkungsstätten seines Berufslebens blieb er immer mindestens eine Dekade und versuchte, dort eine Atmosphäre des Vertrauens und der Offenheit zu schaffen.


Die Arbeit an dieser Biografie war für Julia Glesner eine Art Sterbebegleitung. Sie räumt dem langsamen Sterben viel Raum ein, dokumentiert die Prognosen seiner Ärzte, darüber, wie lange er noch zu leben habe, aber auch seine stoische Haltung, wie er mit seinem Schmerz umging, dem körperlichen, aber auch dem seelischen. Ausführlich beschreibt sie die Zusammenarbeit mit befreundeten Dirigenten und Regisseuren wie Claudio Abbado, Georg Solti, Marc Elder, Daniel Barenboim, Zubin Mehta, Carlos Kleiber, James Levine, David Alden, Jürgen Rose oder David Pountney. 


„Meine Zeit an der English National Opera war wirklich eine bemerkenswerte Zeit“, zieht Jonas Bilanz. „Plötzlich kam so etwas wie die Hoffnung auf, dass die Oper in London intellektuell und künstlerisch“ zu neuen Ufern aufbrechen würde.  Die Bayerische Staatsoper war für das Migrantenkind Jonas nicht nur Endstation, sondern so etwas wie ein “Family House.“ Am Münchner Nationaltheater konnte er seine Auffassung von heutigem Musiktheater konsequent umsetzen. Die von ihm als Opern-Manager verantwortete slapstickhaft-bunte Produktion „Giulio Cesare in Egitto“ von 1994 schrieb Theatergeschichte. Das Bild des Dinosauriers wurde zum Symbol seiner Amtszeit und der Auftakt der Händel-Renaissance in München. „In der Produktion von Richard Jones und Ausstatter Nigel Lowery stand der stürzende Dinosaurier für den Fall des Römischen Reiches und seiner obsolet gewordenen Ordnung. Im übertragenen Sinn aber konnte die Metapher für den Sturz der alten Ordnung an der Bayerischen Staatsoper München gelesen werden,“ so liest man.

Das provozierte erbitterten Widerspruch wie zustimmende Begeisterung. „Seine Liebe zu Händel und seine Haltung, Regiearbeit nicht als Repräsentation, sondern als Interpretation zu verstehen, kamen mit einem starken Regiekonzept voller Humor zusammen“, schreibt die Autorin. 


In seiner letzten Spielzeit hatte Peter Jonas im Münchner Nationaltheater eine traumhafte Auslastung von 98,4 Prozent erreicht. Er „wollte die existentielle Bedeutung, die das Haus für seine Gäste hatte, auf eine neue Grundlage stellen. Seine Arbeit hat das Publikum extrem verändert, hat es aufnahmefähig, neugierig werden lassen. Intellektuell und künstlerisch, aber auch hinsichtlich der Anforderungen des Managements hat Peter Jonas sein Haus auf die Anforderungen des 21. Jahrhunderts vorbereite“, so das Resümee von Julia Glesner. Jonas‘ Motto „Oper für alle“ (das dem Buch seinen Titel gab) war die Maxime seines Handelns. In München wurde es zum Programm. Peter Jonas widmete sein gesamtes Leben der Aufgabe, die Oper für alle Menschen zugänglich zu machen. Dabei entlehnte er das programmatische Schlagwort „Oper für alle“ dem englisches Vorbild „Opera for all“, es war der Name einer britischen Wandertruppe, die Opern in den schwer erreichbaren, ländlichen Gegenden Großbritanniens aufführte.“


Das antielitäre, demokratische Konzept „Oper für alle,“ Oper als Freiluft-Videoübertragung, wurde gefeiert und international kopiert, unter anderem in Hannover, Düsseldorf, Dresden, Zürich, Bayreuth und Berlin.  Jonas‘ Credo von Oper lautete in seinen eigenen Worten: „Unsere Oper – Ihre Oper ist das Forum, wo wir uns alle mit uns selbst konfrontieren und uns versichern können, dass wir tatsächlich die Animalität und die pure, primitive Habgier hinter uns gelassen haben.“


Die mit großer Einfühlsamkeit und fleißigen Recherchen aufwartende, detaillierte Biographie von Jutta Glesner, der sehr persönliche Fotos beigegeben sind, erzählt nicht nur berührend das faszinierende Leben eines nonkonformen Theatermannes, sondern auch vom Opernwesen seiner Zeit. 



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