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Richard Wagners Antisemitismus. Eine Klarstellung
Bis heute scheiden sich an Richard Wagner immer noch und immer wieder die Geister. Unkenntnis, konträre Ideologien und Missverständnisse bestimmen nahezu jede Wagnerdebatte. Das hat vor allem zu tun mit dem zwar nur 12-jährigen, aber folgenreichen düsteren Kapitel deutscher Geschichte, das 1933 begann und 1945 endete. Daher kommt, wer sich heute - nach dem Holocaust - mit Wagner beschäftigt, nicht umhin, den nationalsozialistischen Wagnermissbrauch mit zu bedenken, der auch zu tun hat mit Wagners unleugbarem Antisemitismus, der allerdings nach wie vor kaum je sachlich und differenziert betrachtet wurde und wird.
Bis heute sind die Wagner-Debatten immer noch parteiisch und emotional, unsachlich und von Vorurteilen geleitet. Oftmals beteiligen sich erstaunlich Uninformierte an Auseinandersetzungen über Wagner. Aber selbst renommierte Wissenschaftler „verlieren zuweilen bei Wagner den Verstand“, wie der Wagnerspezialist Dieter Borchmeyer einmal zu Recht schrieb.
Eine sachlich differenzierte Analyse und historische Einordnung dieses Phänomens bedeutet nicht, den Antisemitismus Wagners zu verharmlosen oder gar abzustreiten. Der britische Historiker Peter Gay hat in seiner Studie über Deutsche und Juden darauf hingewiesen: "zu historischem Verständnis aufzurufen und Einsicht walten zu lassen, bedeutet nicht zugleich, abzustreiten und zu verniedlichen, was geschah." Ich darf an das Wort Hans Mayers erinnern: "Wenn es heute gelingt, dem Menschen Richard Wagner und seinem Werk mit Unbefangenheit gegenüberzutreten, so wird damit nicht Entsühnung oder gar Erlösung praktiziert, was undenkbar wäre, sondern historische Gerechtigkeit geübt."
Von Unbefangenheit kann nicht die Rede sein. Aber historische Gerechtigkeit sollte man schon walten lassen, denn bei Wagners Antisemitismus handelt es sich um ein historisches Phänomen. Es ist der Antisemitismus des 19. Jahrhunderts, von dem Wagner auf seine Weise befangen war. Und wäre er kein so berühmter Komponist, würde niemand darüber sprechen, weil das ganze 19. Jahrhundert durch und durch antisemitisch war. Von Ausnahmen abgesehen. Ganz anders ist beispielsweise der Fall Richard Strauss, um einen anderen berühmten Komponisten zu nennen. Richard Strauss – Zeitgenosse von Hitler und den Seinen, hat sich ganz bewusst und absichtsvoll in die Politik des Nationalsozialismus einbinden lassen, hat ihr gedient, auf Kosten jüdischer Kollegen. Wie Gerhard Splitt in seiner wichtigen Arbeit über Richard Strauss als Präsident der Reichsmusikkammer nachgewiesen hat, hat Strauss aus ungeniertem Opportunismus und materiellem Kalkül die nationalsozialistische antisemitische Musikpolitik aktiv unterstützt, um für sich Vorteile daraus zu ziehen. Ein zutiefst unmoralischer Fall. Er ist nicht zu vergleichen mit Richard Wagner, der ja lange vor Hitler, in einem anderen Jahrhundert lebte. Seine antijüdischen Affekte speisen sich aus anderen Quellen und verfolgten ein anderes Ziel. Dennoch befleißigen sich heute Viele der Gleichung: Wagner = Hitler. Aber diese Gleichung ist falsch!
Wagner ist kein einfacher Fall! Man muss sich schon genauer mit ihm beschäftigen, um ihn zu verstehen und sich ein Urteil über ihn erlauben zu können. Cosima hat in ihrem Tagebuch am 29. 3. 1878 notiert: „R. drückte sein Erstaunen gestern darüber aus, dass, trotzdem er so bemüht sei, die Leute immer mehr die Sachen über ihn läsen als seine eigenen“. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Jedes vorschnelle, pauschale Urteil über Wagner ist meist ein Fehl- oder Vorurteil! Die Wagnerliteratur ist voll davon.
Schon Friedrich Nietzsche hatte es erkannt: Richard Wagner ist „unter Deutschen …ein Missverständnis“. Es war die Wagner-WitweCosima, die dieses Missverständnis zementiert, ja eigentlich in die Welt gesetzt hat. Sie hat Wagner sofort nach seinem Tod idealisiert, beweihräuchert, ideologisch verfälscht und mit Hilfe der Autoren Ihrer Hauszeitschrift, der „Bayreuther Blätter“ dem nationalsozialistischen Wagnermissbrauch ausgeliefert, aus dem ihre Schwiegertochter Winifred ab 1933 im Schulterschluss mit Hitler Kapital schlug. Dieser nationalsozialistische Wagnerismus hat bis heute in Deutschland jede sachliche Wagnerrezeption in Deutschland verhindert. Vielleicht muss man Engländer sein, um sagen zu dürfen, was Peter Gay in seinem Buch über Deutsche und Juden schrieb: "Für den Historiker des modernen Deutschland ist die Suche nach schädlichen, unheilvollen oder gar tödlichen Ursachen problematischer und riskanter geworden, als es sonst unvermeidlich ist - sie wird ihm zu einer Zwangsvorstellung, so dass er die ganze Vergangenheit nur noch als ein Vorspiel zu Hitler sieht und jeden angeblich deutschen Charakterzug als einen Baustein zu jenem schrecklichen Gebäude, dem Dritten Reich"
Nicht zufällig wird Wagner außerhalb Deutschlands wesentlich unverkrampfter und sachlicher als hierzulande betrachtet und bewertet. Der Wagner-Biograph Martin Gregor-Dellin hat bereits beim Internationalen Wagner-Kolloquium 1983 in Leipzig darauf hingewiesen: „Das gestörte Verhältnis der Deutschen zu Richard Wagner ist das gestörte Verhältnis zu ihrer Geschichte“. Bis heute mangelt es in Deutschland an einer sachlichen Auseinandersetzung mit Wagners Antisemitismus. Bei aller Betroffenheit darüber, dass Millionen von Menschen unter der Herrschaft der Nationalsozialisten einem verbrecherischen Antisemitismus zum Opfer fielen, einem Antisemitismus, der sich auch durch die Berufung auch auf Richard Wagner legitimierte: Es gilt heute - mehr als ein halbes Jahrhundert nach dem Holocaust - bei der Auseinandersetzung mit Richard Wagner dieselbe Sachlichkeit und Rationalität walten zu lassen wie bei jedem anderen Komponisten oder Schriftsteller. Aber dem ist nicht so. Wer sich heute sachlich mit dem heiklen Thema des Wagnerschen - Antisemitismus befasst, sticht in ein Wespennest. Er muss sich zwischen extrem polarisierten und verhärteten Standpunkten bewegen. Und wer bei diesem Thema differenziert, wird leicht zum Wagner-Apologeten, zum Wagner-Gutbeter abgestempelt, wird von der einen oder der anderen Seite als unbequem empfunden und ausgegrenzt, weil er das vorherrschende Argumentationsschema, das politischen Interessen (um nicht zu sagen die Ideologien) folgt, stört. Walter Levin, der Gründer des Lasalle-Quartetts, der sowohl in jüdischer Tradition als auch in früher Kenntnis der Wagnerschen Werke aufgewachsen ist, hat mir einmal ein amerikanisches Sprichwort genannt: „Don´t bother me with the facts, my mind is made up! Was so viel heißt wie: Störe mich doch nicht mit Fakten und Tatsachen, ich habe doch mein Vorurteil! Die Fakten interessieren bei einem Vorurteil überhaupt nicht. Das Vorurteil dient einem ideologischen Zweck und es braucht die Konstruktion dessen, was mit Ruhe besehen zwar falsch ist, aber es nützt dem Zweck, den man verfolgt. Und so werden die ideologisch begründeten Vorurteile – Wagner und sein Antisemitismus sind dafür ein Paradebeispiel - immerfort tradiert und werden unüberprüft übernommen vom einen zum andern.“ Die meisten Bücher oder Aufsätze über Wagners Antisemitismus belegen es. Es sind immer die gleichen Vorurteile und Missverständnisse, die durch die Literatur geistern:
Vor allem Wagners vermeintlich jüdische Abstammung als Quelle sogenannten jüdischen Selbsthasses. Dabei ist schon in den Zwanzigerjahren durch den Kustoden des Leipziger Stadtgeschichtlichen Museums, Walter Lange, nachgewiesen worden, dass Wagner und seine Vorfahren rein protestantischer Abstammung sind. Wagner selbst hielt sich übrigens weder für einen Juden noch für einen leiblichen Sohn seines Stiefvaters Ludwig Geyer, wie gelegentlich behauptet wird. Nicht zuletzt die Cosima-Tagebücher belegen es. Von Wagners ins Auge stechenden Ähnlichkeit mit seinem Bruder Albert ganz zu schweigen. Wagner aggressiven, jüdischen Selbsthass zu unterstellen entbehrt jeder Grundlage. Auch Wagners Stiefvater Geyer, dem von Nietzsche in reiner Gehässigkeit jüdische Abstammung unterstellt wurde (Nietzsche hat später zugegeben, dass er da wohl etwas zu weitgegangen sei in seinem Wagnerhass aus enttäuschter Wagnerliebe), auch Ludwig Geyer ist kein Jude gewesen. Auch seine Ahnengalerie ist durch und durch protestantisch, wie schon 1918 Otto Bournot in seiner genealogischen Studie nachwies. Im Übrigen findet sich in keinem jüdischen Namensbuch – und ich habe alle wichtigen eingesehen- der Name Geyer (im Gegensatz zu Adler). Auch der Historiker Jacob Katz hat 1985 mit Nachdruck darauf hingewiesen, dass Nietzsches "Gedankensprung von Geyer zu Adler, einem bekannten jüdischen Familiennamen", gänzlich willkürlich“ ist.
