Spotts: Bayreuther Festspielgeschichte

Panorama der Festspielgeschichte , angehaucht von typisch angelsächsischem Skeptizismus:

Der Autor fagt sich "wo die Interpretation aufhört und wo die Vergewaltigung beginnt".

Frederic Spotts: Bayreuth - Eine Geschichte der Wagner-Festspiele als Deutsche Geschichte


Wilhelm Fink Verlag, 359 S., München 1994, DM 98,-


Im Grunde ist seit den sehr verdiensvollen Forschungsbeiträgen und Dokumentationen der Fritz Thyssen-Stiftung, die in den Siebzigerjahren entstanden, nichts wirklich Nennenswertes mehr auf den Markt gekommen. Jetzt hat der Harvard-Dozent Frederic Spotts eine Geschichte der Wagner-Festspiele vorgelegt, die insofern außergewöhnlich ist, als sie die Geschichte Bayreuths und seiner Festspiele von den Anfängen, also 1876 bis zu Harry Kupfers und Daniel Baren-boims Ring-Inszenierung aus dem Jahre 1988 dokumentiert und kritisch bewertet von einem sehr unabhängigen Standpunkt aus.


Frederic Spotts stellt die Festspielgeschichte in 9 Kapiteln dar: im ersten veranschaulicht er die Entstehungs- und Aufbauphase der Festspiele, deren Idee und Verwirklichung, im zweiten die erste Ära, die mit Wagners Eröffnung der Festspiele 1876 mit dem "Ring" beginnt und mit der "Parsifal"- Uraufführung und Wagners Tod im Jahre 1883 endet,  dann wird die Ära Cosimas beschrieben, die sich als Hohepriesterin eines unantastbaren Tempeldienstes verstand, es folgt das Kapitel Siegfried Wagner, dann zwei Kapitel, in denen der Autor die Ära der Gattin des 1930 verstorbenen Siegfried akribisch darstellt, das ist zugleich die verhängnisvolle Festspiel-geschichte im Dritten Reich. Ein eigenes Kapitel ist dem Neuanfang 1951 und den Jahren des sogenannten Neubayreuth mit Wieland Wagner als Gallionsfigur gewidmet, sein Tod 1966 markiert einen tiefen Einschnitt und den Beginn der bis heute andauernden Ära Wolfgang Wagner und seiner "Werkstatt Bayreuth". Und im letzten Kapitel schließlich stellt Frederic Spotts sehr persönliche Betrachtungen zum sogenannten "modernen Regietheater an". Angefangen von August Everdings "Holländer" 1969 und Götz Friedrichs revolutionärem "Tannhäuser" von 1972 über Chéreaus Jahrhundert-"Ring" 1976 , Kupfers aufsehenerregend psychoanalytischem "Holländer" von 1978, Ponnelles französischem "Tristan" und Werner Herzogs filmisch-märchenhaftem "Lohengrin" bis zum Kupfer-"Ring" als "Strasse der Geschichte", der 1988 herauskam und bis 1993 gespielt wurde. Wer sich also ein lückenloses Bild der Festspielgeschichte, anschaulich gegeliedert, mit viel Bildmaterial versehen und vorurteilsfrei, dabei leicht lesbar beschrieben, verschaffen möchte, der ist mit diesem Buch bestens bedient.


Vor allem die Epoche des Dritten Reiches, die der Autor zurecht als die einer Vereinnahmung begreift, und die des revolutionären Neuanfangs Wieland Wafgners, der Bayreuth in den Fünf-zigerjahren entrümpelte, werden sachlich und detailliert behandelt. Und was mir dieses sou-verän entworfene Panorama  besonders sympathisch macht, das ist der typisch angelsächsische Skeptizismus, die nüchterne kritische Unvoreingenommenheit, mit der der Autor sich sowohl dem Regietheater der letzten Jahrzehnte als auch gegenüber der Deutschen Geschichte zuwendet.


Frederic Spotts stellt nicht ganz zu unrecht fest: "Das postmoderne Bayreuth mischte sich in die Substanz der Dramen ein. Einige Figuren - Friedrichs Elisabteh, Kupfers Senta, Ponnelles Tristan - wurden so stark verwandelt, daß man nicht mehr wußte, ob sie überhaupt noch Wagners Schöpfungen waren... Die Frage für Bayreuth und für jede zeitgenössische Opern-produktion" sei es, so Frederic Spotts, "wo die Interpretation aufhört und wo die Verge-waltigung beginnt". Doch Spotts ist alles andere als ein Konservativer. Am Ende seines unängstlichen Buches schreibt er: "Zweifellos ist es immer noch vorzuziehen, sich über Neues aufzuregen, als sich durch Konventionen langweilen zu lasen".


Darüberhinaus ist es der Blick von außen, der dieses Buch auszeichnet: Bayreuth ist für Frede-ric Spotts, "ein Abbild der deutschen Nation". Schon Hans Mayer hat vor Jahren erklärt: "Wer eine...Geschichte Wagners, der Festspielgeschichte versucht, schreibt zugleich deutsche Ge-schichte und Welthistorie." Dieses Motto hat Frederic Spotts beherzigt. Es ist eines der empfehlenswertesten Bücher über Wagner seit langem! Auch in seinen unvermeidlichen Fehlern und Irrtümern, die sich gelegentlich eingeschlichen haben. 


ORB - Radio Brandenburg 31.01.1995 / KlassikSzene