Tristan und Isolde. Ein Missverständnis

Tristan und Isolde, ein Missverständnis: Trionfo della morte und kein Liebestod


 


Wagners "Tristan": Vollendung und Überwindung der Romantik oder Die Herrlichkeit und die Fragwürdigkeit der Liebe:

 

 

Ins Zentrum des zweiten "Walküren"-Aktes hat Wagner eine fast strindberghafte Ehe dargestellt. Der casanovahafte Gott und seine moralinsaure, allzu sittenstrenge Gattin geraten aneinander - aus dem naheliegendsten und banalsten aller Gründe, der ehelichen Untreue.

War es Zufall, dass Wagner, mitten in der Komposition eben jenes zweiten „Walküren“- Aktes, im September 1854, durch seinen Züricher Freund und Gesinnungsgenossen, den Schriftsteller Georg Herwegh, auf Arthur Schopenhauers Hauptwerk "Die Welt als Wille und Vor­stellung" gestoßen wurde? Schopenhauers Philosophie, die den Willen als Inbe-griff des Eros ins Zentrum stellt und Anweisung zu seiner Bändigung, ja Über-windung gibt, beeindruckt den Erotomanen Wagner mächtig. Er liest das dicke Werk binnen we-niger Monate zweimal! Nicht nur versteht Wagner jetzt seinen Wotan besser, wie er in seiner Auto­bio­graphie bekennt, er wird auch zu einem neuen Werk angeregt, in dem die Untreue im Zentrum steht, zu „Tristan und Isolde“.

In einer Erläuterung des "Tristan"-Vorspiels, die Wagner in Paris 1860 verfasste, heisst es: "Sehnsucht, Sehnsucht, unstillbares, ewig neu sich gebärdendes Verlangen, Dürsten und Schmachten; einzige Erlösung: Tod, Sterben, Untergehen, Nichtmehrerwachen!" Das meint nichts anderes als die Schopenhauersche Sehnsucht nach der Aufhebung der Lebens- und Lie­bes­qual, die Sehnsucht nach dem Nirwana. – Zur Erinnerung: Scho-penhauer betrachtet Eros als die stärkste Manifestation des Willens, die den Menschen unfrei und unglücklich mache durch unstillbare Begierde und quälende Triebhaftigkeit, die letztlich in Selbst­­zerstörung, ja in den später von Freud sogenannten Todestrieb übergehe. Dieser Frieden bringende Tod ist die Verneinung des Willens und heißt gut buddhistisch Nirwana.

 

In einem Brief Wagners an Mathilde Wesendonck vom 3. März 1860 schreibt Wagner denn auch eindeutig schopen­hauerisch: "sehnsüchtig blicke ich oft nach dem Land Nirwana. ... Doch Nirwana wird mir schnell wieder Tristan".

 

Wagner kannte natürlich schon seit Dresdner Zeiten Gott­fried von Straßburgs mittel­hochdeutsches "Tristan"-Epos in der neuhochdeutschen Bear­beitung von Hermann Kurtz. Ein höfisches Epos, das über mittelalterliches Denken und Fühlen bereits deutlich hinausweist, in dem es darstellt, dass die Erfüllung irdischen Daseins, die Liebe also, mit dem Verlust irdischen Daseins erkauft werden muss. Das tragisch-schöne Scheitern des Liebespaares Tristan und Isolde an dieser Welt, das war ein Stoff für Richard Wagner! Zumal er selbst zutiefst verwickelt war in Gefühlsverstrickungen mit der schönen Mathilde Wesendonck, der Frau seines Zürcher Mäzens, Verstrickungen, von denen die Mit- und Umwelt nichts wissen durfte. Doch zunächst ist Wagner noch mit dem Komponieren an „Walküre“ und „Siegfried“ beschäftigt. Er bettet seinen Siegfried des zweiten Aktes noch unter die Linde, dann bricht er die Komposition des "Rings" ab.