Immer noch und immer wieder ist von antisemitischen Karikaturen in Wagners Werk die Rede. Ich nenne nur den Holländer, Mime, Alberich, Beckmesser, Kundry und Klingsor. Wer sich die Mühe macht, diese Figuren mitsamt ihren Konnotationen einmal genauer unter die Lupe zu nehmen, einschließlich Wagners Äußerungen zu ihnen, der wird feststellen, dass es nicht einen schlagenden Beweis dafür gibt, dass diese Figuren tatsächlich antisemitisch gemeint sind. In keiner der zahlreichen Wagnerschen Erläuterungen seiner Werke ist die Rede von "jüdischen" Gestalten. Sollte Wagner einen Aspekt ausgeklammert, vergessen oder gar verheimlicht haben, der ihm wichtig gewesen wäre, der, nach Meinung Hartmut Zelinskys, des obsessivsten Wagnerverächters, gar die zentrale "Werk-Idee" sämtlicher Dramen darstellt? Es ist mehr als unwahrscheinlich! In Cosimas Tagebuch liest man am 17. November 1882: "In der Frühe heute gingen wir die Gestalten des R. des Nibelungen durch vom Gesichtspunkt der Racen aus, die Götter, die Weißen, die Zwerge, die Gelben (Mongolen), die Schwarzen die Äthiopier; Loge der métis (also der Mischling, D.S) "[1]. Von Juden ist nicht die Rede. Hätte Wagner wirklich Alberich, Mime, Hunding oder Hagen als Judenkarikaturen verstanden wissen wollen, er hätte ohne Zweifel, wie in anderen Zusammenhängen, im vertraulichen Gespräch mit seiner notorisch antisemitischen Frau kein Blatt vor den Mund genommen.
Was von den professionellen Wagnerverächtern immer wieder als geradezu kronzeugenhaftes Argument ins Feld geführt wird, ist die Erinnerung der Mahler-Vertrauten Natalie Bauer-Lechner, dass Gustav Mahler in der Figur des Mime im "Siegfried" die Persiflage eines Juden gesehen habe. Aber Hand aufs Herz: diese Erinnerung sagt doch mehr über Mahlers Leiden am eigenen Judentum aus, als über Wagners Rollenintention. Und dass es einen "antisemitischen Code" gegeben habe zur Zeit Wagners, den jeder verstanden und deshalb in Wagners Werk antisemitische Figuren erkannt habe, wie Jens Malte Fischer noch kürzlich schrieb, ist nichts als unbewiesene Behauptung. Wagner hat übrigens in der Erstschrift des späteren "Siegfried" unmissverständlich gefordert, dass Mime eben gerade nicht "an eine Karikatur" erinnern dürfe. Es hätte der Allgemeingültigkeit seiner Aussagen im Wege gestanden, Judenkarikaturen im „Ring“ zu zeigen.
Im Mittelpunkt einer jeden Auseinandersetzung mit Wagners Antisemitismus steht natürlich Wagners infame Schrift über „Das Judentum in der Musik“, die allerdings nicht Wagners einzige und schon gar nicht letzte Äußerung zum Thema ist. Wagner hat übrigens diesen Aufsatz in der Zweitauflage, zu der ihn seine militant antisemitische Gattin Cosima drängte, entscheidend verändert, und zwar weg von unversöhnlichem Antisemitismus hin zu einer assimilationsfreundlichen Tendenz im Sinne einer sozialistisch-gesamtgesellschaftlichen Erneuerung. Juden und Nichtjuden hätten sich zu verändern, um „ununterscheidbar“ zu werden, heißt es im Schlusssatz! Das ist eindeutig! Und das ist antikapitalistisch gemeint und nicht rassistisch. Was Wunder: Wagner hat in seinem Aufsatz „Über das Judentum in der Musik“, der 1850 erstmals erschien, weitgehend Marxschen Antisemitismus übernommen. Er hat wortwörtlich abgeschrieben aus Karl Marxens Entgegnung auf Bruno Bauers Aufsatz „Zur Judenfrage“. Ein Gutteil von Wagners Antisemitismus ist nichts als Plagiat des Marxschen Antikapitalismus (um einen zeitgemäßen Ausdruck zu verwenden). Der Vergleich der Texte lässt keine Fragen offen. Es sei nur am Rande erwähnt, dass es schon bei den Frühsozialisten eine ausgeprägte antisemitische Tradition gab, in die sich Wagner durchaus einreihen lässt. Falle es Sie interessiert: Edmund Silberner hat darüber ein wichtiges Buch geschrieben, in dem das präzise dargestellt wird: „Sozialisten zur Judenfrage" (Berlin 1962). Dass die Kunst die kapitalistische Gesellschaft verändern solle, das hat Wagner spätestens in Paris gelernt, wo er ja im Kreis der Autoren der „Gazette musicales de Paris“ verkehrte, der der Publizist Schlesinger, Heinrich Heine, Franz Liszt und der Romancier Balzac angehörten. - Natürlich verfolgt Wagners Aufsatz über das Judentum in der Musik auch den Zweck einer Privatabrechnung des auf deren Erfolg neidischen Wagners mit seinen Konkurrenten Meyerbeer und Mendelssohn. Und da zieht Wagner alle Register antisemitischer Stereotypen, schöpft aus dem unappetitlichen antisemitischen Arsenal seines Jahrhunderts, das ja von wenigen Ausnahmen abgesehen, durch und durch antisemitisch war. Wie Cosima in ihren Tagbüchern festhielt, hat Wagner seinen frühen antisemitischen Standpunkt zum Ende seines Lebens hin weitgehend aufgegeben. Am 19.7.1882 gestand er Cosima „was man vor 20 Jahren über die Israeliten sagen durfte, das darf man beileibe jetzt nicht mehr.“ Vor allem die späten Bayreuther Schriften Wagner sind geprägt von Zurücknahmen. In dem Essay "Wollen wir hoffen" (1879) beispielsweise erklärt Wagner den Fortschritt der Wissenschaften (der Naturwissenschaften zumal) für fragwürdig[2], die kirchliche Religion für "impotent"[3], die Presse und alles Zeitungswesen für verderblich und er rechnet schonungslos mit dem preußisch-deutschen Reich und seinem Größenwahn ab, ja erklärt es "für unfähig..., die Kunst zu fördern" und damit unter Berufung auf Schiller als "barbarisch und durchaus kunstfeindlich"[4]. Die Deutschen, so das Credo Wagners - und darin zeigt sich eine tiefgreifende Differenz zum späteren imperialistischen, zu schweigen vom nationalsozialistischen Sendungsbewusstsein der Deutschen - seien "nicht zu Herrschern, wohl aber zu Veredlern der Welt bestimmt"[5]. Wagner setzt Kunst und Kultur gegen Politik und Machtstaatlichkeit. Ein Gedanke übrigens, den er schon in den „Meistersingern von Nürnberg“ Hans Sachs in den Mund legte. A apropos „Meistersinger“: Die Figur des Beckmesser wird immer wieder als Judenkarikatur bezichtigt. Aber es gibt eine Äußerung Richard Wagners vom 16. März 1873, die jeden Verdacht, Beckmesser sei die Karikatur eines jüdischen Kritikers, ad absurdum führt. Cosima hat sie überliefert: "mit der ehrwürdigen Pedanterie, dacht ich mir den Deutschen in seinem wahren Wesen, in seinem besten Licht." Ein Wort an dieser Stelle zu Wagner „Weltabschiedswerk“ Parsifal: Ende April 1877 hatte Wagner das "Parsifal"-Textbuch abgeschlossen, im Dezember des Jahres wurde es gedruckt. Lange bevor er Gobineau las. Wagner, obwohl zunächst fasziniert von den Gedanken Gobineaus, lehnte letztlich dessen Rassentheorien aber doch ab. Ganz unmissverständlich kommt das zum Ausdruck in einer Notiz Cosimas vom 14. Februar 1881: man wisse, so habe Wagner zu ihr gesagt, "dass es auf etwas anderes ankommt als auf Racenstärke, gedenkt man des Evangeliums".[6] Am 17. Dezember desselben Jahres notiert sie eine weitere diesbezügliche Bemerkung Wagners: "Eines aber ist sicher, die Racen haben ausgespielt, nun kann nur noch, wie ich es gewagt habe auszudrücken, das Blut Christi wirken."[7] Und am 23. April des folgenden Jahres schließlich wirft Wagner es Gobineau vor, "das eine ganz ausser acht gelassen zu haben, was einmal der Menschheit gegeben wurde, einen Heiland, der für sie litt und sich kreuzigen ließ!"[8] Diese Zitate belegen im Übrigen, was auch die drei in den Bayreuther Blättern veröffentlichten Begleitschriften (die oft ignoriert werden, obgleich es Rücknahmen des früheren Antisemitismus sind) zum "Parsifal" erläutern, dass das letzte und radikalste Erlösungsdrama Wagners mit der Musik und mit verkappter Religion und mit den „Symbolen des christlichen Mythos, mit den Worten von 'Brot' und Wein und den“ – Unbehagen auslösenden – „Gesängen vom Blut des Erlösers den alten romantischen Traum der Einheit von Religion und Kunst"[9] vollendet, hinzielend (im Sinne seines absonderlichen Regenerationsgedankens) auf ein utopisches Urchristentum, das durch Parsifals Mitleidstat "Entsagung" wiederhergestellt wird, nicht aber durch die vermeintliche Vernichtung des Jüdischen.
