Merope in Innsbruck 2019

Photo: Rupert Larl / Tiroler Landestheater Innsbruck

 

Die diesjährigen 43. Innsbrucker Festwochen der Alten Musik stehen im Zeihen des 500. Todesjahres Kaiser Maximilians I., der Innsbrucks Ruf als bedeutende Musik-stadt begründete,  und des 350.Todesjahres des Innsbrucker Hofmusikers Pietro An-tonio Cestis. Im umfangrei-chen Festivalprogramm wird die Schatzkiste der Musik von Habsburger Hofmusikern in hochkarätig besetzten Konzerten geöffnet, nicht zuletzt im auratischen Spanischen Saal von Schloss Ambras.  Die beiden Neupro-duktionen der Opern „Merope“ von Riccardo Broschi und „La Dori“ von Pietro An-tonio Cesti sind Höhepunkte des diesjährigen Festivals. Am Mittwoch 7. August hatte „Merope“ im Landestheater Premiere.

 

Langweilige Ausgrabung von Riccardo Broschis „Merope“


 

Riccardo Broschi  kam als ältestes von drei Kindern im neapolitanischen König-reich, wahrscheinlich um 1698, auf die Welt. Seine Eltern gehörten  zum niederen, wenn auch nicht wohlhabende Amtsadel. Riccardos jüngere Geschwister waren Dorotea (*1701) und Carlo (*1705), der einer der berühmtesten Kastraten seines Jahrhunderts werden sollte und unter dem Namen Farinelli für Furore auf den Opernbühnen Europas sorgte.  Mindestens vier Opern komponierte Carlo Broschi, ohne jedoch eine nachhaltige Erfolgskarriere zu erlangen,  trotz aller Protegierung durch seinen Bruder. Er stand zeitlebens in dessen Schatten. Mit der Komposition der Oper „Merope“ befand sich Riccardo Broschi auf seinem Schaffenshöhepunkt. In ihr schrieb er die Heldenrolle des Epitide – mit zwei der wohl bekanntesten und schönsten Broschi-Arien  - «Chi non sente al mio dolore», die letzte Arie des 1. Aktes, und «Se pensare potessi» im 2. Akt. - auf den Leib.1732 wurde das Werk  in Turin zur Uraufführung gebracht.  Ein letztes Mal wurde «Merope»  1737  für den Grafen Johann Adam von Questenberg, Schlossherr und Musikmäzen auf Schloss Jarmeritz in Mähren, aufgeführt. Dann wurde die Oper  und ihr Komponist ver-gessen und fiel durchs Rost der Musikgeschichte.  Insofern war man gespannt auf die Ausgrabung, zumal Festwochen- und musikalischer Leiter dieser Neuprodukt-ion, Allesandro de Marchi versprach, den Beweis anzutreten zu wollen, dass das Werk zu Unrecht vergessen worden und ein Meisterwerk der neapolitanischen Oper sei. Doch die Wiederbegegnung mit dem Werk zeigte eben doch, dass Riccardo Broschis „Merope“  dramaturgisch und kompositorisch mit Opern seiner Zeitgenos-sen Johann Adolph Hasse und Nicola Porpora, aber auch Pergolesi, Vinci oder Traetta nicht mithalten kann.  Zu schweigen von Georg Friedrich Händel. Das war eine andere Liga.

 

Die Handlung des dreiaktigen Werks entspricht dem konventionelle Typ der Opera Seria der Zeit, ein ausufernder, verzwickter Heldenschinken, zu dem Apostolo Zeno das Libretto schrieb. In Messene, der Hauptstadt Messeniens, einem Gebiet im Südwesten der Peloponnes, regiert König Cresfonte mit seiner Gattin Merope. Polifonte, wie Cresfonte vom Geschlecht der Hera-kliden (den Nachkommen des Herakles), lässt den König und zwei seiner Kinder von Anassan-dro (dem Anführer der Leibwächter der Königin) ermorden, um selbst an die Macht zu kom-men. Als einziges Kind von Cresfonte und Merope überlebt den Mordanschlag Epitide, der in der Fremde bei Tideo, dem Herrscher von Ätolien, weilt. Polifonte schiebt die grau-same Tat Merope in die Schuhe, die daraufhin ihren Regierungsanspruch verliert und den Thron Polifonte überlassen muss. Bedingung für Polifontes Thronbestei-gung ist allerdings sein Versprechen, Cresfontes jetzt noch minderjährigen Sohn Epitide, sobald dieser aus der ätolischen Gefangen-schaft bei Tideo entlassen werde und nach Messene zurückkehre, zum König zu machen. Polifonte versucht zur Ab-sicherung seiner Anrechte auf den Thron die Königswitwe Merope zu überzeugen, ihn zu heiraten. Merope willigt zwar ein, erbittet sich aber eine zehnjährige Frist bis zur Hochzeit, in der Hoffnung, dass Epitide doch noch zurückkehre und seinem Vater auf den Königsthron folge. Epitide hat sich währenddessen in Ätolien mit Tideos Tochter Argia verlobt. Als dies Polifonte erfährt, lässt der Tyrann Argia gewaltsam entführen. Mit ihr als Pfand hofft er, eine Auslieferung von Epitide zu erzwingen. Doch auch Tideo hat einen Plan ausgeheckt und entsendet den Botschaf-ter Licisco, der Polifonte die Nachricht überbringen soll, dass Epitide tot sei. Poli-fonte plante bereits die Beseitigung von Epitides, dem es aber durch eine List ge-lang, der Ermordung zu entgehen und unerkannt - unter dem Decknamen Cleon - in seine Heimat zu gelangen: gerade rechtzeitig, um die Heirat zwischen Merope und Polifonte zu verhindern, die Unschuld seiner Mutter zu beweisen, seinen verräte-rischen Onkel zu entlarven und mit der ätolischen Prinzessin Hochzeit zu feiern.


