Rake´s Progress beim Festival d´Aix-en-Provence

Photos: Pascal Victor / ArtComPress  / Festival d‘ Aix-en-Provence


Digitales Zauber- und Stationendrama mit ironischer

Reverenz an Mozartsch


Igor Strawinskys “Rake´s Progress” beim Festival d‘ Aix-en-Provence.

Premiere 5. 7. 2017


Sie war sein erklärtes „Weltabschiedswerk “, die Oper "The Rake's Progress", die Strawinsky 1951 in Venedig herausbrachte und die ihm, dem großen russischen Erneuerer der Musik, weltweit Anerkennung brachte. Ausgerechnet  in dieser Oper zeigt sich Igor Strawinsky über weite Strecken als ein Mozart des 20. Jahrhunderts. Nach dem Aufbruch in die Moderne, für deren russische Stoßkraft seine wegweisenden Komposition des „Le sacre du printemps“ aus dem Jahre 1913 galt, hatte der Rimskij-Korsakov-Schüler in den Werken seines "Neoklassi-zismus" immer wieder die Auseinandersetzung mit den Alten Meistern der Musik gesucht. Aber nirgends ist seine Reverenz an das Mozartsche Modell der Lorenzo-Da-Ponte-Opern so evident. Strawinsky hat in diesem seinem Paradigma einer klassischen Oper, angeregt durch die Kupfer-stichserie „A Rake´s Progress“ des englischen Malers und Kupferstechers William Hogarth "Musik über Musik" geschrieben (Rudolf Kolisch), hat musikalische Formen mit Bewunderung zitiert und zugleich mit Ironie entstaubt.


"Neoklassizismus" hin, musikalische Kleptomanie her: Strawinskys hatte bereits 1939, als er in die U.S.A. übersiedelte, die 1947-1951 entstandene Oper "The Rake`s Progress" ins Auge ge-asst. Ein Jahrhundertwerk, sicher. Doch von heute aus ist es problematisch. Es mangelt diesem Pastiche einer mozartischen "Opera buffa" vor allem an packendem musikalischem "Ausdruck" (ein Reizwort für Strawinsky) und an dramatisch-szenischem Fleisch und Blut. Nicht ohne Grund war schon die Uraufführung in Venedig 1951 mehr ein gesellschaftliches als ein künstle-risches Ereignis gewesen. Ein reizvolles Sammelsurium musikalischer Erinnerungsstücke, eine literarisch beziehungsreiche Parabel ist das Werk ohne Frage, ein dankbares Stück Musiktheater nicht. Dabei ist die von Hogarths (sozialkritischer) Kupferstich-Serie inspirierte Thematik gar nicht so uninteressant. Und das Libretto bietet durchaus Anlässe für theatralische Verleben-digung. Doch es kommt darauf an, dass Regie und Ausstattung nicht zu sehr auf gestelzte Parodie und kühle Ironisierung setzen, um sich die szenischen Möglichkeiten dieser doch in erster Linie kompositorisch-handwerklich interessanten Nummernoper, die ja bereits musika-lisch (wie literarisch im Libretto) zur Genüge ironisch paraphrasiert, anleiht, ja parodiert, nicht zu vergeben.


Es mag indes kein Zufall gewesen sein, dass der Emigrant Strawinsky (fast zur gleichen Zeit wie Thomas Mann mit seinem "Dr. Faustus") sich ausgerechnet jenen auf die Hybris Don Gio-vannis wie Fausts reflektierenden Stoff mit dem Teufelsbund-Motiv wählte. Auch wenn es Strawinsky und seinen Librettisten primär wohl nicht um Sozialkritik, Politik und Moral ging (auf die sie dann allerdings doch nicht ganz verzichteten): dem Ernst und der im Grunde tragi-schen Fabel des Stoffs wird man wohl nur mit einer Inszenierung gerecht werden, die diese Zusammenhänge klug reflektiert und sinnig veranschaulicht.


