Nicolai Gedda wird 90

Im Gespräch mit Nicolai Gedda im MDR-Studio in Leipzig. Photo: MDR  1995

 

Einem der vielseitigsten und kultiviertesten Tenöre des 20. Jahrhunderts:

Nicolai Gedda zum Neunzigsten                                

 

Er ist eine Legende unter den lyrischen Tenören der Nachkriegszeit, am 11. Juli 2015 feiert er seinen 90sten Geburtstag, der Ausnahmesänger Nicolai Gedda.  

 


Es war 1952, als Walter Legge, der mächtigste Plattenproduzent der Nachkriegsjahrzehnte, nach einem Vorsingen in Stockholm an Herbert von Karajan und an den Intendanten der Mai­länder Scala telegrafierte: „Hörte gerade den größten Mozart-Sänger meines Lebens“: Er mein­te Nicolai Gedda. Der junge Mann, der – noch Student des Königlichen Konserva­toriums - gerade als „Postillon von Lonju­meau“ sein fulminantes Bühnen­debüt in Stockholm gegeben hatte, wurde sofort engagiert als Grigori in „Boris Godunow“ für die (inzwi­schen legendäre) Plattenaufnahme Issay Dobrowens.

 

Also es war eine phantastische Chance. Das glaube ich, ist einmalig. Risiko war es schon.  


Der 26-jährige Nicolai Gedda wurde über Nacht zu einer der sängerischen Säulen künftiger EMI-Schallplat­ten­produktio­nen und zu einem der gefragtesten Tenöre der folgenden Jahr­zehnte auf allen großen Opern­bühnen der alten und neuen Welt. Er war nicht nur, was man einen „shootingstar“ nennt, er war der stilistisch wie sprachlich vielseitigste Sänger seiner Generation, ein enorm fleißiger Künstler auf der Bühne wie im Konzertsaal und im Platten­studio. Seine Diskographie ist die umfang­reichste, die es von einem Tenor überhaupt gibt. Aber er hat sich nie verführen lassen, für seine Stimme Schädliches zu singen:

 

Die Leute reden einem jungen Sänger ein, für eine Aufgabe einladen, für die er die Stimme nicht hat. Das ist, obwohl es schwer ist, nein zu sagen, aber man muß es manchmal sagen. Das sage ich den jungen Sängern.

 

Nicolai Gedda war ein Ausnahme­sänger, weil er die heute seltene Eigenschaft besaß, die so­ge­nannte „voix mixte“ optimal einzusetzen, die Register seiner Stimme bruchlos ver­blen­den zu können und vorbildlich zu deklamieren. Seine biographisch bedingte Mehrsprachigkeit - er beherrschte perfekt das Französische, Russische, Schwedische und Deut­sche - kam ihm in seinem Repertoire zugute, das von Gluck über Mozart und Gounod bis zu Tschaikowsky und Mussorgsky reichte. Um den italienischen Verismo hat er wohlweislich einen Bogen ge­macht, ebenso wie um das allzu dramatische und Heldenfach. Er wollte den lyrischen Glanz seines hellen und hohen Tenors nie gefährden. Das Geheimnisse seiner langen und intakten Gesangskunst war nicht nur der sichere Instinkt um die Grenzen seiner Stimme.

 

Ich hab diese solide Technik und dann hab ich ein Leben geführt, nicht unbedingt wie ein Mönch, aber ich hab ein anständiges Leben geführt  

 

Noch die Liederabende des über Siebzigjährigen bestachen durch jugendlichen Klang, seltene Ge­schmeidigkeit und technische Präzision der Stimmführung. 1990 gab Gedda mit der Titel­partie in „Hoffmanns Erzählungen“ an der Wiener Staatsoper seinen offiziellen Abschied von der Opernbühne. Doch er gestatte sich Rückfälle. Zum letzten Mal stand  Gedda 1997 auf der Opernbühne.


In seiner 1998 erschienenen Autobiographie (zu der ich die Ehre hatte, das Nachwort zu schreiben) outet sich Nicolai Gedda übrigens als (was seine Stimme verrät) ängstlicher Melancholiker.


Ich hab ein bißchen russisches Blut in mir, die russische Seele habe ich auch in mir, und natürlich liegt mir ein Lenski, der melancholische Poet liegt mir mehr und näher als Charakter, als sagen wir ein Herzog in Rigoletto.


Wie ein roter Faden zieht sich das Trauma der Ungewißheit seiner Herkunft durch den Le­bens­­bericht Geddas, der mit seiner zwischen Stockholm und Leipzig  hin- und hergeworfenen Adoptivkindheit und Jugend beginnt. Die sympathische Introvertiertheit des Menschen Nico­lai Gedda mag darin wurzeln. Ganz sicher aber auch die eiserne Disziplin des Jahrhun­dert­sängers, dessen Stimme durch einen so einzigartigen wie unverwechselbaren keuschen Klang besticht.


Beitrag für MDR-Figaro am 10.07.2015

Photos: Bazzechi, Firenze