Elektra von John Dew

Schnitzler wie von Hitchcock im Wiener Jugendstil

Erinnerung an eine denkwürdige Aufführung


ELEKTRA (Richard Strauss)


ML: Roger Epple, I: John Dew


John Dew zeigt die Elektra in der zeitlichen Gegenwart von Hugo von Hofmannsthal und Richard Strauss. Es spielt in einem großbürgerlichen Wiener Jugendstil-Salon. Die Mägde treten als Dienstmädchen mit Häubchen und Schürze auf, decken die lange Tafel ein und servieren der Dame des Hauses, Klytemnästra, die als elegante alternde Art-Deko-Schönheit auftritt, das Menü. Die Aufseherin ist die strenge Gouvernante. Chrysothemis ist die strahlende Bella unter den Töchtern, Elektra das Aschenputtel in Schwarz. In dieser Konstellation entwickelt Dew mit den fünf Hauptpersonen um den Tisch herum ein wahres Hitchcock-Stück von Inzest, Vatermord und Rache. Das Stück ist ja im Grunde genommen auch gar kein antikes Drama, wenn man mal unter die Oberfläche der Handlung schaut.


Hofmannsthal ist mit dem Stück weit näher bei Freud und seinen Studien über Hysterie als bei Sophokles und der attischen Tragödie. Und das hat John Dew mit klarem Blick erkannt. Er zeigt Elektra unverstellt als ein modernes Frauenstück, als eine Studie über das Verhalten von Frauen in einer männerorientierten repressiven Gesellschaft. Man darf nicht vergessen: alle weiblichen Hauptpersonen, aber auch die Nebenfiguren sind Geschädigte eines Haushalts, in dem der Hausherr, der Über-Mann Agamemnon, auch wenn er ermordet wurde, wie ein Gespenst anwesend ist und das Geschehen beeinflusst durch die unterschiedlichen Abhängigkeiten der von ihm Geprägten. John Dew zeigt das mit eindringlicher psychologischer Schärfe der Personenführung, mit feinsten Nuancen in Mimik und Gestik. Es ist in ein Kammerspiel, das einen vom ersten bis zum letzten Moment packt. Nicht zuletzt wegen der Intelligenz, mit der Dew dem tieferen Gehalt des Stücks durch sinnige Einfälle zutage fördert. So lässt beispielsweise Elektra im Augenblick der Ermordung ihrer Mutter den Champagnerkorken knallen und das prickelnde Nass über die Bühne spritzen. Deutlicher kann man den erotischen Befreiungsmoment der hochgradig inzestuös-neurotischen Elektra nicht demonstrieren. Und dass Ägisth in Frack und Zylinder mit weißen Handschuhen und wehendem Schal wie Eisenstein aus der Fledermaus die Bühne betritt, auch das ist ein genialer Einfall, denn es rückt das Stück doch dorthin, wo es eigentlich stehen muss.


Es geht in Elektra wie in der Fledermaus um den Eros der Moderne, um Wiener Sezession, um Nietzsche und Thomas Mann. All das lässt Dew anklingen. Ich muss gestehen: ich habe die Elektra, die ich nun wirklich oft gesehen habe, kaum je so spannend erlebt, was sicher auch daran lag, dass man dem Stück in Halle schon räumlich so hautnah beiwohnt, wie selten, denn man spielt es ja auf der Vorderbühne des hochgefahrenen Orchestergrabens, das Orchester sitzt hinter einem Schleier verborgen und unsichtbar auf der Hauptbühne.


Und das klang fabelhaft! Es ist ein unglaublicher Sound, den Roger Epple mit dem Riesenorchester mobilisiert. Von einer Transparenz, einer Opulenz und Klangsinnlichkeit, dass einem zuweilen die Ohren wegzufliegen scheinen. Aber doch auch von einer Klarheit und Durchhörbarkeit der Struktur, die überwältigt. Was man da alles hört! Man möchte nach dieser Erfahrung fast sagen, man sollte Elektra überhaupt nur noch so aufführen. Vieles, was an Nebenstimmen und Details gewöhnlich im Orchestergraben verschluckt wird und untergeht ist in dieser Aufführungspraxis ganz präsent. Und Epple, der einfach ein bestechend präziser und intelligenter Dirigent ist, lässt einen sinfonischen akustischen Krimi abschnurren, der einen in seinen Bann zieht. Vom ersten Takt an derart sitzt man auf der Stuhlkante. Man muss auch dem Orchester des Opernhauses Halle ein Riesenkompliment machen.  So präzise und klangprächtig, wie es diese enormen Anforderungen des Stücks bewältigte, hört man Elektra selbst in hauptstädtischen Opernhäusern nur sehr selten.


Die Sänger kommen mit der ungewöhnlichen Spielsituation und mit dem Dirigenten im Rücken ausgezeichnet zurecht, es gab überhaupt keine Koordinierungsprobleme. Auf der Bühne waren natürlich einige Monitoren aufgestellt, so dass die Einsätze des Dirigenten aus jeder Perspektive sichtbar waren für diejenigen Sänger, die sie benötigten. Aber es war ein außergewöhnlich sicheres und man muss schon sagen hochkarätiges Ensemble, allen voran Anna Katherina Behnke, sie ist geradezu sensationell als Chrysothemis. Sie singt fast wie die junge Rysanek, hat ein geradezu betörendes Material und sieht auch noch glänzend aus. Sie spielt die Elektraschwester mal nicht wie ein dummes Ding. Elektra selbst wird von Sophia Larson mit Trompetentönen gegeben. Sie ist ein verletztes Tier, das sich die Seele aus dem Leib schreit. Bewundernswert diese Kraft! Eindrucksvoll auch Ute Trekel-Burckhardt als elegante und subtil agierende Klytemnästra. Keine Hexe oder alte Vettel, sondern eine schöne, alte Frau, deren Eros noch sichtbar ist, ganz wie Hofmannsthal sich das wünschte. Auch Ihre Stimme ist noch immer imposant,

nicht nur ihr Kostüm: ein Rausch von Jugendstil.


José Manuel Vazquez hat prachtvolle Kostüme entworfen. Auch Nils Giesecke als Ägisth war übrigens ausgezeichnet. Ulrich Studer sang einen soliden Orest und selbst die Nebenfiguren, vor allem die Mägde waren luxuriös besetzt. Die Aufführung ist eine jener seltenen Sternstunden. Man muss nach Halle, um diese Elektra gesehen und gehört zu haben!

 

Frühkritik in: „Figaro“, MDR-Kultur am 15.3.2003