Es geht im "Parsifal" überhaupt nicht um "Rassisches" oder Rassistisches, um den Gegensatz von Judentum und Christentum, sondern um einen ganz anderen Gegensatz: den von (heidnischer) Sinnlichkeit und christlicher Askese, von Sexualität und Triebverzicht, Egoismus und Mitleid, Eros und Agape. Und "es kommt auf der Achse des Gegensatzes von "Norden (Gralsburg) und Süden (Klingsors Schloss) eine andere Opposition ins Spiel: die von christlich-europäischer und arabisch-islamischer Welt. Das Bühnenweihfestspiel ist landschaftlich an einer mythischen Grenze von Okzident und Orient, von 'Gotischem' und 'Arabischem', von christlicher und islamischer Welt angesiedelt", wie Dieter Richter verdeutlicht.[10] Wobei das 'Nördliche' "für die Zivilisation des christlichen Europa" stand, "für die Bändigung der Sinnenlust, für Askese und Entsagung, das 'Östliche' für Sinnlichkeit und Rausch".[11]
Im Übrigen ist Kundry ein weiblicher Archetyp, das weibliche Pendant zu Ahasverus, der vieles in sich vereinigt, nicht nur das Jüdische. Kundry wird im Text selbst vornehmlich als "Heidin" und als "Zauberweib"[12] in wechselnden Gestalten bezeichnet. Die Jüdin Herodias ist ja nur eine der Gestalten, in denen sich ihr Archetyp verkörperte. Klingsor verrät es: "Ur=teufelin! Höllen=Rose! Herodias warst du, und was noch?/ Gundryggia dort, Kundry hier"[13] Wie Dieter Borchmeyer zu Recht ausführt, bringt Wagner hier "die Idee jener Wanderschaft mit der indischen Vorstellung von der Seelenwanderung, der endlosen Folge von Wiedergeburten, und - wichtiger noch - mit dem ewigen Kreislauf der Natur in Verbindung. Kundry hält ja regelmäßig einen förmlichen Winterschlaf. In jedem Frühjahr erwacht sie mit der Natur zu neuem Leben. Sie ist also auch so etwas wie eine Verkörperung der erlösungsbedürftigen Natur. Ihre Erlösung durch die Taufe löst bezeichnenderweise den Karfreitagszauber aus, in dem sich symbolisch die Erlösung auch der außermenschlichen Natur ausdrückt."[14]
Wagners Kundry ist (wie die Herodias im Mittelalter) nichts anderes als das weibliche Pendant zur Gestalt des Ahasverus, eine "Verwünschte ... zu büßen Schuld aus früherm Leben"[15]. Sie hat Jesus auf seinem Leidensweg verlacht und muss sich zur Strafe "endlos durch das Dasein"[16] quälen, findet weder Ruhe noch Erlösung. Wagner schreibt bereits im Prosaentwurf von 1865, ganz im Schopenhauerschen Sinne: "Kundry lebt ein unermessliches Leben unter stets wechselnden Wiedergeburten, in Folge einer alten Verwünschung, die sie, ähnlich dem 'ewigen Juden', dazu verdammt, in immer neuen Gestalten das Leiden der Liebesverführung über die Männer zu bringen."[17]
Sie verkörpert mit ihrer verführerischen Sinnlichkeit die Antithese der christlichen Ethik selbstlosen Mitleidens, die im Zentrum des "Parsifal" steht. Daraus ergibt sich ihre dramaturgische Funktion. Erlöst wird im "Parsifal" von Triebhaftigkeit, nicht vom Judentum. Mein verehrter Lehrer, Peter Wapnewski hat es auf den Punkt gebracht: "Um sich vor der zerstörerischen Heftigkeit des mächtigsten aller Triebe zu schützen, um ihn zu bändigen, zu pönalisieren, beschwor Wagner ein Reinigungs-Exerzitium, veranstaltete er ein flagellantisches Fest der Selbstkasteiung, der Selbstbestrafung durch die pathetische Zelebrierung christlicher Riten und ihrer sinnenabtötenden Postulate. Ein Versuch, den Klingsor in uns, die Kundry in uns zu überwinden."[18] Man darf den "Parsifal" daher (auch) als ein "Kunst-Drama der Sinnenabtötung als Rettung vor dem privaten Drama der Sinnenlust"[19] (Peter Wapnewski) begreifen. Alles in allem ist Kundry die wohl vielschichtigste mythische Gestalt des Wagnerschen Bühnenpersonals. Eine dezidiert jüdische, zumal eine mit „jüdischen“ Attributen oder negativen Affekten besetzte ist sie jedoch gerade nicht. Auch wenn Wagner in Kundry (auch) die mythologisch vorgegebene Jüdin Herodias sehen mag, er gibt ihrer Musik ein immenses, eindeutig charakterisierendes Mitleidspotential. Wie sollte Wagner auch ausgerechnet die Gestalt der Kundry negativ charakterisieren, wo doch Muse und Vorbild gerade dieser Gestalt seine letzte (heimliche) Geliebte, Judith Gautier gewesen ist, wie sein Briefwechsel mit ihr bezeugt [20], die Tochter des mit Heinrich Heine befreundeten Schriftstellers Theophile Gautier, der wahrscheinlich selbst jüdische Vorfahren hatte, und Ehefrau des Kritikers Catulle Mendès, der "ein sephardischer Jude"[21] gewesen sein soll.
Wagner verstieg sich in privaten Äußerungen immer wieder zu antisemitischen Ausfällen, die einen sprachlos machen. Er war nun mal ein ungehobelter, impulsiver Sachse, der oft ohne nachzudenken, drauflosredete, wie ihm der Schnabel gewachsen war. Und sich damit immer wieder das Maul verbrannte. „Noblesse, Anstand, die habe ich nicht“[22], bekannte er Cosima einmal. Das war wohl einer der selbstkritischsten, selbstironischsten Bekenntnisse seines Lebens
An dieser Stelle eine grundsätzliche Bemerkung: Man muss wissen, dass einer der wesentlich psychischen Mechanismen Wagners im Leben wie im Denken die Dialektik von Anziehung und Abstoßung war, eine Mischung aus Verfolgungswahn und Neid, Minderwertigkeitsgefühl und Größenwahn. Zu Wagners Psychomechanik gehörte es, Menschen, die er heimlich bewunderte, aus Neid und Missgunst öffentlich schlecht zu machen. Nur so konnte sein narzisstisch hybrides, aber immer absturzgefährdetes Selbstbewusstsein überleben. Das betriffet Heine wie Offenbach, Meyerbeer wie Mendelsohn.
Zu Recht nannte Thomas Mann Wagner den „schnupfenden, sächsischen Gnom“ mit dem Bombentalent und dem schlechten Charakter.“ „Ein sehr begabter Mensch, aber auch etwas Friseur und Charlatan.“ (so charakterisierte Gottfried Keller Richard Wagner“
Der größte Irrtum, der einem unterlaufen kann, wenn man über Wagners Antisemitismus redet, ist die Torheit, ihn als isoliertes Phänomen zu betrachten!
Es gibt im Abendland seit mindestens 2000 Jahren Antisemitismus. Vergessen wir nicht den christlichen Antijudaismus, der seit der Zerstörung des Tempels in Jerusalem 70 n. Chr. mehr oder weniger zum Grundbestand der christlichen Theologie gehört. Auch Luthers ungeheuerliche Judenhetze, auch Bachs Johannespassion gehört da hinein. Aber – um zu Wagners Zeit zurückzukehren: Auch die nahezu gesamte belletristische Literatur des 19. Jahrhundert war durch und durch antisemitisch. Ich nenne nur einige deutsche Autoren: Wilhelm Raabe, Gustav Freytag, Ludwig Feuerbach, Georg Herwegh, Franz Dingelstedt, Felix Dahn, Fritz Reuter, Berthold Auerbach, ja sogar Theodor Fontane und noch Thomas Mann befleißigen sich ungeniert offener antisemitischer Stereotypen in ihren Erzählungen. In England war es nicht anders. Denken Sie an Dickens, Thackeray, Disraeli. Auch in Frankreich findet sich Antisemitismus zuhauf. Beispielsweise bei Chateaubriand, Victor Hugo, Eugene Sue (er schrieb den Roman Le juif errant/Der ewige Jude), die Gebrüder Goncourt nicht ausgenommen, aber auch Balzac, Zola, Maupassant und viele andere haben ungeniert und ausgiebig altbekannter antijüdische Stereotypen übernommen und verarbeitet. Nicht zu vergessen die russische Literatur, man denke nur an Gogols und Dostojewskis Judengestalten. Die gesamte europäische Literatur vor und nach Wagner verwendete antisemitische Klischees und Stereotypen, wie sie seit Jahrhunderten in Europa gang und gäbe waren. Und Richard Wagner war ein ungemein fleißiger Leser!
Martin Geck, einer der besten Wagnerkenner, hat in seiner Wagner-Monographie denn auch zu bedenken gegeben: „Wagners Antisemitismus ist ein Gewächs aus jenem Zaubergarten, den man Abendland, Zivilisation, Moderne oder wie auch immer nennt. … Dort wachsen Orchideen neben fleischfressenden Pflanzen, Hegels neben Hitlers – eins ist ohne das andere nicht zu haben. …Wer Wagners Werk allzu entschlossen mit seiner verzerrten Rezeption durch Nationalismus und Nationalsozialismus gleichsetzt, mystifiziert in zwei Richtungen: er lenkt von stärkeren gesellschaftlichen Kräften ab, auf die sich der Nationalsozialismus stützen konnte und verweigert sich zugleich der Einsicht, dass es Abendland, Zivilisation, Moderne nur als Ganzes gibt“.
Es gab in der Wagnerzeit viele antisemitische Hetz- und Kampfschriften, die noch viel schlimmer waren als Wagners Schrift über das „Judentum in der Musik“. Und die bereits das ganze menschenverachtende Vokabular gebrauchten, dessen sich später Hitler und die Seinen bediente. Ich nennen nur Namen wie Heinrich Treitschke, er schrieb den Aufsatz “Die Juden sind unser Unglück“ oder Paul de Lagarde, der die Juden mit Trichinen und Bazillen vergleicht, und Eugen Dühring, der die Angst vor einer „Weltverschwörung“ der Juden schürt. Aber auch Wilhelm Marr, Herrmann Ahlward, Julius Langbehn und Paul de Lagarde gehören zu den direkten Zuarbeitern Hitlers. Die Bausteine zum Hitlerschen Antisemitismus mit seiner Vernichtungsideologie waren in den beiden Jahrzehnten vor dem ersten Weltkrieg bereitgestellt worden. Zumindest ein Teil der nichtjüdischen Deutschen sympathisierte mit diesem aufkommenden radikalen Antisemitismus. Vorübergehend verzeichneten antisemitische Parteien beachtlichen Zulauf. So etwa Stoeckers "Christlichsoziale", die "Soziale Reichspartei" Ernst Henricis, aber auch die "Antisemitische Volkspartei" Otto Boeckels.