 

Im Juni 1857 teilt Richard Wagner Franz Liszt brieflich mit, jetzt wolle er "den 'Tristan' in kleinen, eine Aufführung er­leich­ternden Dimensionen" ausführen, es sollte ein unpro­blematisches Werk werden, das man leicht besetzen und an jedem kleineren Theater aufführen könne,  ein, wie Wagner sich ausdrückte, "durchaus praktikables Opus", das ihn "für einige Zeit flott erhalten" werde. Er wollte diesen "Tristan" als italienische Oper für den Kaiser von Brasilien, Dom Pedro, schreiben. Er dachte allen Ernstes ans Auswandern in die Neue Welt, auch später noch, doch daraus wurde nichts.

 

Schon Mitte September ist die Urschrift des "Tri­stan" fertig. Im November entstehen er-ste musi­ka­lische Vorstudien. Gleichzeitig vertont Wagner fünf pathetische Liebes-Ge-dichte seiner Zürcher Muse, Mathilde, Wagners Freundin, die ihn während seines Zür-cher Exils mehr beflügelte als seine anwesende Gattin Minna, die zwar eine gute Haus-frau, aber keine adäquate Gesprächspartnerin für Wagner war. Das letzte dieser fünf Wesendonck-Lieder ist über­schrieben „Träume“, es ist ein „Tristan“-Vorklang. - Wagner war nach seiner Beteiligung am Dresdner Mai-Aufstand zum Schwer­verbrecher und Vaterlandsverräter erklärt worden, er wurde steckbrieflich gesucht, ihm drohte Kerker-haft, wo nicht die Todesstrafe. Er konnte nur mit Hilfe des generösen Franz Liszt - der ihm einen falschen Pass und das nötige Reise-Geld zugesteckt hatte, nach Zürich fliehen. Die Wesendoncks stellten Wagner und seiner Frau Minna das Gartenhaus ihrer Zürcher Villa als Domizil zur Verfügung. Ebendort entstand der „Tristan“, jedenfalls teilweise. Die ihn zu diesem tief- oder hocherotischen Werk inspirierte, war besagte Mathilde Wesendonck. Es kam natürlich, wie nicht anders zu erwarten, zu einem Eklat zwischen Wagners Frau Minna und Mathilde Wesendonk, so dass Wagner im Sommer 1858 das Zürcher Asyl räumen musste und in Venedig Zuflucht suchte.

Im Palazzo Giustiniani am Canal Grande bezieht er Quartier und komponiert dort mit wahrer Leidenschaft am zweiten Akt des "Tristan". In sein Tagebuch für Mathilde schreibt er: "Seit gestern beschäftige ich mich wieder mit dem Tristan. Ich bin immer noch im zweiten Akte. Aber was wird das für Musik! (...) So etwas habe ich denn doch noch nicht gemacht."  

Venedig, so inspirierend auch für Wagner, wurde nicht die Stadt der Vollendung des "Tristan". Nachdem der steckbrieflich verfolgte Revolutionär aus dem damals zu Öster-reich gehörenden Venedig ausgewiesen wurde, machte er sich auf den Weg zu­rück in die Schweiz, nach Luzern am malerischen Vierwaldstädter See. Am Fuße der schweizeri-schen Alpen vollendete er am 6. August 1859, im  Hotel Schwei­zerhof, nach­mit­tags um halb fünf, in Anwesenheit des Komponisten und Klavierpäda­gogen Felix Draeseke,  eines Freundes aus alten Dresdner Tagen, die Partitur von "Tristan und Isolde", wohl nicht wirklich ahnend,  damit ein wegweisendes Werk der Musikgeschichte abgeschlossen zu haben!

 

Friedrich Nietzsche hatte die überragende Bedeutung des Werks sofort erkannt: "Von dem Augenblick an", so schreibt er, "wo es einen Klavierauszug des Tristan gab - mein Kom­pliment, Herr von Bülow! - war ich Wagnerianer. (...) ich suche heute noch nach einem Werk von gleich gefährlicher Faszination, von einer gleich schauerlichen und sü-ßen Unendlichkeit, wie der Tristan ist - ich suche in allen Künsten vergebens. Alle Fremdheiten Leonardo da Vincis entzaubern sich beim ersten Tone des Tristan. Dies Werk ist durchaus das non plus ultra Wagners."   In der Tat: Es ist das Paradebeispiel des von Wagner sogenannten "Kunstwerks der Zukunft", wenn man den „Tristen“ an Wag­ners eigenen theoretischen Maß­stäben misst, und das heißt konkret an seiner mu­sik­theaterästhetischen Programmschrift "Musik und Drama".

