Die Welt nach Wagner.Ross

Sehr persönliche, äußerst subjektive Sicht auf Wagner.

Mit geschichtswissenschaftlicher Hemdsärmeligkeit und subjektiver Gefühligkeit schreibt sich der Autor, seit 1996 Musikkritiker des New Yorker, einen Wälzer von der Seele

  

Alex Ross: Die Welt nach Wagner

Ein deutscher Künstler und sein Einfluss auf die Moderne

Rowohlt Verlag, 900 Seiten

 

Schon im Vorfeld des Offenbach-Jahres 2019 hat der Harvard-Gelehrte Laurence Senelick ein wichtiges Buch über den Erfinder der „Offenbachiade“ herausgebracht, ein Buch, das Offenbachs enorme Wirkungsgeschichte am Beginn der Moderne in den Focus nimmt. Jetzt hat der US-amerikanische Musikkritiker Alex Ross den Einfluss Richard Wagners auf die Moderne in seinem Buch “Die Welt nach Wagner“ zum Thema gemacht. 

 

 Man kann dem ersten großen und unübertroffenen Offenbach-Biographen Anton Henseler nur zustimmen, der schon 1930 schrieb:  „Offenbach und Wagner, das sind nicht nur Gegensätze der Gestaltung, sondern auch der geistigen Haltung, wie sie als äußerste Pole die Möglichkeiten und den Reichtum der Musik nach 1850 umspannen.“ 

Siegfried Krakauer ergänzte in seinem Offenbach-Buch von 1937: „Tatsächlich verkörperten Offenbach und Wagner zwei Welten, die einander ausschlossen.“

Seit den 1860er Jahren war Offenbach der kommerziell erfolgreichste Komponist seiner Zeit, Wagner der umstrittenste.  Wagners enormer Erfolg, der schließlich Offenbach verdrängte, kam erst nach Offenbachs Tod. – Dennoch:  Beide übten einen enormen und nachhaltigen Einfluss auf die Moderne aus.

Friedrich Nietzsche schrieb in seiner polemischen Schrift „Der Fall Wagner“: „Durch Wagner redet die Modernität ihre intimste Sprache: sie verbirgt weder ihr Gutes, noch ihr Böses, sie hat alle Scham vor sich verlernt. - Ich verstehe es vollkommen, wenn heut ein Musiker sagt: »ich hasse Wagner, aber ich halte keine andere Musik mehr aus«. Ich würde aber auch einen Philosophen verstehen, der erklärte: »Wagner resümiert die Modernität.“


Eben diese Einsicht aus dem Jahre 1888 ist das eigentliche Motto des Buches, dessen Ausgangspunkt der Tod Wagners in Venedig 1883 ist, und die Reaktion der Mitwelt auf die Nachricht vom Hinscheiden des berühmten Komponisten.


„Das Thema dieses Buchs ist der Einfluss eines Musikers auf Nicht-Musiker – Resonanz und Nachklang einer Kunstform in anderen Bereichen. Wagners Einfluss auf die Musik war gewaltig … Aber sein Einfluss auf andere Kunstformen war beispiellos und ist seither nicht wieder erreicht worden, auch nicht im Bereich der populären Kunst.“ 


Um das zu belegen, spannt der Autor einen großen Bogen vom Wagnerismus des Kaiserreichs und des Fin de Siècle über die beginnende Moderne, die Zeit des Ersten Weltkriegs und der Naziherrschaft bis zu den Literaten, bildenden Künstlern und Filmemachern der Zeit nach 1945. Zu kurz kommt die Musik, ein Unding, denn Wagner hat - nicht nur mit dem „Tristan“ - die musikalische Moderne eingeläutet und die Musikgeschichte verändert. Vor allem aber: Man erfährt nichts Neues in diesem Buch, trotz aller Lippenbekenntnisse:

„Der alternative Wagnerismus ist das Herzstück des Buchs: der Sozialist Wagner, der Feminist Wagner, der schwule Wagner, der schwarze Wagner, der theosophische Wagner, der Satanist Wagner, der Dadaist Wagner und der Science-Fiction-Wagner.“