Der mit Wagners Veröffentlichung des Aufsatzes ausgelöste Wagner-Streit, der eine Flut von Pro- und Contra-Schriften auslöste, hat die Gemüter zwar erhitzt, auch das Wagner-Publikum nachhaltig gespalten, aber eine auslösende, politisch wirkungsmächtige Funktion im Entstehungsprozeß des modernen deutschen Antisemitismus kann man der Schrift, kann man Wagner nicht bescheinigen. Der israelische Historiker Jakob Katz hat zurecht darauf hingewiesen: „Die ... später aufflackernde Agitation gegen die Juden nährte sich aus völlig anderen Quellen".
Der Historiker Hans Jürgen Puhle hat diese anderen Quellen genau benannt: Einmal war es eine "idealistisch-philosophisch motivierte Richtung, die von einem historisch und allenfalls ökonomisch (aber nicht biologisch) verstandenen volkstümlichen 'Natur'-Begriff her gegen die Juden argumentierte und an der sich sowohl Liberale als auch Konservative beteiligten". Zum Zweiten "in der 'Berliner Bewegung' um Stoecker eine wesentlich sozialpolitisch orientierte Richtung des Antisemitismus, die von konservativen Kreisen getragen wurde"; und drittens "der radikale Rassen- und Radauantisemitismus, der seit den siebziger Jahren zunehmend hervortrat und - zunächst nur von einzelnen Agitatoren vertreten - allmählich zur Organisation verschiedener Antisemitenparteien, -komitees und -clubs führte"[23].
[1] CT Bd.4. S. 1051.
[2] "Wenn unsere Wissenschaft, der Abgott der modernen Welt, unseren Staatsverfassungen so viel gesunden Menschenverstand zuführen könnte, dass sie z.B. ein Mittel gegen das Verhungern arbeitsloser Mitbürger auszufinden vermöchte, müssen wir sie am Ende im Austausche für die impotent gewordene kirchliche Religion dahinnehmen. Aber sie kann gar nichts". RWGS Bd 10, S. 124.
[3] ebd.
[4] ebd., S. 121.
[5] ebd. S. 130.
[6] CT Bd. 4, S. 690.
[7] CT Bd. 4, S. 850.
[8] CT Bd. 4, S. 936.
[9] Paul Arthur Loos: Richard Wagner. Vollendung und Tragik der deutschen Romantik, S. 204 f.
[10] Dieter Richter: Klingsors Zaubergarten. Eine exotische Landschaft in Richard Wagners Parsifal und der 'Mythos Ravello'. In: Eros und Literatur. Festschrift für Gert Sautermeister, hrsg. von Christiane Solte-Gesser, Wolfgang Emmerich, Hans Wolf Jäger, Bremen 2005, S. 191-201.
[11] ebd. S. 195
[12] Richard Wagner: Parsifal, in: WGS Bd. 10, S. 329.
[13] ebd. S. 346.
[14] Dieter Borchmeyer: Wie antisemitisch sind Wagners Musikdramen? op. cit., S. 52.
[15] ebd. S. 330.
[16] ebd. S. 360.
[17] Parzival-Prosaentwurf. (Tagebuchaufzeichnung vom 29. August 1865), in: Richard Wagner. Das braune Buch, hrsg. u. kommentiert von Joachim Bergfeld, Zürich/Freiburg 1975, S. 62.
[18] Peter Wapnewski: Das Bühnenweihfestspiel, in: Wagner-Handbuch, S. 344; siehe auch das letzte Kapitel in Peter Wapnewski: Tristan der Held Richard Wagners, Berlin 1981.
[19] Peter Wapnewski: Das Bühnenweihfestspiel - Parsifal, in: Wagner-Handbuch, S. 343.
[20] So etwa bittet Wagner Judith in einem Brief vom 1. 10. 1877: "vielleicht legen Sie etwa ein halbes Dutzend Papiersachets bei, damit ich sie zwischen meine eigene Morgenwäsche stecken kann, so verschaffe ich mir eine innige Beziehung zu Ihnen, sobald ich mich ans Klavier setze, um die Musik zu Parsifal zu komponieren." In: Die Briefe Richard Wagners an Judith Gautier, hrsg. von Willi Schuh, Zürich/Leipzig 1936, S. 146 f.
[21] Robert Gutman: Richard Wagner, op. cit., S. 444.
[22] CT, Bd. 2, S. 1076
[23] Hans Jürgen Puhle: Agrarischer Interessenkonflikt und Konservativismus im wilhelminischen Reich 1893-1914, op. cit., S. 112.
Damit kommen wir zur Wirkungsgeschichte des Wagnerschen Antisemitismus. Winfried Schüler hat in seiner wegweisenden Arbeit über den Bayreuther Kreis eigentlich alles dazu gesagt: Was Wagner „an Ursprünglichkeit, an Größe und Ungebundenheit des Denkens besitzt ... verengt sich bei den Jüngern des Bayreuther Kreises, das sind Cosimas Hausautoren der „Bayreuther Blätter“, zum Dogma, zur Formel, zum Programm. Zugleich mündet es ein in einen breiten Strom ähnlich gestimmter Erneuerungsbestrebungen." Zu ergänzen ist, dass wesentliche Elemente des Wagnerschen Denkens von den Autoren des Bayreuther Kreises, wie auch von den späteren nationalsozialistischen Wagner-Schriftstellern ignoriert oder gar in ihr Gegenteil verkehrt wurden, beispielsweise Wagners utopisch-sozialistische Ansichten, sein altersradikaler Pazifismus, seine rebellischen Züge, sein Kosmopolitismus, seine kritischen Äußerungen über Deutschland und die Deutschen und Wagners Misstrauen gegenüber der deutschen Staatsmacht und dem Machtstaat". Wagner wurde idolisiert zum Religionsgründer eines germanischen, antisemitischen, völkischen Christen- und Deutschtums. Damit machten sie sich zu den geistigen Wegbahnern des Nationalsozialismus. Einer der maßgeblichen Mittler dieses nationalistisch-antisemitischen Wagnerbildes war Houston Steward Chamberlain, der Wagners Tochter Eva 1908 heirate und damit zu des toten Wagners Schwiegersohn wurde und unmittelbaren Zugang zum Allerheiligsten Bayreuths, zu Wahnfried erhielt. Er wurde zum innigsten Vertrauten der Gralshüterin Cosima. Chamberlain hatte sich aber schon dem preußischen Hofe angedient und bei Kaiser Wilhelm und dem Kronprinzen für eine starke Wagner-Begeisterung gesorgt. Und er hat die Brücke vom Hause Wagner zu Adolf Hitler geschlagen. In seiner Schrift "Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts" hatte er mit explizit rassistisch-antisemitischer, nationalistischer Kulturgeschichtsschreibung weite Teile des Bildungsbürgertums ideologisch auf das Kommende vorbereitet. Er redete einer nordisch-deutschen Rasse, zu deren künstlerischem Seher er Wagner erklärte, das Wort und hatte damit gewissermaßen den Grundstein gelegt für die nationalsozialistische Weltanschauung, wie sie in Alfred Rosenbergs Buch "Der Mythus des 20. Jahrhunderts" ihren bezeichnenden Ausdruck fand. Chamberlain hat Wagners antijüdische Haltung ins kämpferisch-unversöhnliche Extrem verkehrt und mit seiner eigenen "arischen" Blutideologie unterlegt, die die Assimilation der Juden von vornherein ausschließt. Mit Wagners Vorstellungen hatte das nichts mehr zu tun. 1930 starb der Wagner-Sohn Siegfried, der seit 1924 mit Winifred Williams verheiratet war. Seine Frau trat das Wagner-Erbe an und übernahm das Amt der Festspielführung, das sie bis 1944 versah. Sie machte sich bewusst zum Steigbügelhalter Hitlers. Wie die bildungsbürgerliche, wagnerianisch angehauchte Großwirtschaft Hitler finanziell unterstützte, so half ihm Bayreuth ideologisch: indem es ihn bürgerlich respektabel machte" (So hat es der Historiker Ernst Hanisch treffend formuliert). Und Hitler finanzierte das marode Bayreuth, das Winifred mit seiner Hilfe vor dem Konkurs rettete. Was Hitler angeht: Er hatte gegenüber Wagner übrigens eine äußerst selektive Wahrnehmung an den Tag gelegt. Er berauschte sich lediglich an den mythischen Oberflächenreizen des Wagnerschen Werks und seiner Musik. Die moderne, gesellschaftskritische, psychologische und politische Dimension der Werke hat er nicht wahrgenommen. Und schon gar nicht, dass Wagner vor allem scheiternde Helden und eine korrupte Welt der Mächtigen auf die Bühne brachte. Dass Hitler die Welt glauben machen wollte, er habe Wagner als seinen einzigen Vorläufer empfunden und sich als dessen Vollender begriffen, bezeugt nicht mehr als seinen Größenwahn und sein Unverständnis Wagners. Wagners bedeutete ihm "nicht viel mehr als ein überaus wirkungsvolles akustisches Mittel zur Steigerung theatralischer Effekte", vor allem Propaganda-Effekt in der masssenwirksamen Inszenierung des NS-Staates. Die gezielte ideologische Vereinnahmung, die Einpassung Wagners ins ideologische Raster der Nationalsozialisten, besorgten seine intellektuellen Helfershelfer. Schon 1920 hatte der Musikologe Karl Grunsky – später einer der eifrigsten Nazis - in seinem Buch "Richard Wagner und die Juden" Wagner zum Vorreiter des modernen Antisemitismus erklärt und sein Werk als "ein einziges Preislied auf alles Deutsche" bezeichnet. Ein Blick in Wagners europäische Biographie oder in Wagners Briefe genügt, um diese absurde Behauptung Lügen zu strafen.
