Martha Mödl

Photo: Bayreuther Festspiele / Widmungsexemplar im Besitz von Dieter David Scholz

Heroine mit menschlichem Format

Der „Zauberkasten“ Martha Mödl


Ein Nachruf   


Als 1951 die Bayreuther Festspiele nach dem zweiten Weltkrieg wiedereröffnet wurden, war Martha Mödl die erste Kundry „Neubay-reuths“. Sie war eine Ausdrucks-Sensation auch als Brünnhilde und Isolde.  Wilhelm Furtwängler, der sie wie Hans Knappertsbusch immer wieder als Wagnersängerin engagierte, für die Schallplatte wie für Gastspiele auf den großen Bühnen der Welt, nannte die aus-drucksvolle Stimme der Martha Mödl einen "Zauber­kasten". Doch sie zauberte nicht nur mit den Farben ihres erdig-sinnlichen Stimm-organs, sondern mehr noch mit den darstellerischen Facetten ihres auf ungekünstelte Weise tragödenhaften Wesens, das noch verwandt zu sein schien mit dem Singgeschlecht einer Wilhelmine Schröder-Devrient.  Dabei war ihr das Singen nicht in die Wiege gelegt worden. Ihr Elternhaus war keinesfalls, was man ein musisches nennen würde. Klavierspielen hatte sie vom Vater gelernt, Singen von den „Englischen Fräulein“ ihrer Schule, immerhin. Sie hatte als Verkäuferin und Buchhalterin ihren Lebens­unterhalt verdient und erst mit Ende zwanzig begonnen, ihre private Passion, den Gesang, zu ihrem Beruf zu machen. Aufgrund der kriegsbedingten Situation hatte sie es nicht eben leicht gehabt. Für Gesangsunterricht blieb kaum mehr Zeit, als eben die Anfangsgründe des Singens am Nürnberger Konservatorium zu erlernen.


„Ich hatte nie eine technisch gut ausgebildete Stimme. Ich überließ das Singen immer der Inspiration und der Leidenschaft des Augenblicks. Ich sang einfach drauflos. Aber ich gab alles, was mir zur Verfügung stand, auch wenn gelegentlich ein falscher Ton dabei herauskam. Aber ich hatte etwas, was nicht jeder besitzt, eine enorme Naturstimme.“


1943, also mit 31 Jahren, debütierte Martha Mödl mit der Partie des Hänsel in Remscheid. Doch bald schon wurden alle Theater geschlossen. 1945 setzte sie den Beginn ihrer Sängerlaufbahn in Düsseldorf fort. Günther Rennert engagierte sie als Carmen, dann sang sie Cherubino und Mignon. Auch das italienische Fach eignete sie sich an. Dann ging alles ganz schnell. 1949 begann die eigentliche, die Wagner-Karriere der Mödl: beim WDR sang sie unter Richard Kraus die Kundry in einer Studio­produktion des „Parsifal“. Zwei Jahre später war die Mödl bereits Wilhelm Furtwänglers Kundry an der Mailänder Scala. Ihre erste Isolde folgte wenige Monate später in Florenz. Unter Knappertsbusch sang sie ihre erste Brünnhilde in Neapel. Seit 1951 stand sie als Isolde, Brünnhilde und Kundry für Jahre auf den Brettern der neueröffneten Bayreuther Festspiele. Seither war sie eine der Säulen des Festspielensembles und eine weltreisende Hochdramatische mit Mezzofundament in Sachen Wagner.


Die mitreißende musikalische Gestaltungskraft ihrer dunkel timbrierten Stimme, ihr sicherer Theaterinsinkt, ihr geradezu hypnotischer schau­spielerischer Ausdruck, ihre fesselnde Bühnen­präsenz ließen sie für zwei Jahrzehnte zu einer Bayreuther Institution werden, zu einer Ikone „Neu­bayreuths“ noch vor Astrid Varnay und Birgit Nilsson. Wieland Wagner übertrug den von seinem Großvater auf die Schröder-Devrient gemünzten Satz "Kundry! Brünnhilde! Isolde! Keine wie Du!" auf seine "unpathetische Hoch­dramatische", wie er Martha Mödl nannte. Das Pathos ist ein Teil ihrer selbst gewesen. Ein Pathos ohne Pathetik, ein Tra­gö­­denton, den wohl nur noch sie so glaubwürdig zu treffen vermochte. Sie war die letzte Tragödin des Musiktheaters alter Schule, eine Heroine mit menschlichem Format.


Sie wusste ihr Publikum selbst in den kleinsten Partien bis ins Mark zu erschüttern. Nicht selten wurden ihre Auftritte zum Zentrum der Aufführung, noch bevor sie auch nur einen Ton gesungen hatte. Die Verschmelzung von geradezu beklemmender szenischer Darstellung und gesanglicher Ausdrucks-Instensität  haben sie zu einer Tragödin der Opernbühne werden lassen, der die stimmliche Interpretation nur einen Teil der Darstellung bedeutete. Weshalb die wenigen Plattenaufnahmen der Mödl auch nur in begrenztem Maße das dramatische Kaliber ihrer Darstellungskraft wiedergeben, über die sie nicht aus Kalkül, sondern ganz selbstverständlich verfügte.


