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Bach ist für Gardiner auch und vor allem musikalisch „von Natur aus ein Dissident – ein geradezu auf Beethoven vorausweisender Rebell avant la lettre“, der mit zahllosen „stilistischen Ungehörigkeiten“ die Kompositionspraxis seiner Zeit sprengte.
Wenn überhaupt, dann ist sein Buch eine in einer persönlichen Werkdarstellung versteckte Biografie. Ganz sicher eines der wichtigsten Bach-Bücher!
„Bach ist der Dreh- und Angelpunkt meines Musikerlebens.“
John Eliot Gardiner: Bach – Musik für die
Himmelsburg. Aus dem Englischen von Richard Barth. Carl Hanser Verlag, München 2016. 752 Seiten, 34 Euro.
Sir John Eliot Gardiner ist seit 2014 Stiftungspräsident des Bach-Archivs Leipzig. Vor allem aber zählt er seit mehr als 40 Jahren zu den führenden Bach-Interpreten. Mit seinem Orchester The English Baroque Soloists und mit seinem Monteverdi Choir hat er weltweit Bach aufge-führt. Er erregte im Bach-Jahr 2000 großes Aufsehen mit seiner „Bach-Pilgerreise“, als er sämt-liche 198 Kirchenkantaten Bachs in 59 Konzerten innerhalb eines Jahres aufführte. Parallel zu seiner aufführungspraktischen Beschäftigung mit Bachs Kompositionen hat sich Gardiner im-mer auch über den historischen Kontext der Musik informiert: Er studierte Autographen, zeit-genössische Quellen und neueste Forschungsliteratur. Seine Erkenntnisse über Johann Sebastian Bach hat Gardiner in einem opulenten Buch zusammengefasst. Vor drei Jahren erschien die eng-lische Erstausgabe unter dem Titel „Music in the castle of heaven“, nun liegt die elegante deut-sche Übersetzung von Richard Barth unter dem Titel „Musik für die Himmelsburg“ vor.
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Nach der Betrachtung eines Kupferstichs des englischen Organisten A. F. C. Kollmann in der „Allgemeinen musicalischen Zeitung“ 1799, der eine Sonne der Komponisten darstellt, in de-ren Mitte Johann Sebastian Bachs Name prangt, soll Joseph Haydn geäußert haben, dass er es nicht unrecht gefunden habe, „daß Joh. Seb. Bach der Mittelpunkt der Sonne, folglich der Mann sey, von welchem alle wahre musikalische Weisheit ausgehe.“ Dem schließt sich John Eliot Gardiner an, der „unter den strengen Augen des Kantors“ aufgewachsen ist, da während des Zweiten Weltkrieges das berühmte Haußmann-Porträt von Bach in der Obhut seiner Eltern in der alten Mühle von Dorset aufbewahrt wurde. Gardiner schildert denn auch auf mehr als siebenhundert Seiten seine enge biographische Bachverwurzelung und seine lebenslange wis-senschaftliche wie musikpraktische Auseinandersetzung mit Bach. Kein Wunder, wenn er bekennt: „Bach ist der Dreh- und Angelpunkt meines Musikerlebens.“ Er kennt die Bachlite-ra-tur bestens, er hat sich durch ganze Bibliotheken gelesen, vor allem aber hat er sein ganzes Leben hindurch die Musik Bachs aufgeführt.