Als Wagner nach elf Jahren Exils, begnadigt vom sächsischen König, zum ersten Mal wieder deutsche Grenzen überschritt, bekannte er seinem Zürcher Mäzen Otto Wesendonck: „Von Ergriffenheit beim Wiederbetreten des deutschen Bodens habe ich – leider! – auch nicht das Mindeste verspürt“.[1] In einem Brief an Franz Liszt vom 13. September 1860 schrieb er: „Mit eigentlichen Grauen denke ich jetzt nur an Deutschland und meine für dort berechneten zukünftigen Unternehmungen. Verzeihe es mir Gott, aber ich sehe dort nur Kleinliches und Halbheit in Allem und Jedem, (...) Glaub' mir, wir haben kein Vaterland! Und wenn ich ‚deutsch’ bin, so trage ich sicher mein Deutschland in mir...“[2] Es ließen sich unzählige Briefe Wagners zitieren, in denen sich seine mit zunehmendem Alter steigernde Aversion gegen Deutschland und die Deutschen ausspricht. Wagner hatte sich in Deutschland im Grunde nie zuhause gefühlt. Schon der 22-jährige Student Wagner bekannte seinem Leipziger Studienfreund Theodor Apel: „Hinweg aus Deutschland gehöre ich!“[3] Und wenn Karl Marx den Komponisten Wagner als deutschen „Staatsmusikanten“[4] bezeichnete, so hat er ihm damit ein völlig falsches, aber folgenreiches, bis heute nicht abzulösendes Etikett angeheftet. Der Philosoph Friedrich Nietzsche hat dem heftig widersprochen und behauptet, dass Wagner „nirgendwo weniger hingehört als nach Deutschland“, ja dass Wagner „unter Deutschen bloß ein Missverständnis ist“.[5] Nietzsche hat Recht gehabt! Dass Wagner missbraucht werden konnte, liegt auf der Hand. Die Wiederbelebung germanischer Mythenstoffe und mittelalterlicher Epen, Wagners Betonung des "Volkshaften" und "Deutschen" aus dem Geiste der romantischen Tradition, sein ethisch-ästhetischer Erneuerungswille, sein Kulturpessimismus und sein in privaten Äußerungen wie in theoretischen Schriften vernehmbarer Antisemitismus konnten natürlich im Zeitalter des Nationalismus starke völkische, nationalistische Impulse und Affekte auslösen. Allerdings nur unter Ausblendung alles dem Widersprechenden, alles Religiösen, Revolutionären, Antibürgerlichen, ja Anarchisch-Staatsfeindlichen, das ja auch in Wagner enthalten ist. Und das ist eine der wichtigsten Einsichten der intensiven Beschäftigung mit Wagner, dass er voller Widersprüche ist.
Wagner war Sozialist und Kapitalist, Großbürger und Bohemien, er war Antisemit und doch befreundet mit vielen Juden und all das gleichzeitig. Er hat sich die schrecklichsten Scherze über Juden erlaubt. Und hat doch Cosima gegenüber eingestanden, "dass die Juden schließlich doch besser seien als die Bildungsphilister".[6] Als er sie einmal mit Katholiken und Protestanten verglich, bezeichnete er sie Cosima gegenüber als "die allervornehmsten"[7]. Nicht zu reden von den wiederholten Äußerungen großer Wertschätzung von Werken etwa Mendelssohns[8], Halévys[9] oder Heinrich Heines[10]. Diese Gleichzeitigkeit des Ungleichen, diese Widersprüche in Person und Werk Wagners führen so manchen Wagnerverehrer wie Wagnerverächter immer wieder aufs Glatteis.
Es gilt, noch einmal den israelischen Historiker Jakob Katz zitieren. In seinem Buch über „Richard Wagner als Vorbote des Antisemitismus“ heißt es: Die Deutung Wagners "aufgrund der Gesinnung und der Taten von Nachfahren, die sich mit Wagner identifizierten, ist ein unerlaubtes Verfahren." Bei der nach 1945 einsetzenden, rückblickenden Interpretation Wagners durch –Theodor W. Adorno, Hartmut Zelinsky, Paul Lawrence Rose, Marc Weiner, Joachim Köhler, Jens Malte Fischer und wie sie alle heißen, "handelt sich, so“ Jakob Katz, „um eine Rückdatierung, ein Hineinlesen der Fortsetzung und Abwandlung Wagnerscher Ideen durch … Hitler in die Äußerungen Wagners selbst". Wagner dem "Führer" als dessen Propheten, Vorläufer oder Ahnherrn auszuliefern, wäre Hitlers postmortaler Triumph. Der soll ihm nicht gegönnt werden! Wagner heute noch durch die Optik Hitlers wahrzunehmen ist wissenschaftlich unhaltbar, und, wofern gegen bessere Einsicht unternommen, moralisch infam.
Der Text (überarbeitet) folgteinem Vortrag, gehalten in Leipzig, Berlin, Bayreuth 2013. Einzelheiten, Weiterführendes und Nachweise sämtlicher Zitate in meinem Buch „Richard Wagners Antisemitismus. Jahrhundertgenie im Zwielicht“ Darmstadt 2013 (aktualisiert, ergänzt und auf dem neusten Stand der Wissenschaft). Die Erstausgabe erschien in Würzburg 1993 (Dissertation), dann neu in Berlin 2000 „Richard Wagners Antisemitismus. Jahrhundertgenie im Zwielicht. Eine Korrektur“.
Auszug aus meinem Buch „Richard Wagners Antisemitismus. Jahrhundertgenie im Zwielicht“:
Wagners Schrift „Über das Judentum in der Musik“ im antisemitischen Umfeld Deutschlands
Was man von seinen Bühnenwerken mit Sicherheit sagen kann, dass sie frei sind von jeglichem Antisemitismus, lässt sich nun von Wagners theoretischen Abhandlungen wahrlich nicht behaupten. Doch es gilt das, was als Antisemitismus in Wagners Schriften eindeutig zu sein scheint, einer differenzierten und genauen Betrachtungsweise zu unterziehen, um sich vor voreiligen Schlüssen zu hüten und das heißt vor allem, den exakten Stellenwert von Wagners Judenfeindlichkeit im Prozess der Entstehung des modernen deutschen Antisemitismus zu bestimmen. Mit dem Aufsatz über "Das Judentum in der Musik" hat sich Wagner 1850 erstmals öffentlich als Antisemit zu erkennen gegeben. Er hat damit die Gemüter der musikalischen Welt heftig erregt und im Grunde bis heute in zwei Lager gespalten. Als er diese infame Schrift 1869 als selbständige "Judenbroschüre" noch einmal herausgab, (über die Gründe der Wiederveröffentlichung lässt sich nur spekulieren, gewiss hat Cosima Anteil daran[11],) hat er den Aufsatz einer entscheidenden Überarbeitung unterzogen. Einer Überarbeitung im Sinne von Verdeutlichung und Relativierung des tatsächlich Intendierten (das in der Leidenschaftlichkeit der Debatte oft falsch gedeutet wird). Wagner erweist sich aber mit dieser Schrift (die entgegen anderslautender Meinungen keinesfalls sein Alpha und Omega in der Judenfrage darstellt) nicht als der singuläre und exponierte Antisemit, als der er oft bezeichnet wird, sondern er steht - noch im Vorfeld der eigentlichen "Inkubationsperiode der antisemitischen Bewegung"[12] in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre - durchaus in der Tradition utopisch-sozialistischen Denkens mit grundsätzlich versöhnlicher Intention, so gehässig und charakterlos seine ganz persönlichen Invektiven gegen Meyerbeer und Mendelssohn in dieser Schrift unbezweifelbar sind. Bei genauerem Hinsehen übrigens hat Wagners Zürcher Judenschrift in der Tat "Kennzeichen eines harmlosen Dilettanten"[13] (Horst Althaus).
"Das Judentum in der Musik" ist ohne Frage eine wütende und eine unverzeihliche Diatribe, doch ihr kommt weder im Leben Wagners, noch im wirkungsgeschichtlichen Sinne die Bedeutung zu, die ihr oft angelastet wird. Schließlich sind Wagners spätere Aufsätze in den Bayreuther Blättern, die sich mit der Judenfrage beschäftigen, gekennzeichnet von deutlichen Gesten der Rücknahme, ja Kehrtwende. Um den wahren Stellenwert der Judenschrift Wagners zu ermitteln, bedarf es daher einer sehr differenzierten Einordnung dieser Schrift in den geschichtlichen Kontext, das heißt konkret in den Prozess der Entstehung des modernen Antisemitismus in Deutschland. Deshalb sei der Analyse des Aufsatzes über "Das Judentum in der Musik" zunächst ein Abriss dieses historischen Prozesses vorangestellt.
Mit der Ausbildung des modernen Verfassungsstaates war in Westeuropa die Emanzipation der Juden aus der Isolierung des Ghettos, in die sie die christliche Ständegesellschaft bis ins 18. Jahrhundert gedrängt hatte, eine fast selbstverständliche Folge. In Ost und Südosteuropa - vor allem in Russland - dagegen, wo es im 18. und 19. Jahrhundert nicht zur Entstehung moderner Verfassungsstaaten kam, verblieben die Juden noch lange in der seit dem Mittelalter bestehenden Situation der Rechtlosigkeit, der Diskriminierung und Isolierung. Sie wurden dort immer wieder verfolgt und von Pogromen bedroht, als in Deutschland bereits die Assimilation weit fortgeschritten war. So wurden gerade für die Juden Osteuropas im neunzehnten Jahrhundert, aber auch noch zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, die Staaten des Deutschen Bundes bzw. das Deutsche Reich bevorzugtes Ziel der Auswanderung.