Verglichen mit dem monumentalen Format, das sie ihren Figuren auf der Bühne verlieh, schrumpfen heutige Darstellerinnen zu austauschbarer Konfektionsware. Die Mödl war alles andere als eine intellektuell kalkulierende Sängerin, sie war auch alles andere als eine Primadonna. Martha Mödl war ihr Leben lang eine sympathisch uneitle, herzlich-unkomplizierte, geradezu erfrischend „normale“, ja schlichte und aufrichtige Persönlichkeit ohne Starallüren. Und sie  sang nicht nur mit, sondern nur aus dem Gefühl heraus. Das war das Geheimnis ihres besonders anrührenden Ausdrucks. 


"Singen muß aus dem Innersten kommen, aus dem Tiefsten. Ich gehe nicht mit dem Kopf an eine Partie heran. Ich nehme meinen Ausdruck aus dem, was die  Musik und der Klang mir vorgeben, aber nicht mit dem Verstand. Ich habe nie eine Rolle mit dem Kopf erarbeitet. Ich schöpfe aus den Tiefen meiner Seele und weiß selbst oft gar nicht, wo das herkommt. In dem Moment, wo ich zu denken anfange, entferne ich mich von der Rolle, dann stehe ich neben mir."


Vor allem in der Zusammenarbeit mit Wilhelm Furtwängler und Wieland Wagner lief Martha Mödl zu größter Form auf. Ihre darstellerische Größe inspirierte den „Entrümpler“ Bayreuths, Wieland Wagner zu dem vielzitierten Satz: „Was brauche ich einen Baum auf der Bühne, wenn ich die Mödl als Brünnhilde habe!“ Wenn die Mödl auf der Bühne stand, beherrschte sie Szene und das Publikum mit betroffen machender Glaub­würdigkeit und totaler Identifikation mit der Rolle und deren Schicksal. Sie durchlebte ihre Rollen auf der Bühne, weil die Bühne ihr Leben war.


In den Sechzigerjahren wechselte Martha Mödl vom Hochdramatischen Fach wieder in ihr ursprüngliches Mezzofach, in Bayreuth sang sie nun Waltraute. Aber auch die Strauss-Partien der Amme und der Klytemnästra gehörten fortan zu ihrem Repertoire, auch  Jenufas Küsterin wurde eine ihrer Paradepartien. Sie hatte das Charakterfach für sich entdeckt, mit dem sie nicht nur auf den großen, sondern auch auf den kleinen Bühnen im In- und Ausland Triumphe feierte. Aber auch in vielen Partien der Oper des zwanzigsten Jahrhunderts stand sie bis in die Neunzigerjahre als inzwischen  lebende Legende auf der Bühne, ohne deswegen eine besondere Affinität zur musikalischen Moderne gehabt zu haben, wie sie zugab:


„Als ich die Wagner- und Strauss-Partien nicht mehr singen konnte, wusste ich nur eins: vom Theater möcht ich nicht weg, das Theater ist mein Leben. Ich habe sonst nichts. Das kann ich nicht einfach aufgeben. Ich hatte gar nicht so eine Vorliebe für die Moderne gehabt. Ich wollte nur einfach einen weiteren Weg auf der Bühne gehen. Da bot mir die Hinwendung zur Moderne eine neue Perspektive. Später habe ich einige Partien von Fortner oder Reimann sogar schätzen und lieben gelernt. Aber ich habe auch die kleinsten Partien geliebt. Da meine Augen immer schlimmer wurden, konnte ich schließlich keine neuen Partien mehr erarbeiten. Aber ich wollte, so lang  es geht, so lang ich gesund bin, auf der Bühne stehen, selbst wenn es nur noch Sprechrollen wären.“


Privatleben und Partnerschaften gab es kaum im Leben der Mödl. Mit der ihr eigenen Unkompliziertheit gab sie zu, dass es vielleicht ein Fehler gewesen sei, allein und unverheiratet geblieben zu sein und gestand mir freimütig:


 „Als Nachfrage war, wollt´ ich keinen Mann und als ich einen wollte, war keine  Nachfrage mehr!“


Was Wunder, dass Martha Mödl, die seit Ende der Vierzigerjahre auf der Bühne stand, mehr als ein halbes Jahrhundert, sich ein Leben ohne Theater nicht vorstellen konnte. Das Wort Bühnenabschied war für sie ein Tabu. Ans Aufhören wollte sie nicht denken.


"Also wenn ich ganz ehrlich bin, dann hab ich große Angst davor!“ Ruhe und Behaglichkeit im Leben liebte sie nicht. „Wenn ich in ein Hotel ziehe, dann will ich immer ein Zimmer nach vorne heraus, in dem es laut ist, weil ich Angst vor der Stille hab!"


Nur auf der Bühne ruhte die große Operntragödin ganz in sich. Sie wollte auf der Bühne stehen bis zum Schluß. Fast ist ihr das geglückt. Nach einer jüngsten Augenoperation, die sie besser sehen ließ als die Jahrzehnte zuvor, stand sie wieder öfter auf der Bühne,  zuletzt in Mannheim wieder in einer ihrer späten Glanzpartien, der alten Gräfin in Tschaikowskis „Pique Dame“, die sie als gespenstische Figur so plastisch und zugleich dämonisch darstellte, wie kaum jemand vor ihr. Noch im vergangenen Frühjahr war sie die Amme im „Boris Godunow“ auf der Bühne der Komischen Oper Berlin. Nun ist die große Sängerin Martha Mödl  im Alter von 89 Jahren an den Folgen eines Schlaganfalls in Stuttgart gestorben. Sie war die älteste überlebende Repräsentantin eines Typs von charismatischem, natürlichem heroisch-pathetischem Singschauspieler. Eine Epoche der Operndarstellung ging mit ihrem Tod zuende.