Musik-Theater & mehr
Musik und Geschlecht
Über Flussbegradigungen, Eingriffe und Setzungen
Annette Kreutziger-Herr/Melanie Unseld (Hrsg.)
Lexikon Musik und Gender
610 S., 13 s/w Abb., 14 farb. Abb., Gebunden
Erschienen am: 11.06.2010
Richard Wagner sucht man vergeblich in dem ersten Lexikon über Musik und Geschlecht. Dabei war er doch der erste Komponist, der betonte, dass „alle künstlerische Produktivität mit dem Geschlechtstrieb“ zusammenhänge. Ein bemerkenswerter Ausspruch! - Um so mehr Raum wird der zweiten Ehefrau Wagners gegönnt, Cosima, der Tochter Franz Liszts. In einem ausserordentlich differenzierten Artikel wird die unterdrückte Weiblichkeit Cosimas und ihre dienende Rolle, die erst nach Wagners Tod in eine aktive umschlug, dargestellt. Es werden ihre Festspiel-Verdienste, aber auch die Wagnerverfälschung Cosimas beschrieben, die den Weg ebnete für die spätere national-sozialis-tische Wagnervereinnahmung.
Und das ist denn auch das Hervorstechende an diesem ersten Lexikon über Geschlecht und Musik, dass an ausgewählten Persönlichkei-ten, zumal des weiblichen Geschlechts, Schlüsselfragen des Zusammenhangs von Musikgeschichtsschreibung und Geschlecht behandelt werden. Begriffe wie „Frau-Werden“, aber auch „Männlichkeit“ werden systematisch, historisch und psychologisch hinterfragt, immer aber auch konkret veranschaulicht. Etwa am Beispiel der Sängerin Elisabeth Schwarzkopf. Sie sei – so liest man - eine „Operndiva spezi-fisch deutscher Prägung“. Sie verkörperte das "Weiblichkeitsbild der dienenden Frau in der Rolle der strengen Kunstpriesterin“, ein Kunst-Produkt ihres Mannes, des Plattenproduzenten Walter Legge, was ihr den Beinamen „her masters voice“ eintrug.
Der gedankliche Ausgangspunkt der beiden Herausgeberinnen dieses Lexikons ist die Feststellung, dass Musikgeschichte bisher vor allem so etwas wie „Flussbegradigung“ gewesen sei, zu deren Opfern „Männer und Frauen gleichermaßen“ gehörten. Das seien „Eingriffe und Setzungen“, die „wir zu verändern in der Lage sind“. Deshalb verschreiben sich Annette Kreutziger-Herr und Melanie Unseld denn auch vor allem den vergessenen oder aber wichtigen Frauen, an ihnen vor allem verdeutlichen sie die Opfer der Musikgeschichte und die Me-chanismen, die dazu geführt haben. Und dabei erfährt man auch etwas über die männlichen Opfer. Die nämlich, die den geschlechtsty-pischen Rollenerwartungen nicht entsprechen. 172 Autorinnen und Autoren spüren den Fragen nach Geschlechtsstereotypen, nach my-thischen Rollenbildern und ihren Folgen, vor allem aber der „kulturellen Konstruktion von Geschlecht“ nach, und das hat nichts mit Feminismus zu tun.
Was dieses Lexikon auszeichnet, dass es zunächst einen historischen Abriss der Musikgeschichtsschreibung seit dem Mittelalter bietet und dann einen systematischen und biographischen Lexikonteil, in dem naturgemäß aus Platzgründen Manches fehlt, aber eben auch Manches zu entdecken ist, beispielsweise die 1780 geborene Sängerin Angelica Catalani, die aufgrund ihres Körperbaus, ihrer Stimme und ihrer ästhetischen Einstellung prädestiniert gewesen sei, die männliche Kastratentradition mit weiblichen Mitteln weiterzuführen.
Am Beispiel des Kastraten wird übrigens der Unterschied zwischen biologischem Körper und geschlechtlicher Rolle in der Kunst, aber auch über das „Gemacht-Werden“ und die ganze Fragwürdigkeit des Zusammenhangs von „Geist“ und „Geschlecht“ erörtert. - Und wer die 1907 verstorbene norwegische Pianistin Agatha Grøndahl noch nicht kannte, lernt sie in diesem Lexikon kennen. Edvard Grieg habe in sein Tagebuch geschrieben, „wenn eine Mimose singen könnte“, müsse das klingen wie aus Agathe Grøndahls „intimsten Tönen“. Da-gegen schrieb eine dänische Zeitung in einem Nachruf auf die Komponistin, sie sei ein „Mann“ unter hunderten „Klavierspielerinnen“ gewesen.
Begriffe wie Klavier oder Gesang, Mann oder Frau, Divenkult oder Minnesang, Feminismus oder Chauvinismus, „Dress-Crossing“ (ein neuer Begriff für das, was man bisher Travestie nannte), Systemtheorie, Oper oder Populäre Musik: Das Lexikon „Musik und Gender“ ist um keine Erklärung verlegen. Es betritt Neuland und ist auf Anhieb ein großer Wurf. Was da zwischen dem ersten und dem letzten Lexi-konartikel, Jenny Abel und Emilie Zumsteeg, zu erfahren ist, verändert das Nachdenken über Musik und vielleicht auch den Musik-betrieb, denn es entlarvt die Gesetze der heutigen Vermarktung von Musik und Musikern nach primär erotischen Gesichtspunkten. Beispielhaft wird dies am Fall der Sängerin Anna Netrebko dingfest gemacht.
Zurecht schreibt Julian Krüper in seinem Artikel, dass der „fremdbestimmte Stilisierungsgrad“ der Netrebko eine neue Qualität erreicht habe und ihre Vermarktung – nach Art eines Popstars – vor allem auf konventionelle Weiblichkeitsbilder setzte. Er zitiert – und das darf man durchaus als symptomatisch für den heutigen Musikbetrieb verstehen - einen Artikel von Fabian Bremer aus der FAZ, in dem zu lesen ist, „dass die Oberfläche der bequemere Ort der Wirklichkeit ist als die Seelentiefe“.
Beitrag in MDR Figaro