Musik und Gesellschaft. Reinighaus u.a.

Musik und Gesellschaft

Marktplätze, Kampfzonen, Elysium.

Hrsg. von Frieder Reininghaus, Judith Kemp und Alexandra Ziane


Verlag Königshausen & Neumann, 1424 Seiten, 2 Bände Hardcover in Halbleinen


Eine opulente sozialhistorische Musikgeschichte

Musik ist keine unpolitische, schon gar keine "heilige" Kunst



Nun sind sie endlich erschienen, zwei opulent ausgestatte, im wahrsten Sinne des Wortes schwergewichtige Bände einer neuartigen Musik- als Gesellschaftsgesichte.  „Musik ist möglicherweise nicht nur die ‚romantischste‘ der Künste. Mit Sicherheit ist sie von ihren Anfängen bis auf den heutigen Tag eine hochgradig soziale Angelegenheit.“ So lautet der erste Satz der 1424 Seiten umfassenden zweibändigen Publikation. Die Herausgeber Frieder Reininghaus, Judith Kemp und Alexandra Ziane betonen: „Musik ist nicht zu denken ohne ihre gesellschaftlichen Funktionen". Musik ist immer auch politisch.


Es geht den Herausgebern in ihrer Darstellung nicht nur um Musik als „Freude schöner Götterfunken, Tochter aus Elysium“, sondern sie betrachten auch die „Kampfzonen, in denen die MusikerInnen um ökonomische Grundsicherung, elementare Rechte, und soziale Anerkennungen den Städten der Neuzeit und in der Neuen Welt Aufmerksamkeit verdienten, die ihre Virtuosenrivalitäten auf Tasten und Saiten wie mit den Stimmbändern austrugen, Dienstleister und Kumpane von Politik und Politikern der verschiedenen Couleur wurden oder als Oper-Pop- und Rockstars zu Reichtum kamen."


107 Autoren dokumentieren dies in 421 Essays, „eine Montage unterschiedlicher Texte“, die diese mit Respekt zu würdigende Arbeit zu einer wichtigen sozialgeschichtlich-musikhistorischen "Anthologie“ macht, die sich, von einigen Ausflügen abgesehen, im Wesentlichen "auf die Breitengrade zwischen Amsterdam und Athen bzw. die Regionen zwischen London oder Lissabon und Leningrad begrenzt sowie auf die letzten 1000 Jahre“.


Entstehung, Wirkung, Geltung und Nachhall, Innovationen, Gärungs- und Reifungsprozesse, Triumphe und Avantgarden, aber auch Notlagen des Musikbetriebs, "Abbruchkanten" von Entwicklungen, deren Schreibweisen und Kommunikationsformen kommen zur Sprache, Spitzenleistungen wie „Breitensport“. Ein weites Feld, das die ganze Bandbreite der Musik (U- wie E-Musik), des Wissenschaftsjournalismus wie der Musik-Essayistik sichtbar macht, zumal die Autoren aus einem Dutzend Ländern, Musikwissenschaftler wie – Journalisten, naturgemäß sehr unterschiedliche Akzente setze. Zuweilen wagen sie auch ideologisch einseitige Zuspitzungen.

„Was aber ist Musik“ fragt Frieder Reininghaus zu Beginn der Publikation, die mit einem Auftakt von einem Dutzend Essays zu generellen Themen beginnt, zu denen bezeichnenderweise ein meist ausgespartes Thema wie „Musik und Musiker im Einsatz bei Folter und Hinrichtungen“ (Regine Müller) gehört. Dann folgen in zehn Kapiteln 409 Texte, die zu ausgewählten Ereignissen, Werken, Persönlichkeiten und Leistungen im Musikleben (gewissermaßen“ the best and the most important in music history)“ Stellung beziehen. Eingeleitet werden die Essais von Stichworten zu politischen, militärischen, technischen, aber auch orts- und zeitübergreifende Zusammenhängen, die Querbeziehungen stiften und auf folgende sowie andere Texte verweisen.