Seit Napoleon in den Rheinstaaten mit dem Import der Ideale von 1789 die Ghettos öffnete und eine erhebliche Verbesserung der Lage der Juden herbeiführte, entwickelten sich auch in den übrigen Territorialstaaten Deutschlands trotz nach wie vor ständestaatlich-feudalistischer Elemente der Politik und des Gemeinwesens bürgerlich-liberale Gruppierungen, die für die Emanzipation der Juden eintraten. 1812 schließlich setzten der preußische Staatskanzler Hardenberg und Wilhelm von Humboldt die von fortschrittlichen Intellektuellen vorbereiteten Emanzipationsbestrebungen rechtlich in die Tat um: sie schufen das Gleichstellungsedikt für die Juden, ein Emanzipationsgesetz, das Friedrich Wilhelm der Dritte 1812 verkündete. Auch die Frankfurter Nationalversammlung beschloss 1848/49 die Gleichberechtigung der deutschen Juden. 1869 wurde für den ganzen Bereich des Norddeutschen Bundes die gesetzliche Gleichstellung der Juden beschlossen, 1871 wurde sie schließlich auch in Bayern eingeführt. Die Emanzipationsgesetzgebung im Deutschen Reich war damit abgeschlossen. Die Assimilation der Juden vollzog sich relativ schnell: sie drängten in den Mittelstand, ins wohlhabende Bürgertum und nahmen aktiv an der Gestaltung des kulturellen, aber auch des politischen Lebens teil. Naturgemäß standen die Juden politisch vor allem auf Seiten des Liberalismus und der Demokratiebewegungen. Dennoch gab es - parallel zu den gesellschaftlichen Fortschritten - auch emanzipations- und assimilationsfeindliche Tendenzen: in erster Linie im aufkommenden Nationalismus. In dem Maße, wie die Armeen der Französischen Revolution nach Frankreich zurückgedrängt wurden, geschürt auch von der Metternichschen Restauration, entstand der deutsche Nationalismus als vorwiegend antifranzösischer Affekt, der Liberalismus, Parlamentarismus und Demokratie als "undeutsch" empfand. In den Schriften Johann Gottlieb Fichtes, Ernst Moritz Arndts und Friedrich Ludwig Jahns äußerte sich dieser in mystischer Überhöhung einer angeblichen deutschen Abstammungs- und Blutgemeinschaft. Das aufkeimende deutsche Nationalbewusstsein mobilisierte Aggressivität und Ausgrenzungstendenzen gegenüber allem vermeintlich Undeutschen. Hartwig von Hundt-Radowsky, einer der radikalen nationalistischen Demagogen jener Jahre, plädierte 1819 in seinem "Judenspiegel" für die Entmannung der männlichen Juden und forderte: "Am besten werde es jedoch sein, man reinigte das Land ganz von dem Ungeziefer."[14] Judenfeindliche Demonstrationen in den preußischen Rheinprovinzen, nach dem antijüdischen Hetzruf "Hepp-Hepp-Bewegung" genannt, machten mit Hundts brutalem Antisemitismus teilweise ernst. Schon 1816 hatte Jakob Friedrich Fries mit seinen Hasstiraden unter dem Titel "Über die Gefährdung des Wohlstands und des Charakters der Deutschen durch die Juden" zum Aufkommen einer neuerlichen Judenfeindschaft beigetragen. Besonders durch die Niederlage der liberalen und demokratischen Kräfte 1848/49, die Enttäuschung der revolutionären Hoffnungen und durch die erneuten Herrschaften reaktionärer Regime sind "jene Tendenzen sichtlich gestärkt worden, denen es mehr um die Einheit und Größe der Nation als um die Freiheit und Gleichheit der Bürger ging. Damit wuchs auch die Kraft eines Nationalismus, der die Nation vornehmlich als Blut- und Tugendgemeinschaft begriff, der zum Wahn einer ethisch-moralischen Überlegenheit der Deutschen neigte und andersnationale Nachbarn ebenso mit grundsätzlicher und dauerhafter Feindschaft oder Verachtung begegnete wie den als fremd und sperrig empfundenen Minderheiten im eignen Land."[15] In Gustav Freytags Roman "Soll und Haben", 1855 erschienen, sind derlei assimilationsfeindliche Tendenzen zum literarischen Programm des deutschen Bürgertums erhoben worden. Der Schritt zu politischen Programmschriften war nicht mehr groß. 1873 erschien des Journalisten Wilhelm Marrs Pamphlet "Der Sieg des Judentums über das Germanentum". 1879 rief der Autor eine der Ausbreitung des Antisemitismus dienliche Zeitschrift, die "Antisemitenliga" ins Leben. 1878 hatte der Berliner Hofprediger Adolf Stoecker die Christlich-soziale Arbeiterpartei gegründet, die sich ebenfalls antisemitischer Politik verschrieb. 1880 initiierten der Gymnasiallehrer Bernhard Förster und der Unteroffizier Max Liebermann von Sonnenberg eine "Antisemitenpetition" im Preußischen Abgeordnetenhaus (die zu unterschreiben Wagner sich entschieden widersetzte).
Als schließlich die Konjunktur infolge des preußisch-deutschen Sieges über Frankreich und der Reichsgründung 1873 zusammenbrach und eine deprimierende wirtschaftliche Talfahrt einsetzte, machten große Teile der Bevölkerung die Juden, die im Bankwesen einen gewichtigen Faktor bildeten, dafür verantwortlich. Da sich die Deutschen inzwischen nach einem Sieg über Frankreich, nach der Reichseinigung und im Bewusstsein, zum wirtschaftlich, militärisch und politisch stärksten Staat des Kontinents zu gehören, zu überheblichem Nationalstolz emporgeschwungen hatten, musste sie die wirtschaftliche Depression nur um so empfindlicher verletzen. Die literarische Überhöhung des deutschen Nationalstolzes hatte Gustav Freytag mit seinem Romanepos "Die Ahnen" (1872-1880) geleistet. Darin adelte er diesen Nationalstolz mit einer geheimnisvollen "Deutschheit", die über Jahrhunderte in einer vermeintlichen Blut- und Wesenssubstanz bewahrt worden sei.
Die von Freytag so angepriesenen Tugenden bürgerlicher Tüchtigkeit und deutschen Unternehmersinns haben den Industrialisierungs-, Verstädterungs- und Zivilisationsprozess in Deutschland durchaus befeuert. Auf die damit einhergehende Entfremdung reagierten breite Massen mit Unbehagen, Angst, ja mit antimodernistischer, fortschrittsfeindlicher Kulturkritik, die romantisch-idealisierte, träumerisch-vorindustrielle, rückwärtsgewandte Gesellschaftsutopien entwarf. Wie der Historiker Hermann Graml ausführt: "Intensivierung des Nationalismus, Domestizierung der bürgerlichen Nationalbewegung, Beginn der Vorherrschaft eines an die Blut- und Abstammungsgemeinschaft gebundenen, 'völkischen' Nationalismus, Dominanz einer feudalistisch orientierten Werteordnung, Formulierung und Ausbreitung antimodernistischer Gesellschaftsbilder, Biologisierung der gesellschaftspolitischen Ordnungsbegriffe, Entstehung des erstickenden Gefühls einer 'Raumnot' der deutschen Nation, die Verbindung all dieser Resultate der Reichsgründung musste neben anderen Folgen vor allem eine Konsequenz haben: die stetige Zunahme der Aggressivität des deutschen Nationalismus und der deutschen Nation. Die Suche nach Betätigung und nach Feinden, die dem ohne ausreichende innenpolitische Ziele so aggressiv gewordenen deutschen Nationalismus nun natürlich war, konnte sich nicht allein nach außen wenden. Zwar kam es in der Tat zu einer Wendung nach außen: in einem hektischen Imperialismus, der Kolonien in Übersee als unverzichtbar betrachtete, (... ). Doch richtete sich der aggressive Nationalismus mit gleicher Heftigkeit und Hysterie gegen Minderheiten im eigenen Staat, gegen Elsässer, Lothringer und Polen, gegen 'ultramontane', katholische wie gegen sozialistische 'Reichsfeinde', vor allem aber und ohne jede Ermüdung gegen die Juden."[16]
Der einflussreichste Historiker des Kaiserreichs, Heinrich Treitschke, blies denn auch als Hochschulprofessor wie als Autor populärer historischer Bücher und journalistischer Arbeiten zum Sturm gegen die Juden. Auch wenn er zunächst noch die Assimilation befürwortete und sogar forderte, setzte er doch das folgenreiche Wort in die Welt: "Die Juden sind unser Unglück!" Treitschke schrieb alle negativen Auswüchse der Industrialisierung und Modernisierung den Juden zu, ja stempelte sie und den vermeintlich jüdischen Geist für alle Zeiten zu Feinden der Deutschen und des Deutschen schlechthin. Damit bildete sich ein Antisemitismus aus, der nicht mehr an die christlich ständische Judenfeindschaft gebunden war, sondern sich aus der Verquickung von Antimodernismus und Nationalismus speiste. Taufe und Nobilitierung vermochten dem Juden da nicht mehr zu helfen, Assimilierung geriet aus dem Blickfeld.
Nur noch ein kleiner Schritt war es von Treitschkes antimodernistischem zu Paul de Lagardes militant ausgrenzendem Antisemitismus. Der Orientalist und Kulturphilosoph de Lagarde schrieb 1887: "es gehört ein Herz von der Härte einer Krokodilshaut dazu, um mit den armen, ausgesogenen Deutschen nicht Mitleid zu empfinden und - was dasselbe ist - um die Juden nicht zu hassen, um diejenigen nicht zu hassen, und zu verachten, die - aus Humanität! - diesen Juden das Wort reden, oder die zu feige sind, dies Ungeziefer zu zertreten. Mit Trichinen und Bazillen wird nicht verhandelt, Trichinen und Bazillen werden auch nicht erzogen, sie werden so rasch und so gründlich wie möglich vernichtet!"[17] Damit war jeglichem Gedanken an Emanzipation und Assimilation endgültig abgeschworen. Mit der rassischen Diskriminierung der Juden gegenüber den Deutschen bzw. den Indogermanen wurde die alte, aus dem Mittelalter stammende religiöse Judenfeindschaft ergänzt um eine moderne, weitaus gefährlichere Variante des Judenhasses. Aus ihm speiste sich die politische Zukunft des Antisemitismus.
Der Berliner Philosoph und Nationalökonom Eugen Dühring legte 1881 ein Buch vor, in dem die Verwissenschaftlichung des Antisemitismus nahezu vollständig geleistet war[18]. Darin wurden die Eigenschaften der Menschen als rassisch determiniert und unveränderlich beschrieben. Am unteren Ende der Rassenskala standen die Juden: Sie seien "eines der niedrigsten und misslungensten Erzeugnisse der Natur"[19]. Die Juden, denen der Autor Minderwertigkeit, Abscheulichkeit und Gefährlichkeit attestierte, so heißt es weiter, führten seit Jahrtausenden "einen Unterdrückungs und Ausbeutungskrieg" gegen das Menschengeschlecht, speziell gegen die Deutschen. Die "getauften Juden sind diejenigen, die ohne Hindernisse am weitesten in alle Kanäle der Gesellschaft und des politischen Gemeinlebens eindringen."[20] Die fixe Wahn-Idee einer jüdischen Weltverschwörung war damit geboren. Daran sollte ein Adolf Hitler später nahtlos anknüpfen können.