 

Es sind vor allem drei konstitutive Elemente, die das Wagnersche Musikdrama charak­te­ri­sieren: erstens das dramaturgische Prinzip der "Verdichtung" der in den stofflichen Vorlagen enthaltenen Handlungen, Motive, Themen und selbst sprachlichen Ausdrucks­formen. Wagner begründet seine Methode der raffenden Zusammendrängung und Konzentrierung der Stoffmassen folgendermaßen: "alles Zufällige, Kleinliche und Unbe­stimmte" sei auszuscheiden, "alles von außen her Entstellende, pragmatisch Historische, Staatliche und dogmatisch Religiöse"  müsse eliminiert werden, um den eigentlichen "Inhalt als einen rein menschlichen, gefühlsnotwendigen darzustellen"! Der Begriff des "Rein­mensch­lichen" ist ein Schlüsselbegriff der Wagnerschen Kunst!

Der zweite Grundsatz des Wagnerschen Musikdramas ist die Idee der Synthese, der Verschmelzung also von Wort und Musik um der "Gefühlswerdung des Verstandes" willen, wie Wagner schreibt. Er war nie ein Freund der strengen Rationalität. Sein Ziel war eine differenzierte "Wort-Tonsprache", die zum "höchsten Men­schen­ver­ständ­nisse" führe. Wesentliche Elemente dieser "Wort-Tonsprache" sind der natürliche Sprach­akzent der Gesangsmelodie, eine gegenüber der Oper wesentlich erweiterte Funktion des poly-phonen Orchesters zur "Kundgebung des Unaussprechlichen". Was meint, dass das Orchester quasi psychologische Funktion hat. Und dazu dient vor allem ein Gewebe musikalischer Motive, die Beziehungen herstellen, aufeinander verweisen und psycho-logisch kommentieren, Motive, die Symbolcharakter haben. "Plastische Gefühls-momente" nennt sie Wagner. Seit Hans von Wol­zogen sprechen wir von "Leitmotiven".

 

An dieser Stelle ein Wort über Wagners Sprache. Sie ist nur aus utopisch-romantischem Denken heraus zu erklären. Wagner war in seinem Rückgriff aufs Mittelalter durch und durch Romantiker. Aus romantischer Mittelalternostalgie heraus hatte Wagner eine besondere Affinität zum altdeutschen Stabreim. Er sah in ihm "den sinnlich vollendeten Sprachausdruck (...) in welchem einst das Volk selbst dichtete, als es eben noch Dichter und Mythenschöpfer war". So nachzulesen in "Oper und Drama". Wagners eigenwillige Sprachbildungen mit ihren Stab- und Endreimen befremden selbst den hartgesottensten Wagnerianer gelegentlich. Wagners Erwiderung auf alle schon zu seiner Zeit geäußerten Kritik an seiner Reimerei: "Ich bin kein Dichter, und es ist mir ganz gleich, ob man meiner Diktion Vorwürfe macht, bei mir ist alles Aktion; es ist mir bis zu einem gewissen Grad gleichgültig, ob man die Verse versteht, meine Handlung wird man schon begreifen". (So in den Tagebüchen Cosimas am 22. Januar 1871)

 

Friedrich Nietzsche nannte gerade in Hinblick auf den "Tristan" die Sprache Wagners „Musikdunst“. Dieser Musikdunst, um das Wort aufzugreifen, ist allerdings außeror-dentlich kunstvoll mit seinen zeilenübergreifenden Bindungen, die oftmals Stab- und Endreime hinter sich lassen und sich stattdessen der Assonanz, chiastischer Ver-schlingungen oder rhetorischer Sprechfiguren wie der des Parallelismus bedienen. Ideale Voraussetzungen für Musik. Nie zuvor und nie wieder hat Wagner solch kunstvollen Musikdunst kreiert, der sich so widerstandslos in Musik auflösen ließ.