Insofern darf die Produktion von Simon Mc Burney und seinem Team ( Michael Levine, Set Designer), Paul Anderson (Lighting Designer),Will Duke (Video Designer) und Christina Cunningham (Costume Designer), die man beim Festival d‘ Aix-en-Provence (in Koproduktion mit der Amsterdamer Oper) herausbrachte, auch wenn man des Video-, Projektions- und Digital- Operntheaters allmählich überdrüssig ist, beinahe ein Glücksfall genannt werden, denn mit schier grenzenlosem und unerschöpflichem Einfalls-, Anspielungs- und Verwandlungs-reichtum zaubert man sich technisch aufs Raffinierteste quer durch die Zeiten, von Hogarth bis heute, vom ländlichen Idyll des 18. Jahrhunderts bis hinein ins moderne Londoner Großstadt-leben. Die an hübschen Tableaus und Aktionismus reiche Inszenierung ist eine ständig bewegte Aben-teuerreise als filmisch digitales und videoinstalliertes Stationendrama, das sich aus dem Nichts herbeizaubert, will sagen aus einem weißen, papiernen Bühnenkasten im traditionsreichen Théâtre de L´Archevêché.


Da wandert die Projektion eines Landschaftsgemäldes über die Bühne, dreht sich, wechselt Lichtstimmungen und lässt sich bespielen, schließlich reißen Personen die Papierwände ein, steigen ins Bild, Gegenstände schieben sich nach: Lüster, Musikinstrumente kommen durch den Papierhimmel, Bilder und eine Giraffe durch die Seitenwände. Die Szene variiert:  Kaufhaus-paläste, Hochhausfassaden, Straßenschluchten, Londoner Unterwelt, Gründerzeitsäle, Groß-raumbüros, Orte der Lust wechseln sich ab. Partytime und Gruppensex sind angesagt. Das Lotterbett wird zum Leitmotiv. Männer und Frauen, Stricher und Huren  steigen durch Tom Rakewells Liebesstatt. Er selbst wird als Archetyp eines Zerrissenen von Heute, die im Wahnsinn endende Geschichte seines Aufstiegs und Falls als paradigmatische Gegenwarts-parabel einer party- und spaßsüchtigen Freizeitgesellschaft gezeigt.


Der 45-jährige, norwegische Dirigent Eivind Gullberg Jensen (er war von 2009/2010 bis 2013 Chefdirigent der NDR Radiophilharmonie),  der für den erkrankten Daniel Harding einsprang, tat sein Bestes, die anspielungsreiche, aber doch vergleichsweise zarte, champagnertrockene Musik Strawinskys dem dominierenden szenischen Geschehen entgegenzusetzen. Bei der über-wältigenden Dominanz des Szenischen hatte er allerding bei seiner vornehm zurückhaltenden, respektvollen Lesart des Stücks kaum eine Chance. Das Orchestre de Paris spielte zwar animiert und klangschön, doch es mangelte dem Dirigat an Energie, Temperament, Kraft und attackie-render Zuspitzung. 


Die Sänger waren da schon mutiger. Paul Appleby erwies sich als idealer Protagonist der schil-lernden Figur des Tom Rakewell, halb sympathisch, halb bemitleidenswert in seiner singschau-spielerischen Natürlichkeit, die ergänzt wurde von Julia Bullock als Ann Trulove. Sie wartete mit rührend schlichtem Auftreten und glasklarem, süßem Engelssopran auf. David Pittsinger sang ihren Vater angemessen bodenständig. Seiner Rolle entsprechend, trat Kyle Ketelsen als Nick Shadow stimmlich am ausladensten, geradezu diabolisch auf. Er schritt sprichwörtlich wie ein teuflischer Schatten in Bild und riss als Erster eine Scharte in die Papierbühne. Starker und schwülerTobak wehte einem entgegen, als Hilary Summers die Bühne betrat. Sie ist eine rie-senhafte, arg chargierende  Puffmutter Goose. Die Türkenbaba schließlich wurde von Andrew Watts als monströse Transenmischung aus Conchita Wurst und Operndiva gegeben. Der Countertenor gab dem Affen allzu reichlich Zucker. Da wäre weniger mehr gewesen. Dennoch unterm Strich eine bemerkenswerte Aufführung.

 



Beitrag auch in der "Crescendo"-Ausgebe der Deutschen Mozart Gesellschaft