Musik-Theater & mehr
Photos: privat (Gottfried Pilz)
Sehenswertes Festspiel-Ereignis
Das Regiedebüt von Gottfried Pilz
"Hippolyte et Aricie" ( Rameau)
Oper Leipzig, Prem. am 8.5.93
Frühkritik in der legendären "Klassik zum Frühstück" SFB 11.5.1993
Moderator: Helge Grünewald
Moderator: Sieben Uhr 54, Sie hören "Klassik zum Frühstück" auf SFB 3 und es folgt die zweite Frühkritik. Da geht es um Musik, es geht um eine Aufführung von Jean-Philippe Rameaus "Hippolyte et Aricie", lyrische Tragödie in 5 Akten und einem Prolog in der Originalsprache und zwar in Leipzig. Das war die zweite Premiere innerhlab der Festwochen, die vom 1. Mai bis zum 3. Juli in Leipzig stattfinden. Der Auftakt war ein "Boris Godunow" in einer eher enttäu-schen-den Inszenierung, wie wir vor einigen Tagen erfuhren. Dieter David Scholz war wieder in Leipzig. Und wie steht´s denn nun mit dem Rameau nach diesem etwas mißratenen "Boris"?
D. D. Scholz: Also das war wirklich eine wesentlich aufregendere Produktion, denn mit der Ausgrabung und Reali-sierung von Rameaus Lyrischer Tragödie "Hyipolyte et Aricie" hat man nicht nur ein sehr selten aufgeführtes, bedeu-tendes Werk des frühen Musiktheaters auf die Bühne gebracht, man hat es vorzüglich auf die Bühne gebracht! Immerhin verlangt die Realisierung einer solchen Barockoper ein aufwendiges Ensemble bester Sänger und es stellt auch an die Musiker ungewohnte, sehr spezielle Anforderungen. Der Intendant der Leipziger Oper, Udo Zimmermann, hat sich - wagemutig wie er ist - entschlosen, selbst die Einstudierung der Rameau-Oper vorzunehmen und sie zu dirigieren und er hat wohl die meisten Erwartungen übertroffen, denn wie er die akribisch rekonstruierte Urfassung des Werks aus dem Jahre 1733 mit dem Neuen Bachischen Collegium Musicum Leipzig zu Gehör brachte, das verdient allerhöchsten Res-pekt. Es ist ihm gelungen, dieses Ensmeble in langer Probenarbeit zu überzeugendem, schwungvollem Spiel zu animie-ren, bei ganz erstaunlich stilsicherer Spielweise. Das ist ein nervig-eleganter, aber auch dramatischer Rameau, gespielt auf modernem Instrumentarium, aber doch weitgehend an den Erkenntnissen historischer Aufführungspraxis orientiert, es ist mitnichten akademisch, was da zu hören ist, sondern es ist eine außerordentlich lebendige, lebhafte Aufführung, die da zustandekam und das Publikum hat Udo Zimmermann nach den dreieinhalb Stunden, die die Premiere dauerte, mit langanhaltenden Ovationen gefeiert, und ganz sicher nicht nur den Intendanten der Leipziger Oper, sondern auch den Dirigenten Udo Zimmermann.
Moderator: Ds klingt alles ganz erfreulich. Sie sagten es, das Werk braucht ein großes, gutes, kompetentes, auch kompetentes solistisches Ensemble.Wie stands es damit in Leipzig?
D. D. Scholz: Es war auch gesanglich eine vorzügliche Aufführung. Udo Zimmermann hat für diese Aufführung ein fast ausnahmslos erstklassiges Ensemble zusammen-gestellt. Es gab eigentlich nur eine Enttäuschung, sie betraf den Tenor Justin Lavender, der einen etwas unschönen Hippolyte sang. Doch ansonsten gab es eigentlich nur Anlaß zu Begeis-terung. Aus dem großen Ensemble von immerhin 15 zum Teil sehr anspruchsvollen solistischen Partien ragten Anne Howells als stimmgewaltige und doch immer vornehme Phèdre, der junge Bariton Tomas Möwes als sehr beeindruc-kender Thésée, Juliane Banse als leidenschaftliche Aricie und Franziska Hirzel als charmante Diana hervor. Und man kann eigentlich allen Mitwirkenden, einschließlich des ausgezeichneten Chors der Oper Leipzig nur bescheinigen, daß sie den Anfor-derungen des barocken Ziergesangs gerecht wurden. Diese Rameau-Aufführung bewegt sich auch gesanglich auf außerordentlich hohem Niveau.
Moderator: Und jetzt kommen wir noch zu einem dritten Punkt: Gottfried Pilz hat ja Regie geführt. Wenn ich mich nicht irre, das erste Mal. Er zeichnet auch für Kostüme und Bühnenbid verantwortlich. Als Bühnenbildner kennt man ihn. Und nun die entscheidende Frage: Hält denn auch die Inszenierung dem hohen musikalischen Niveau der Leipziger Auffü-hrung stand?
D. D. Scholz: Ja, allerdings. Gottfried Pilz, der uns ja bisher ausschließlich als Bühnenbildner (vor allem John Dews) vertraut ist, hat sich mit diesem Leipziger Rameau dem Publikum erstmals auch als Regisseur vorgestellt und er kann mit seiner ersten Inszenierung gleich einen großen Erfolg verbuchen. Was Pilz da gewagt hat, das ist anspruchsvolles, avan-ciertes Musiktheater. Von Barocktheater, wie von jedwedem Naturalismus, ist da keine Spur mehr. Gottfried Pilz hat strenge, klare, und doch sehr poetische, fast magisch leuchtende, offene Räume geschaffen, in denen er das Liebesdrama um Hyppolyte und Aricie, samt inzestuöser Phädra-Handlung und ödipalem Theseus-Konflikt als bildhaftes szenisches Oratorium inszeniert: es ist zeremoniell, karg und formenstreng, aber doch zuweilen mit einem Schuß Ironie gewürzt und oft von ganz überraschendem Witz. Es sind, man möchte fast sagen, choreographierte Bilder, sie erinnern ein wenig an Arbeiten von Robert Wilson oder auch Achim Freyer, aber es ist doch eine ganz eigene Bühnen-Ästhetik, die Pilz da entfaltet. Er dekoriert nicht die Handlung, er veranschaulicht eher seelische Zustände. Auch wenn seiner bildnerischen Phantasie nach der Pause etwas die Luft ausging: wie er mit Licht, mit Flugmaschinen, Hubpodien und Drehbühne, mit einfachen, aber farbintensiven Kostümen, mit subtiilen Gesten und Chormassen umzugehen versteht, das ist frappierend. Dieser Leipziger Rameau ist ein sehenswertes Festspiel-Ereignis. Und man darf gespannt sein auf den nächsten Rameau von Gottfried Pilz, denn diese Inszenierung ist ja nur der Auftakt eines geplanten Rameau-Zyklus an der Leipziger Oper.
Moderator: Schönen Dank, Dieter David Scholz, für Ihren Premierenbericht. Es ging um Rameaus Hippolyte et Aricie" in der Leipziger Oper. Das Stück ist noch in der nächsten Zeit zu hören am 13. und 19. um 19. Uhr 30. Man kann also nur empfehlen, nach Leipzig zu fahren und sich diese Inszenierung von Gottfried Pilz und Udo Zimmermann anzusehen und anzuhören.