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Photo: Marta Massafra
Ausgrabungsglück:
Nicola Vaccais „Giulietta e Romeo“
beim 44.Festival della Valle d´Itria 2018
Nicola Vaccai wurde ein Jahr vor Mozarts Tod in der kleinen Stadt Tolentino in der Pro-vinz Macerata der italienischen Marken geboren. Anders als der zweitberühmteste Sohn der Stadt, der Hl. Nikolaus von Tentino, der die Stadt zu einem der berühmtesten Wall-fahrtsorte Italiens machte, wurde Vaccai kein Heiliger, aber zu einer beinahe als heilig verehrten Gallionsfigur der italienischen Gesangskunst. Sein Lehrbuch „Metodo pratico di canto italiano per camera“, das er 1832 in London publizierte, gilt bis heute als didak-tisches Referenzwerk. Kein Gesangsschüler kommt an dieser Gesangsschule vorbei. Vaccai, der bei Giuseppe Janacconi, dem Leiter der Sixtinischen Kapelle in Rom und bei Giovanni Paisiello in Neapel studiert hatte, war zeitweise Professor am Konservato-rium von Mailand und einer der gefragtesten Gesangspädagogen seiner Zeit, ob in Genua, Turin, Rom, Paris, London, Venedig oder in Pesaro, dem Geburtsort Rossinis, wo er sich 1844 niederließ und bis zu seinem Tod 1848 als Gesangslehrer arbeitete.
Von seinen 17 Opern wurde nur die „Tragedia per musica“ in 2 Akten „Giulietta e Romeo“ ein durchschlagender Erfolg. Sie basiert auf einem Libretto von Felice Romani und wurde 1825 im Teatro della Cannobbia in Mailand uraufgeführt . Als Vincenzo Bel-lini seine Vertonung des „Romeo und Julia“-Stoffes 1830 unter dem Titel „I Capu-leti e i Montecchi“ herausbrachte, verschwand Vaccais Oper von den Bühnen. Aber sie wurde zumindest von einer der bedeutendsten Sängerinnen der Zeit, Maria Malibran, so hochgeschätzt, dass sie ab 1832 bei ihren Auftritten in Bellinis Werk anstatt dessen Schlußszene die Todesszene aus Vaccais Oper zu singen pflegte. Schon ein Jahr zuvor wurde diese seither bis heute gängige Praxis von Santina Ferlotti erstmals in Florenz vorgenommen. Die Malibran, eine der gefeiertsten Belcantosängerinnen des 19. Jahr-hunderts, segnete diese Praxis verbindlich ab, sodass schließlich Bellinis Verleger Ric-cordi seiner Veröffentlichung von „I Capuleti e i Montecchi“ sogar die ganze Schluß-szene Vaccais als Anhang mit dem Vermerk hinzufügte „kann auf Wunsch anstelle des letzten Teils von Bellinis Oper benutzt werden“. Dennoch geriet Vaccais Oper als ganzes Werk in Vergessenheit.
Erst 1996 wagte es das Festival Pergolesi Spontini in Jesi, das Stück erstmals in neuerer Zeit auszugraben. Jetzt wurde es auch in beim Festival della Valle d´Itria in Martina Franca auf die Bühne gebracht. Die Wiederbegegnung mit dieser Oper stellte einmal mehr Vaccais kompositorische Qualitäten unter Beweis und bestätigt seine von den Zeitgenossen gerühmte Fähigkeit des perfekten Schreibens für die menschliche Stimme. Wie Vaccai lyrischen Gesangsverlauf und dramatische Handlung auszubalancieren verstand ist bewundernswert. Geradezu mitreißend ist die Vitalität und Frische seiner Musik, ihr tänzerischer Schwung und ihr melodischer Einfallsreichtum. Immer wieder wurde Vaccai vorgehalten, er sei kein Genie wie Bellini. Ob Genie oder nicht, Vaccai war ein meisterhafter Repräsentant der Operntradition seiner Zeit und ein perfekter, mit allen Wassern gewaschener Opernkomponist. Er hatte sein Handwerk gründlich gelernt und neben Rossini und Bellini eine eigene Sprache gefunden hatte. Natürlich sind An-klänge an Rossini unüberhörbar, der hatte ja eine ganze Generation von Komponisten beeinflusst, aber immer wieder gibt es erstaunliche Reminiszenzen an Mozart, ja Beet-hoven, und in manchen Momenten glaubt man gar, Vorwegnahmen Donizettis, ja Verdis zu hören.
Die Oper „Giulietta e Romeo“ ist effektvoll gearbeitet. Sie enthält prächtige Chöre mit Pauken und Trompetenbegleitung , Arien, die von Harfen- und Hornsoli durchwoben sind, aber auch fein gearbeitete Duette, Terzette und Ensembles. Vaccais Orchester-behandlung sprüht nur so von Originalität, aber sie dient keinem Selbstzeck, sondern bietet den Sängern eine optimale akustische Bühne.