1918 veröffentlichte Arthur Dinter den äußerst erfolgreichen Roman "Die Sünde wider das Blut", in der aus Dührings Thesen die Schlussfolgerungen gezogen wurden, dass durch sexuelle Beziehungen mit einem Juden das Blut des nichtjüdischen Partners vergiftet werde. Das Grundmuster des rassischen Antisemitismus in seiner für alle späteren Theoretiker vorbildlichen Konzeption war spätestens damit vollendet worden. Ihm folgten der Reichstagsabgeordnete Otto Böckel in seinem 1901 erschienenen Buch "Die Juden - die Könige unserer Zeit", der Kulturkritiker Julius Langbehn mit der 1890 veröffentlichten Schrift "Rembrandt als Erzieher" und 1892 mit "Der Rembrandtdeutsche", aber auch Theodor Fritsch, der 1887 den berühmt-berüchtigten "Antisemiten-Katechismus" herausbrachte, als "Handbuch der Judenfrage" erlebte das Buch vierzig Auflagen. Bei allen Theoretikern eines rassistischen Antisemitismus wurde der "nordischen Rasse", den "Ariern" der minderwertige und gefährliche Jude gegenübergestellt. Diese Dualität wurde nicht nur als Grundmuster zur Erklärung gesellschaftlicher Probleme, sondern schließlich "als Schlüssel zur Interpretation und Deutung der bisherigen Geschichte"[21] benutzt. Ein abstruses Gedankengebäude, das Schule machen sollte[22]. Noch einmal sei hier Hermann Graml zitiert: "Der rassische Antisemitismus, bislang allzu einseitig auf das 'Ausjäten' und das 'Ausmärzen' des minderwertig-gefährlichen jüdischen Elements fixiert, legte sich mit der Adaption sozialdarwinistischer Züchtungsutopien auch ein sozusagen positives rassenhygienisches Programm zur Veredelung der eigenen Art zu, was den wissenschaftlichen Anstrich verschönte und wieder ein Quäntchen mehr Respektabilität verschaffte."[23] Wilhelm Marr hatte ja bereits 1879 vom "Sieg des Judentum über das Germanentum" gesprochen, Hermann Ahlwardt hatte 1890 die Vokabel vom "Verzweiflungskampf" zwischen Ariern und Juden in die Welt gesetzt.[24] Die Wahnvorstellung von der jüdischen Verschwörung zur Erlangung der Weltherrschaft hatte im Bereich der Literatur bereits der Journalist Hermann Goedsche alias Sir John Retcliffe in seinem Roman "Biarritz", der 1868 erschien, mit den Mitteln des Schauerromans entwickelt. Der Beitrag der zeitgenössischen belletristischen Literatur zur Entwicklung des militanten rassistischen Antisemitismus darf nicht unterschätzt werden.[25].
Vor allem in der französischen Literatur gab es eine ganze Reihe von Autoren, die antisemitische Stereotypen tradierten, worauf zuletzt (1986) Dieter Borchmeyer[26] hingewiesen hat. Zu nennen sind da Autoren wie Chateaubriand, Victor Hugo, Eugène Sue, Edgar Quinet, die Brüder Goncourt, Alfred de Vigny und Balzac, Zola, Maupassant[27]. Die Behauptung Borchmeyers allerdings, dass "kaum einer der großen deutschen Schriftsteller des 19. Jahrhunderts Antisemit gewesen"[28] sei, ist schlichtweg als falsch zu bezeichnen. Es lassen sich eindeutig antisemitische Äußerungen nicht nur im erzählerischen Werk Wilhelm Raabes, Gustav Freytags, Felix Dahns, Fritz Reuters und Berthold Auerbachs[29] nachweisen, ganz zu schweigen von der reichen Gattung der Ghettogeschichte oder des Ghettoromans[30], latenter Antisemitismus ist sogar im Werk Theodor Fontanes und des jungen Thomas Mann aufzuspüren. (Freilich hatten letztere Autoren natürlich keinen Einfluss mehr auf Richard Wagner.) Aber auch Ludwig Feuerbach, den Wagner ebenfalls schon früh gelesen hat, Herwegh und Dingelstedt, mit denen er befreundet war, haben in ihren antisemitischen Äußerungen Wagner beeinflusst. Jacob Katz hat darüber hinaus eine, wie er zu Recht bemerkt, "von der Wagnerforschung unbeachtete Stelle ... in der Einleitung Laubes zu seinem im Jahre 1847 erschienenen Drama 'Struensee'" entdeckt, von der er behauptet: "Sowohl die Diagnose (des Antisemitismus, D.S.) als auch die angebliche Therapie werden sich in Richard Wagners Argumentation in fast wörtlicher Übernahme wiederfinden"[31].
Es sei hier nur angemerkt, dass auch die englische Roman-Literatur des 19. Jahrhunderts[32] , man denke nur an Dickens, Thackeray und Disraeli, ebenso wie die russische Literatur (z.B. Gogol, Dostojewski) sich der Verwendung traditioneller, diskriminierender Judenbilder bediente. Diese dürften ebenfalls das negative Judenbild Wagners, der in seiner grenzenlosen Leseleidenschaft natürlich die großen realistischen Romane kannte, entscheidend geprägt haben. Doch zurück zur Politik.
Die Vorbehalte gegenüber radikalen Lösungen der Judenfrage schwanden in den letzten anderthalb Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts zunehmend. Hermann Ahlwardt hatte schon 1895 in einer Reichstagsdebatte die Juden als "Raubtiere" bezeichnet, die es gelte "auszurotten"[33]. Die Hemmschwelle zur Vorstellung von der physischen Ausrottung der Juden hatte schon Karl Paasch 1892 in seinem Danziger "Antisemiten Spiegel" überschritten. Die einfachste Lösung der Judenfrage, so schrieb er, bestehe darin, die Juden umzubringen, die zweitbeste Lösung sei die Deportation nach Guinea. Die Bausteine zum Hitlerschen Antisemitismus mit seiner Vernichtungsideologie waren also in den beiden Jahrzehnten vor dem ersten Weltkrieg bereitgestellt worden. Zumindest ein Teil der nichtjüdischen Deutschen sympathisierte mit diesem radikalen Antisemitismus. Vorübergehend verzeichneten antisemitische Parteien beachtlichen Zulauf. So etwa Stoeckers "Christlichsoziale", die "Soziale Reichspartei" Ernst Henricis, aber auch die "Antisemitische Volkspartei" Otto Böckels.
Der Großteil der nichtjüdischen Deutschen hingegen tolerierte oder begrüßte die Assimilation der Juden. Vor allem die Bürokraten des Deutschen Reiches standen noch auf Seiten des vom Rationalismus und Humanismus geleiteten Geistes des aufgeklärten Absolutismus und somit auf der Seite der jüdischen Emanzipation. So entstand die Situation, "dass der zutiefst illiberale deutsche Antisemitismus, wenn er politisch handlungsfähig werden wollte, als unabdingbare Voraussetzung den Zusammenbruch des Obrigkeitsstaats und den Übergang der Macht an die Parteien in einem System des liberaldemokratischen Parlamentarismus brauchte."[34]
Adolf Hitler trat auf den Plan der Geschichte. 1919 trat er der "Deutschen Nationalsozialistischen Arbeiterpartei" bei, deren Vorsitz er 2 Jahre später übernahm. 1925/26 legte er seine antisemitische Bekenntnis- und Kampfschrift "Mein Kampf" vor. Die Bausteine dazu hatte er vorgefunden. Von nun an konnte kein Zweifel mehr daran bestehen, was er mit den Juden vorhatte. Und seine ideologischen wie politischen Helfershelfer brauchten nurmehr zu paraphrasieren, was in "Mein Kampf" systematisch abgehandelt war. Sie wurden nicht müde, den Hitlerschen Antisemitismus als Heilsbotschaft der Deutschen zu verkünden, je mehr die NSDAP zur Massenbewegung wurde, desto lautstärker. Originalität war Hitlers antisemitischer Weltanschauung nicht im Mindesten eigen. Sie war nicht mehr als ein krudes Amalgam des Antimodernismus, den Treitschke und de Lagarde an Langbehn und Chamberlain weitergereicht hatten, vermischt mit rassistischem Sozialdarwinismus Eugen Dührings, Hermann Ahlwardts und Otto Böckels, die ihn begründet hatten, vermittelt durch Ludwig Schemann und in erster Linie Houston Stewart Chamberlain. Von ihm wird im Folgenden noch ausführlich zu reden sein.
(Alfred Rosenberg sollte eine sehr ähnliche Mixtur 1930 in seinem "Mythus des zwanzigsten Jahrhunderts", einem programmatischen Standardwerk der NS-Weltanschauung, noch einmal aufkochen.)
Der Ausgang des ersten Weltkrieges mit seinen für Deutschland katastrophalen wirtschaftlichen Folgen und das letztendliche Scheitern der Weimarer Republik, die die Nationalsozialisten zur "Judenrepublik" abgestempelt hatten, verhalfen der Partei Hitlers zum Erfolg. Mit der Machtübernahme Hitlers 1933 wurde die NSDAP Staatspartei, deren antisemitische Ideologie Staatsideologie mit dem Ziel der Auslöschung alles Jüdischen. Alles Weitere dürfte bekannt sein.[35]
[1] Wagner, Richard: Sämtliche Briefe Bd. 12, S. 252-253
[2] Wagner, Richard: Sämtliche Briefe Bd. 12, S. 260
26 Wagner, Richard: Sämtliche Briefe Bd. 1, S. 206
[4] In einem Brief an Friedrich Engels anlässlich der ersten Bayreuther Festspiele 1876.
[5] Nietzsche, Friedrich: Ecce homo. In: Werke Bd. 2, S. 1092
[6] CT Bd. 3, S. 397.
[7] CT Bd. 3, S. 129.
[8] CT Bd. 1, S. 404; Bd. 3, S. 361.
[9] CT Bd. 2, S. 919; Bd. 3, S. 107; Bd. 4, S. 970.
[10] CT Bd. 1, S. 178.
[11] Siehe dazu die Ausführungen in Kap. III.
[12] Jakob Katz: Richard Wagner, Vorbote des Antisemitismus, op. cit., S. 171.