Farinellis zugedachte, ihm in den Hals komponierte Rolle des Epitide ist eine enor-me Partie mit Skalen zwischen profunder Tiefe und schwindelerregender Höhe, er singt höher und tiefer als alle anderen Stimmen der Oper , aber auch mit zwei wun-derbaren, langsamen Arien. Es gibt neben den vielen Arien der übrigen Sänger Mär-sche, Chöre und Fanfaren. Wie es damals üblich war, enthält jeder Akt finale Tanz-szenen, deren Musik von ortseigenen Komponisten beige-steuert wurden: Bauern-tänze, Maskentänze a la Comedia dell Arte (in Innsbruck gibt man einen lächerli-chen Tanz um die Wurst) und einen großen Finaltanz zum «Happy end». Da zur Zeit der Uraufführung von «Merope» in Turin der französische Tanzstil vorherrsch-te, suchte De Marchi nach dem ersten und dritten Akt Tanzmusik von dem franzö-sischen Komponisten und Tänzer Jean-Marie Leclair aus. Für das zweite Ballett, das in Turin ein italienischer Choreograph einstudierte, hat er Musik von Carlo Alessio Rasetti benutzt. Alles in eigener Orchestrierung (gemeinsam mit Chiara Cattani) und Vervollständigung. Auch die Oper an sich hat Alessandro de Marchi gemeinsam mit Giovanna Barbati neu ediert, da  nur eine sparsame Orchestrierung überliefert ist. Deshalb hat De Marchi an manchen Stellen weitere Instrumente in-tegriert, wie er in einem im Programmheft abgedruckten Interview erklärt: „So spielten zum Beispiel Traversflöten und Oboen immer die Stimme der ersten Gei-gen mit, aber das steht nicht immer in der Partitur. Die Partitur war in der damaligen Zeit nur das Gerippe, und bei jeder Produktion des jeweiligen Werkes wurde dann von Kopisten noch einiges hinzugefügt. Sie haben die Stimmen der anderen In-strumente so vorbereitet, dass diese auch an Stellen spielen können, an denen sie nicht in der Partitur stehen. So haben etwa die Fagotte gemeinsam mit den Bässen gespielt, und wenn Hornstimmen notiert waren, kamen auch die Trompeten dazu, oder umge-kehrt. All diese Stimmen haben die Kopisten vorbereitet. Der Komponist der Oper konnte dann in der letzten Probenphase entscheiden, welche Farben er nun wirklich haben will und welche Instrumente an welchen Stellen spielen sollen... Eine einzige Arie ist vollständig instrumentiert erhalten, mit Oboen, Trompeten, Streichern und Continuo (Epitides große Arie im zweiten Akt). Ansonsten musste ich in die Kopistenrolle schlüpfen und alle Stimmen so vorbereiten, um uns in den Proben für die richtigen orchestralen Farben entscheiden zu können.“

 

Sigrid T’Hooft, als Spezialistin für historische Inszenierung geltend, hat die Regie dieser Opernausgrabung übernommen, einschließlich der Choreografie der Statisten und sechs Tänzer der Truppe  Corpo Barocco. Stephan Dietrich hat für sie eine Art Nachbau einer barocken Guckkastenbühne (sowie prachtvolle, farbintensive baroc-ke Opera Seria-Kostüme mit viel Brokat, Tüll, Federschmuck und Geschmeide) ent-worfen. Es gibt offene Verwandlungen  und Kulissenfahrten von Außen- in Innen-räume, bei durchweg gelblichem Kerzenlicht nachemp-fundener, sanfter Beleuch-tung (Tommy Geving).