Die aus Verona stammende, junge, international erfolgreiche Regisseurin Cecilia Ligo-rio, die vor zwei Jahren schon in Martina Franca das Divertimento „Baccanali“ von Agostino Steffani ausgrub, hat die auf Shakespeares Vorlage basierende tragische Ge-schichte der beiden Kinder verfeindeter Veroneser Familien auf der großen Oper Air-Bühne im Palazzo Ducale eindrucksvoll in Szene gesetzt. Vor perspektivisch sich nach hinten verengender Palastwand inszenierte sie ein Trauerspiel in Schwarz. Sie verortet das Stück nicht im Mittelalter, in dem es eigentlich spielt, sondern in szenischer Spät-renaissance. Der im Amourösen sich zuspitzende Kampf zwischen Guelfen und Ghi-bellinen wird als Totentanz tragischer Missverständnisse und großer Gefühle vorge-führt. In dieser Lesart wird die Oper von Anfang an ein düsteres Friedhofsstück, nicht erst wenn lebende Grabmalstatuen das Einheitsbild von Alessia Colosso im zweiten Akt in einen Gottesacker verwandeln. Der Balkon des ersten Aktes klappt dann zu, um eine Öffnung in Form eines ausgestochenen Kreuzes freizugeben. Aus ihm quillt Bühnen-qualm und vernebelt die romantisch inszenierte Aufbahrungs- und Sterbeszene. Schwarz sind, ausgenommen Romeos und Giuliettas, alle Kostüme, die Giuseppe Palella ent-worfen hat. Es sind durchweg prachtvolle, im Detail sorgfältig geschneiderte, quasi historische Brokat- und Lederkreationen für die Familienmitglieder und deren Ange-hörige (Chor), phantastisch-gruftige für die Soldaten, Lemuren und Knechte. Manche erinnern mit ihren Hundeköpfen an Werwölfe. Schauerromantische Kostümierung im „gothic style“. Cecilia Ligorios überzeugende, sich aufs Wesentliche konzentrierende Personenregie steht erfreulicherweise ganz im Dienste der Musik und des Gesangs und trifft damit ins Herz dieser Oper. Was Wunder, dass sich die Sänger sichtbar und hörbar wohlfühlten in dieser „schönen“ Inszenierung einer Sängeroper, die verdiente, auch an anderer Stelle gezeigt zu werden.
Das Sängerensemble war durchweg hochkarätig: Ein absoluter Glücksfall war Leonor Bonilla als Giulietta. Sie blieb mit ihrem lupenreinen, warmen und berührenden Sopran der weiblichen Hauptpartie nichts schuldig, zumal sie kantable Gesangskultur mit tech-nischer Virtuosität zu vereinen weiß. Auch Raffaella Lupinacci demonstrierte in der Hosenrolle des Romeo feinste Belcantokunst, auch wenn ihrer gut geführten, samtigen Mozzosopranstimme in der Tiefe das gewisse „virile“ Etwas fehlt, das beispielsweise Marilyn Horne mitbrachte, die immerhin eine der Arien Romeos für die Schallplatte aufnahm. Leonardo Cortellazzi stattete Capellio, das Haupt der Capuleti mit durch-schlagskräftigem, wohlklingendem, sehr flexiblemTenor aus. Tebaldo, dem Wunsch-schwiegersohn der Capuleti, lieh Vasa Stajkic seinen edlen Kavaliersbariton. Die Mezzosopranistin Paoletta Marrocu beeindruckte in aristokratisch stolzem Spiel wie Gesang als Giuliettas Mutter Adele. Den Lorenzo, Arzt und Vertrauter Capellios, sang der vorzügliche Bariton Christian Senn.
Ohne Fehl und Tadel sang unter Corrado Casatis subtiler Einstudierung auch der Chor des Teatro Municipale die Piacenca. Was der Aufführung schließlich außerordentliches Format verlieh, war das Dirigat von Sesto Quatrini. Er hielt den enormen musikalischen Apparat auf und unter der Bühne sicher zusammen und dirigierte das groß besetzte Orchestra Accademia Teatro alla Scala (das Nachwuchs- und Studentenorchester der Mailänder Scala) mit großem Elan, Präzision und Feingefühl. Er verhalf mit seiner kraft- und temperamentvollen Interpretation der delikaten, außerordentlich differen-zierten und facettenreichen Musik Vaccais zu ihrem Recht. Sie war eine Sternstunde, diese Ausgrabung einer zu Unrecht vergessenen Romeo und Julia-Oper aus der Zeit vor Bellini.
Rezension u.a. auch in "Crescendo," Sonderausgabe der Deutschen MozartGesellschaft