[13] Horst Althaus: Richard Wagner. Genie und Ärgernis, Bergisch Gladbach 1982, S. 99.
[14] Zitiert nach Hermann Graml: Reichskristallnacht. Antisemitismus und Judenverfolgung im Dritten Reich, München 1988, S. 53.
[15] ebd. S. 56 f.
[16] ebd. S. 64.
[17] Paul de Lagarde: Juden und Indogermanen. Eine Studie nach dem Leben, Göttingen 1887, S. 339.
[18] Eugen Dühring: Die Judenfrage als Racen, Sitten und Culturfrage. Mit einer weltgeschichtlichen Antwort, Karlsruhe Leipzig 1881.
[19] ebd. S. 109.
[20] ebd. S. 3.
[21] Hermann Graml: Reichskristallnacht, op. cit., S. 74.
[22] Als groteske und dem gebildeten Bürgertum obsolet scheinende Beispiele mögen der ehemalige österreichische Zisterziensermönch Adolf Lanz, der sich selbst zu Jörg Lanz von Liebenfels scheinadelte, sowie der Münchner Intellektuelle Alfred Schuler gelten. Jörg Lanz entwickelte eine rassistische "Theozoologie", die er in den berüchtigten "Ostara"-Heften verkündete, Alfred Schuler schwang sich im großbürgerlichen Münchner Milieu zum Apostel eines germanischen Blutkultes auf.
[23] Hermann Graml: Reichskristallnacht, op. cit., S. 77.
[24] Hermann Ahlwardt: Der Verzweiflungskampf der arischen Völker mit dem Judentum, Berlin 1890.
[25] siehe dazu: Juden in der deutschen Literatur. Ein deutsch-israelisches Symposion, herausgegeben von Stéphane Moses und Albrecht Schöne, Frankfurt/a.M. 1986; vgl. auch: Juden und Judentum in der Literatur, herausgegeben von Herbert A. Strauss und Christian Hoffmann, München 1985.
[26] Dieter Borchmeyer: Richard Wagner und der Antisemitismus, S. 152 ff. In: Wagner-Handb.
[27] Vergleiche dazu: Walter A.Strauss: Judenbilder in der französischen Literatur, op. cit., S. 307-338.
[28] Borchmeyer: Richard Wagner und der Antisemitismus, in Wagner-Handb. S. 152.
[29] Siehe hierzu: Hans Otto Horch: Judenbilder in der realistischen Erzählliteratur, in: Wagner-Symposium S. 140-172.
[30] Siehe hierzu: Geschichten aus dem Ghetto, hrsg. von Jost Hermand, Frankfurt am Main 1987.
[31] Katz S. 36.
[32] Siehe hierzu: Pauline Paucker: Jüdische Gestalten im englischen Roman des 19.Jahrhunderts, in: Juden und Judentum in der Literatur, op. cit., S. 106-140.
[33] Stenographische Berichte über die Verhandlungen des deutschen Reichstages, 53. Sitzung, 6. März 1895, S. 1296 ff. (Zitiert nach Hermann Graml)
[34] Hermann Graml: Reichskristallnacht, op. cit., S. 83.
[35] Siehe dazu im Einzelnen Hermann Graml: Reichskristallnacht (siehe Anm. 4), dessen logischer, essentieller Darstellung ich weitgehend folge. Vgl. auch: Paul Massing: Vorgeschichte des politischen Antisemitismus, Frankfurt 1959; Peter G. J. Pulzer: Die Entstehung des politischen Antisemitismus in Deutschland und Österreich 1867 bis 1914, Gütersloh 1966; Hans Jürgen Puhle: Agrarische Interessenpolitik und Konservatismus im wilhelminischen Reich 1893 - 1914, 2. Aufl. Bad Godesberg 1975; Hermann Greive: Geschichte des modernen Antisemitismus in Deutschland, Darmstadt 1983; Jakob Katz: Vom Vorurteil bis zur Vernichtung. Der Antisemitismus 1700-1933, München 1989; Friedrich Battenberg: Das europäische Zeitalter der Juden. Zur Entwicklung einer Minderheit in der nichtjüdischen Umwelt Europas (2 Teilbände), Darmstadt 1990.
Als Wagner nach elf Jahren Exil, begnadigt vom sächsischen König, zum ersten Mal wieder deutsche Grenzen überschritt, bekannte er seinem Zürcher Mäzen Otto Wesendonck: „Von Ergriffenheit beim Wiederbetreten des deutschen Bodens habe ich – leider! – auch nicht das Mindeste verspürt“.[1] In einem Brief an Franz Liszt vom 13. September 1860 schrieb er: „Mit eigentlichen Grauen denke ich jetzt nur an Deutschland und meine für dort berechneten zukünftigen Unternehmungen. Verzeihe es mir Gott, aber ich sehe dort nur Kleinliches und Halbheit in Allem und Jedem, (...) Glaub' mir, wir haben kein Vaterland! Und wenn ich ‚deutsch’ bin, so trage ich sicher mein Deutschland in mir...“[2] Es ließen sich unzählige Briefe Wagners zitieren, in denen sich seine mit zunehmendem Alter steigernde Aversion gegen Deutschland und die Deutschen ausspricht. Wagner hatte sich in Deutschland im Grunde nie zuhause gefühlt. Schon der 22-jährige Student Wagner bekannte seinem Leipziger Studienfreund Theodor Apel: „Hinweg aus Deutschland gehöre ich!“[3] Und wenn Karl Marx den Komponisten Wagner als deutschen „Staatsmusikanten“[4] bezeichnete, so hat er ihm damit ein völlig falsches, aber folgenreiches, bis heute nicht abzulösendes Etikett angeheftet. Der Philosoph Friedrich Nietzsche hat dem heftig widersprochen und behauptet, dass Wagner „nirgendwo weniger hingehört als nach Deutschland“, ja dass Wagner „unter Deutschen bloß ein Missverständnis ist“.[5] Nietzsche hat Recht gehabt! Dass Wagner missbraucht werden konnte, liegt auf der Hand. Die Wiederbelebung germanischer Mythenstoffe und mittelalterlicher Epen, Wagners Betonung des "Volkshaften" und "Deutschen" aus dem Geiste der romantischen Tradition, sein ethisch-ästhetischer Erneuerungswille, sein Kulturpessimismus und sein in privaten Äußerungen wie in theoretischen Schriften vernehmbarer Antisemitismus konnten natürlich im Zeitalter des Nationalismus starke völkische, nationalistische Impulse und Affekte auslösen. Allerdings nur unter Ausblendung alles dem Widersprechenden, alles Religiösen, Revolutionären, Antibürgerlichen, ja Anarchisch-Staatsfeindlichen, das ja auch in Wagner enthalten ist. Und das ist eine der wichtigsten Einsichten der intensiven Beschäftigung mit Wagner, dass er voller Widersprüche ist. Wagner war Sozialist und Kapitalist, Großbürger und Bohemien, er war Antisemit und doch befreundet mit vielen Juden und all das gleichzeitig. Er hat sich die schrecklichsten Scherze über Juden erlaubt. Und hat doch Cosima gegenüber eingestanden, "dass die Juden schließlich doch besser seien als die Bildungsphilister".[6] Als er sie einmal mit Katholiken und Protestanten verglich, bezeichnete er sie Cosima gegenüber als "die allervornehmsten"[7]. Nicht zu reden von den wiederholten Äußerungen großer Wertschätzung von Werken etwa Mendelssohns[8], Halévys[9] oder Heinrich Heines[10]. Diese Gleichzeitigkeit des Ungleichen, diese Widersprüche in Person und Werk Wagners führen so manchen Wagnerverehrer wie Wagnerverächter immer wieder aufs Glatteis.
Es gilt, noch einmal den israelischen Historiker Jakob Katz zitieren. In seinem Buch über „Richard Wagner als Vorbote des Antisemitismus“ heißt es: Die Deutung Wagners "aufgrund der Gesinnung und der Taten von Nachfahren, die sich mit Wagner identifizierten, ist ein unerlaubtes Verfahren." Bei der nach 1945 einsetzenden, rückblickenden Interpretation Wagners durch –Theodor W. Adorno, Hartmut Zelinsky, Paul Lawrence Rose, Marc Weiner, Joachim Köhler, Jens Malte Fischer und wie sie alle heißen, "handelt sich, so“ Jakob Katz, „um eine Rückdatierung, ein Hineinlesen der Fortsetzung und Abwandlung Wagnerscher Ideen durch … Hitler in die Äußerungen Wagners selbst". Wagner dem "Führer" als dessen Propheten, Vorläufer oder Ahnherrn auszuliefern, wäre Hitlers postmortaler Triumph. Der soll ihm nicht gegönnt werden! Wagner heute noch durch die Optik Hitlers wahrzunehmen
ist wissenschaftlich unhaltbar, und, wofern gegen bessere Einsicht unternommen, moralisch infam.
Der Text folgt (bearbeitet) einem Vortrag, gehalten in Leipzig, Berlin, Bayreuth 2013. Einzelheiten, Weiterführendes und Nachweise sämtlicher Zitate in meinem Buch „Richard Wagners Antisemitismus. Jahrhundertgenie im Zwielicht“ Darmstadt 2013 (aktualisiert, ergänzt und auf dem neusten Stand der Wissenschaft). Die Erstausgabe erschien in Würzburg 1993 (Dissertation), dann neu in Berlin 2000 „Richard Wagners Antisemitismus. Jahrhundertgenie im Zwielicht. Eine Korrektur“.
[1] Wagner, Richard: Sämtliche Briefe Bd. 12, S. 252-253
[2] Wagner, Richard: Sämtliche Briefe Bd. 12, S. 260
26 Wagner, Richard: Sämtliche Briefe Bd. 1, S. 206
[4] In einem Brief an Friedrich Engels anlässlich der ersten Bayreuther Festspiele 1876.
[5] Nietzsche, Friedrich: Ecce homo. In: Werke Bd. 2, S. 1092
[6] CT Bd. 3, S. 397.
[7] CT Bd. 3, S. 129.
[8] CT Bd. 1, S. 404; Bd. 3, S. 361.
[9] CT Bd. 2, S. 919; Bd. 3, S. 107; Bd. 4, S. 970.
[10] CT Bd. 1, S. 178.
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