Er schreibt denn auch ehe als Musiker über Bach, denn als Musikologe. Die Musik ist für Gar-diner die „Schöpfung eines genialen Verstandes“. Aber er betont, dass sich daraus keine „un-mittelbaren Rückschlüsse auf Bachs Persönlichkeit ziehen“ ließen. Im Gegenteil: „Als Musiker war Bach ein unergründliches Genie; als Mensch hatte er allzu offensichtliche Schwächen, war enttäuschend mittelmäßig und ist für uns in vielerlei Hinsicht bis heute kaum greifbar“. So lau-tet schon der erste Satz seiner opulenten Bachbiographie. Eine Provokation, der die rhetorische Frage folgt: „Müssen wir wirklich etwas wissen über den Menschen, um seine Musik wert-schätzen und verstehen zu können?“ An biographischen Spekulationen und Mythenbildungen beteiligt sich der britische Bachbiograph angesichts der spärlichen biographischen Quellenlage jedenfalls nicht. Er verklärt ihn nicht, zieht ihn auch nicht in ein schmeichelhaftes Licht, wie vor ihm so viele Bachautoren. Man bekomme „Bach als Mensch nach wie vor nicht zu fassen. Auch „wenn man zum x-ten Mal dieselben alten Berge an biographischem Sand durchsiebt, kommt man leicht zu dem Schluss, das Potenzial, dabei Neues zutage zu fördern, sei erschöpft.“
Dass Bach als Mensch extrem misstrauisch war, dass er oft Krach hatte mit den Obrigkeiten, denen er als Musiker diente, sind bekannt. Gardiner weiß auch, dass Bach aufbrausend und jäh-zornig, stur und rechthaberisch gewesen sein muss. Man liest, dass er in Weimar wegen Hals-starrigkeit im Gefängnis landete oder – wie Gardiner einem tintenverschmierten Manuskript entnimmt – schlampige Kopisten ohrfeigte. Bach ist für Gardiner auch und vor allem musi-kalisch „von Natur aus ein Dissident – ein geradezu auf Beethoven vorausweisender Rebell avant la lettre“, der mit zahllosen „stilistischen Ungehörigkeiten“ die Kompositionspraxis seiner Zeit sprengte.
Gardiner schließt sich damit der Meinung des Bachautors Laurence Dreyfus an, der Bach als Rebellen charakterisierte und als einen Musiker, „der allgemein anerkannte Prinzipien und eifer-süchtig gehütete Annahmen“ über den Haufen geworfen habe. Gardiner bestätigt aus seinen Er-fahrungen als Dirigent und ausführender Musiker außerordentlich detail- und kenntnisreich die musikalische Kühnheit und den musikalischen Mut Bachs. In 14 Kapiteln seines Buches unter-nimmt er 14 Annäherungen an Bach, „die um ihn kreisen, wie die Speichen eines Rades um ein und denselben Mittelpunkt: den Menschen und Musiker Bach.“ Allerdings beschränken sich die gründlichen Betrachtungen einzelner Werke, die den Hauptteil des Buches ausmachen, vor allem auf das von Gardiner dirigierte Vokalwerk, das Instrumentalwerk wird nur am Rande ge-streift. Vollständigkeit auch in der Chronologie ist nicht das Ansinnen Gardiners. Wenn über-haupt, dann ist sein Buch eine in einer persönlichen Werkdarstellung versteckte Biografie.
Gardiner zeichnet ein kenntnis- und faktenreiches Bild von Bachs Lebensumständen in der mit-teldeutschen Region zwischen Barock und Aufklärung. Er wirft einen Blick auf Bachs kompo-nierende Vorfahren, aber auch auf Bachs zeitgenössische Kollegen wie Händel, Mattheson, Ra-meau, Telemann und Domenico Scarlatti. Und er spart nicht mit Konkretem: Als Bach etwa nach Leipzig kam, so erfährt man, habe die Thomasschule ihre besten Tage bereits hinter sich gehabt. Dass der Kantor Woche für Woche eine neue Kantate komponierte, habe unter diesen Umständen niemand von ihm erwartet. Für Gardiner ist Bach ein „Komponist, der für ein un-freiwilliges Publikum schrieb“, um „alles, was er sich zum Vorbild nahm, zu übertreffen“. Das Paradebeispiel ist die h-Moll-Messe, in der Bach nicht nur entgegen seinem religiösen Bekennt-nis den vollständigen katholischen Messtext vertonte, sondern mit einer Dauer von einhundert Minuten auch alles davor – und danach – in diesem Genre Komponierte überschritt.