Es geht in dieser sozialhistorischen Musikgeschichte, um ein paar konkrete Bespiele zu nennen,  um das  tridentinische Konzil, die Eröffnung des Teatro Olimpico in Vicenza  oder die Royal Academy und das Haymarket Theatre in London, um Monteverdis „Orfeo“, Bachs Brandenburgische Konzerte, Mozarts „Don Giovanni und die Me Too-Debatte“, die Nürnberger Meistersinger, um ,Beethovens „ästhetischen Terrorismus“ oder den portugiesischen Fado als „Dirnenlied, Diktatorenschmalz und Touristenschlager“, um „Musik aus dem Stetl“, also Klezmermusik, die Eisenbahn und ihre Musik, Offenbachs Bouffes Parisiens, Kaffeehausmusik, um den „Indiana Jones des Französischen Empires, Spontinis "Fernand Cortez“ , um Eleonora d´Este wie um Martin Luther, um Richard Wagners Bayreuther Festspielhaus als Pilgerort wie den Jazz New Orleans, Lehárs „Lustige Witwe“, Hollaenders Musik zu Josef von Starnbergs Film ‚Der Blaue Engel‘, um Richard Strauss als Präsident der Reichsmusikkammer, um Schonbergs ‚Ein Überlebender aus Warschau‘, die Darmstädter Komponisten „und ihre Zuchtanstalt“, aber auch den Deutschen Musikrat, Musik und Fußball, um den "Jahrhundertring" in Bayreuth 1976, Keith Jarrets Kölner Konzert, um Michael Jackson und Madonna ebenso wie um das Thema "Frauen im Orchester", die Renaissance der Barockoper oder YouTube als "größten medialen Marktplatz des Internets". Die Bandbreite dieser Musikgeschichte ist enorm, allerdings auch die der unterschiedlichen Haltungen und Standpunkte der Autoren. Aber es geht nicht immer nur um Sachlichkeit, „Wahrheit“ und „Objektivität“. Das eben macht den Reiz der Publikation aus, dass sie ein Kaleidoskop subjektiver Meinungen ist. Ob Festmusik des Mittelalters, Schlager und Loveparaden, Trinklieder und Troubadoure oder DJs, Synagogengesang oder Sinti- und Roma-Geiger, Madrigal oder Riff, Symphonik oder Volksmusik, Oper und Operette, Heavy Metal, Rap oder Katzenmusik: Der enorme "Reichtum der vielfältigen Musikszene, aber auch deren Armutszonen"  werden dargestellt in faktischer Geschichte und meinungsfreudigen Geschichten, Theorien und Anekdoten, übersichtlich gegliedert und reich, ja sinnlich bebildert.

 

Die beiden imposanten Bände, die chronologisch angelegt sind,  haben weder den Anspruch von musikhistorischer Vollständigkeit noch den des Enzyklopädischen, aber man liest sich fest, und  begreift nach der Lektüre dieser unkonventionell konzipierten, lebendig geschriebenen europäischen Musikgeschichte  einmal mehr, dass Musik nicht nur in der Lage ist, ins Reich elysischer Träume und utopischer Hoffnungen zu  entführen und dass sie eben keine unpolitische, schon gar keine „heilige Kunst“ darstellt, wie die Grande Dame des deutschen Liedgesangs, Elisabeth Schwarzkopf mir einmal kategorisch erklärte. "Die Tonkünste dienten stets der Repräsentation von Kirchen und Herrschern, Diktaturen wie Demokratien",  die Herausgeber der lesenswerten Publikation haben recht, aber sie waren oft auch Ausdruck mutiger Anklage und engagierten Widerstands gegen Unrecht, Willkür, Ohnmacht und Dummheit, Unterdrückung und Krieg.


Besprechung auch in "Oper & Tanz"