 Alexander Roos wirft Schlaglichter auf Wagners Leben und Werke, deren Titel zur Gliederung der 15 Kapitel herhalten müssen. Auch Wagner in Israel und Wagners Verhältnis zu den Juden sind Themen des Buches. Alles inklusive also „in Sachen Wagner“, aber alles recht locker gestrickt und mit vielen fragwürdigen Aussagen wie etwa der folgenden: „Die Version der Nationalsozialisten ist die bekannteste Ausprägung des Wagnerismus. «Der Begriff ‹protofaschistisch› wurde praktisch für Wagner geprägt»,“ …

… so zitiert der Autor den marxistischen Philosophen Alain Badiou. Er zitierte aber auch den Historiker Nicholas Vazsonyi, der in seinem Buch „Die Entstehung einer Marke“ schrieb „Es gibt keinen Weg in das 20. Jahrhundert – im Guten wie im Bösen –, der an Wagner vorbeiführt“. 

Das Buch von Alex Ross ist so ambivalent wie reich an Namedropping. So wird auch der Literaturkritiker Michael André Bernstein und sein Begriff des „backshadowing“ zitiert, der die Angewohnheit meint, die deutsche Geschichte als unumkehrbaren Marsch in den Abgrund zu betrachten.  Ross verurteilet einerseits die Gefahr der ständigen Koppelung von Wagner mit Hitler, weil sie dem «Führer» einen späten Triumph verschaffe, den Alleinanspruch auf die Deutungshoheit des Komponisten. Der Wagnerismus habe Hitlers Liebe zu Wagner überlebt. Und doch bezeichnet Ross Wagner als „Protonazi“. Der Autor liebt und hasst Wagner. Da nützt es auch nichts, wenn er George Bernard Shaw als Kronzeugen zitiert, der in seiner bekannten Abhandlung The Perfect Wagnerite (Ein Wagner-Brevier) schreibt: „Ein echter Wagnerianer zu sein, bedeutet (…) nicht, Wagner gegenüber wie ein Hund seinem Herrn nur treu ergeben zu sein“.


Schließlich schreibt Ross: „Die Entschleunigung der Musik, ihre Mehrdeutigkeit, der radikale Schauder ihrer Emotionen, die Unruhe, die so viele Menschen beim Hören fühlen: Das alles macht Wagner zum Gegenpol der modernen Kultur, zu einer Warnung aus der beschädigten Vergangenheit.“ Ja was nun? Widersprüche kennzeichnen das Buch.


Zwar bekennt der Autor: „Ich kenne die Grenzen meiner fachlichen und sprachlichen Kompetenz.“ Doch er rettet sich mit dem Hinweis: „Man muss den Menschen Wagner oder seine Musik nicht lieben, um das atemberaubende Ausmaß seiner Leistung zu erkennen.“ 

Den Nachweis dieser Leistungen haben aber längst andere Autoren erbracht.

Am Ende folgt dann das verschwurbelte Bekenntnis: „Die Geschichte Wagners und des Wagnerismus zeigt uns die besten und die schlimmsten Eigenschaften des Menschen… Wenn wir Wagner betrachten, schauen wir in einen Vergrößerungsspiegel der menschlichen Seele. In der Ferne erhaschen wir vielleicht einen flüchtigen Blick auf ein erhabenes Reich, einen glänzenden Tempel, eine Ekstase des Wissens und des Mitleids. Es ist aber nur ein Schatten an der Wand, ein Echo aus dem Abgrund.“


Das aber hat mit Wissenschaft nicht viel zu tun. Zwar beweist der Autor die Kenntnis einer Menge an englischsprachiger Wagnerliteratur, doch offenbart er empfindliche Lücken in der deutschsprachigen, die insbesondere zur Erhellung der ideologischen Wirkungsgeschichte Wagners wesentlich beigetragen hat. Mit geschichtswissenschaftlicher Hemdsärmeligkeit und subjektiver Gefühligkeit schreibt sich der Autor, seit 1996 Musikkritiker des New Yorker, seine ganz persönliche, äußerst subjektive Sicht auf Wagner von der Seele. Die Lektüre dieses fast 900seitigen Wälzers ist für den Wagnerkenner verzichtbar, für den interessierten Nichtkenner nur verwirrend und nicht zu empfehlen.

 

Buchbesprechungen auch in SWR 2 und „Das Orchester“