Gardiner zitiert Dreyfus, weil dessen erfrischendes Korrektiv zur traditionellen Beweihräuche-rung in perfektem Einklang mit seinem Ansatz stehe. „In Bachs Subversivität könnte der Schlüssel zu der Frage liegen, worin seine Leistung bestand, eine Leistung, die – wie alle große Kunst – auf die höchst subtile Manipulation und Veränderung der menschlichen Wahrnehmung ausgerichtet ist“. In der Musik Bachs, hinter der formalen Schale der Stücke könne man die vielschichtigen Charakterzüge „eines extrem zurückhaltenden Menschen“ wahrnehmen, der mal fromm, dann wieder rebellisch, meist voller Nachdenklichkeit und Ernst doch auch von Humor und Empathie gewesen sei. Nur in der Aufführung seiner Musik könne man, so Gar-diner, Spuren seiner Persönlichkeit wahrnehmen. Absicht seines Buches ist es daher „den Men-schen über sein Werk kennenzulernen“, denn Bachs Musik spiegele ein breites Spektrum an Lebenserfahrungen, zu schweigen von seinen Fähigkeiten als Komponist mit „schier grenzen-loser Erfindungsgabe, Intelligenz, Esprit und Menschlichkeit“. Gardiner betrachtet die Musik Bachs als „Spiegel, in dem wir klar und deutlich seine vielschichtige, schroffe Persönlichkeit erkennen können, seinen Drang, mit den Zuhörern zu kommunizieren und seine Weltsicht mit ihnen zu teilen.“
Er nennt Bach einen Menschen, „der ein Gespür für die Kreisläufe der Natur und den Wechsel der Jahreszeiten hat, der sich der elementaren Körperlichkeit des Lebens bewusst, aber von der Aussicht beseelt ist, nach dem Tod ein besseres Leben in der Gemeinschaft von Engeln und engelsgleichen Musikern zu verbringen. Daher der Titel dieses Buches, der zum einen auf die reale ‚Himmelsburg‘ in Weimar verweist, die neun Jahre lang Bachs Arbeitsplatz war, zum anderen eine Metapher für die Heimstatt aller von Gott inspirierten Musik darstellt. Die Musik wirft Schlaglichter "auf die erschütternden Erfahrungen, die er als Waisenkind, einsamer Teen-ager und trauernder Ehemann und Vater machen musste. Sie offenbart seinen tiefen Abscheu vor Heuchelei und seine Unduldsamkeit gegenüber jeglicher Form von Verfälschung von Tat-sachen, aber auch sein tiefes Mitgefühl für alle, die in irgend einer Form leiden müssen, betrübt sind von Gewissensbissen oder von Glaubenszweifeln geplagt sind".
All das veranschaulicht seine Musik, und "daraus bezieht sie einen Gutteil ihrer Authentizität und ihrer ungeheuren emotionalen Wucht. Vor allem aber macht sie hörbar, mit welcher Freude und welchem Vergnügen er die Wunder des Universums und die Geheimnisse des Lebens fei-erte.“ Gardiner hat die Bachsche Lebensfreude hinter aller christlichen Jenseitsorientiertheit immer wieder in seinen temperamentvoll eleganten, federnden, ja jauchzend unpathetischen Aufführungen unter Beweis gestellt.
In seinem grandiosen, weit ausholenden, tiefgründig gelehrten und doch erfrischend unakade-misch geschriebenen Buch erfährt der Leser in faszinierenden Analysen der Vokalwerke, dass „in den Kantaten, Motetten, Passionen und Messen durch die Kombination von Musik und Text Dinge zum Ausdruck“ kommen, „die vor Bach niemand je mit Tönen auszudrücken versuchte, wagte oder vermochte“. Es ist ein Buch, das so ziemlich alles in den Schatten stellt, was ausü-bende Musiker bisher über Bach geschrieben haben. Eine bewundernswerte Annäherung an Bach, die Gelehrsamkeit (Zeittafel und Register, Fußnoten und Anmerkungen belegen, wie vertraut Gardiner mit der Bachforschung ist) mit Leidenschaft zu verbinden weiß.
Das Buch ist eine Bachhuldigung, aber auch der gelungene Versuch, dem Leser die „prächtige Klangwelt und die Freude“, die der Autor als Dirigent , der sich lebenslang mit Bach auseinandersetzte, mitzuteilen.
Beitrag auch in Freie Presse Chemnitz