Sigrid T’Hooft setzt ganz auf barocke Gestik und Mimik, sie will so etwas wie his-torische Aufführungspraxis im Szenischen realisieren. Dass die glaubhaft gelingen kann, haben durchaus einige  Produktionen anderer Regisseure der letzten zwanzig Jahre bewiesen. Doch Siegrid T´Hoofts Produktion überzeugt nicht. Ihr Motto „Was das Ohr hört, sieht das Auge“ erweist sich als pures Lippenbekenntnis. Zu schema-tisch ist ihr Bewegungskanon, zu unterschiedlich (überzeugend) wird er von den Darstellern realisiert. Die szenischen Affektposen zünden nicht, wirken aufgesetzt, ja konventionell und bewirken rituelle Statik. Das Ergebnis: Langweiliges, spannungsloses  Rampentheater in pseudohistorischer Kulisse  


Das neuformierte Innsbrucker Festwochenorchester debütiert mit „Merope“. Es macht seine Sache gut, aber Alessandro de Marchi hätte das Werk mit seiner redun-danten, übers Konven-tionelle nicht hinausgehenden Musik bei streckenweise auf der Stelle tretenden, immer glei-chen, simplen Rhythmen und seinen vielen Endlos-Arien, kürzen müssen. Mehr als 5 Stunden dauerte die Aufführung inklusive zweier kurzer Pausen. Das Sitzfleisch des Publikums (so manche Premieren-Zuschauer flo-hen spätestens nach dem zweiten Akt) wird auf eine harte Probe gestellt. Zumal die Musik nur wenige wirklich interessante, aufregende Qualität und Wirkung offen-bart, was aber auch an der Umsetzung De Marchis liegt. Zu einfühlsam und subtil, ja andächtig geht er das Werk an. Mit etwas mehr Kraft, gestalterischer Delikatesse, konturenschärferer Phrasierung und mit mehr musikantischer Phantasie wäre das Stück mög-licherweise zu retten gewesen. So aber ist es ein endlos scheinender, mit Verlaub gesagt langweiliger Opernschinken, den heute wiederaufzuführen nicht zwingend notwendig erscheint.


Dabei macht die Innsbrucker Sänger-Equipe durchaus etwas her. Über die Beset-zung  lässt sich allerdings streiten: Bei der Uraufführung sang neben Farinelli noch ein weiterer Kastrat. Die Partie des Trasimede war mit dem Soprankastraten Fran-cesco Bilancioni besetzt. Die beiden weiteren Männerrollen Anassandro und Licisco wurden von Frauen gesungen. Caterina Giorgi sang Anassandro und Maria Caterina Bussolona den Licisco, beide tiefe Mezzosopranistinnen.   Bei der Innsbrucker Produktion ist es genau umgekehrt wie bei der Uraufführung in Turin: Trasimede wird von einer Frau gesungen, Anassandro und Licisco hingegen hat Alessandro de Marchi mit zwei weiteren Countertenören besetzt, einzig die Partie der Argia, der Auserwählten von Epitide, ist damals wie heute mit einer Sopranistin besetzt. 


Die Mezzosopranistin Anna Bonitatibus fasziniert durchaus  in der Titelpartie der Merope. Ihr sängerisches Gestaltungspotential ist groß, doch leider zeigt ihre stimmliche Verfassung  bereits einige Abnutzungserscheinungen.  Der Tenor Jeffrey Francis, der den Polifonte, (Tyrann von Messenien) singen sollte, ist wegen Krank-heit ausgefallen. Dankenswerterweise  hat sich Carlo Vincenzo Ermanno bereit-erklärt, die Partie aus dem Orchestergraben zu singen,  während sie auf der Bühne von einem stummen, etwas hilflos agierenden, auch in seiner äußeren Erschei-nung beinahe wie die Karikatur eines  Theaterkönigs wirkenden Schauspielers gedoubelt wird.

 

Der Farinelli-Paraderolle des Epitide leiht der australische Countertenor David Han-sen seine leider etwas mulmige, in der Tiefe unnatürlich guttural gefärbte, unschön gepresste Stimme. Erstaunlich ist  seine enorme Virtuosität und sein Durchhaltever-mögen, enttäuschend allerdings seine Wortverständlichkeit. Der Countertenor Ha-gen Matzeit überzeugt hingegen voll und ganz in der Partie des Licisco. Die renom-mierte Mezzosopranistin Vivica Genaux brilliert als Trasimede. Eine samtene Virtuosa. Für die brilliantesten vokalen Glanzlichter der Aufführung sorgen aller-dings der florentinische Countertenor Filippo Mineccia als Anassandro mit seiner strahlenden, natürlich klingenden und technisch absolut intakten Ausnahmestimme, sowie die lupenrein intonierende, mit ihren Klanggirlanden wirkliches Sängerglück verströmende Sopranistin Arianna Vendittelli als Argia, Prinzessin von Ätolien.


Rezension auch in nmz online