 

Die dritte Säule der Musiktheaterkonzeption Wagners ist der Mythos und "das von aller Konvention losgelöste Rein­menschliche", wie es Wagners Essay "Eine Mitteilung an meine Freunde" heißt. Wagner wollte nicht die moderne Gesellschaft abbilden, analysierend, kritisierend, oder gar parodierend, wie Heine oder Balzac, Ibsen oder Strindberg, Verdi oder Offenbach, sondern er wollte in mythischen Bildern der zu seinem Publikum sprechen. In mythischen Gleichnissen und Parabeln, in mittelalterlich deko-rierten, aber zeitlos aktuellen, ja im Grunde sehr modernen Problem-Geschichten legte er den Finger an die Wunden seiner Zeit und der Gesellschaft. Wagners mittelalterliche Stücke sind allesamt Gegenwartsstücke, sind Utopien eines Zukünftigen, wenn man hinter deren Fassade schaut. Wagner war zeitlebens ein Utopist. Der Mythos ist bei ihm nichts weniger als Chiffre der Gegenwart und Gefäß der Utopie. Es war die Einfachheit, die Klarheit und archetypische Bei­spielhaftigkeit, die Wagner in seinen literarischen Vorlagen suchte. Es leuchtet ein, dass er, um ihn noch einmal zu zitieren, als "den idea-len Stoff des Dichters - und damit meint er natürlich sich selbst und zwar als einen "Wort-Tondichter" - dass er den 'Mythos' verwenden zu müssen" glaubt, um das "rein Menschliche (...) auf dem Theater zu zeigen". Was wäre reinmenschlicher als die Ge-schichte von Tristan und Isolde? Jener beiden Liebenden, die - wie Romeo und Julia - nicht zueinanderkommen dürfen, es verbotenerweise und unter Drogen­einwirkung dennoch riskieren, in flagranti dabei erwischt werden und dafür mit dem Leben büßen müssen.

 

In seinen "Unzeitgemäßen Betrachtungen" preist Friedrich Nietzsche den "Tristan" als das "eigentliche opus meta­physicum aller Künste", und er fügt eine bemerkenswerte Ergänzung an: es sei "ein Drama von der herbsten Strenge der Form"! Recht hat er: der "Tristan" ist - vom formalen Standpunkt betrachtet - das stringenteste der Wagnerschen Musikdramen, schon weil Wagner es vermochte, die ungeheuer breite und bunte lite-rarische Stoffvorlage so zu verdichten, dass ein in sich klares, übersichtliches und stringentes Drama von drei Akten zustande kam. In kaum einem anderen Werk ist das Wagner so geglückt.

 

Im Gegensatz zu seinem Freund Karl Ritter, der ebenfalls eine Bearbeitung des Tristan­stoffes plante, allerdings im Sinne eines "theaterbunten Bilderbogens ritterlich-höfisch-erotischer Vorgänge", entschloss sich Wagner zu einer gründlichen Entschlackung, zur Reduktion der Vorlage Gottfried von Straßburgs, auf den Kern, die "Haupttendenz". Alles "hiervon abliegende Beiwerk", sollte eliminiert werden. Aus den 20.000 Versen des mittelalterlichen, höfischen Romans mit seinen Aventüren, Festen. Spielen, wunder-baren Ereignissen einschließlich Drachenkampf, den detail­freu­digen Beschreibungen von Natur und Kunst, von Alltagsgegenständen, Vorgängen und Entwicklungsstadien hat Wagner die essentiellen tragischen Motive herausfiltriert und zu einem "Drama" von drei Akten verarbeitet, dass er schlicht "Handlung" nennt, nicht Oper, nicht "Festspiel", einfach nur "Handlung". Das sollte sagen: Das ist keine Oper mehr.

 

Wagner hat im „Tristan“ alles Handeln nach innen genommen. Er konzentriert sich ganz auf das innere Ge­sche­hen, auf Liebe, Liebestrieb, Liebesnot, Liebesqual und Liebestod. Nur wenige Per­sonen, Handlungsstrukturen, Schauplätze und Motive hat Wagner von Gottfried über­nom­men. Mathilde Wesendonck hat er in einem Brief aus Luzern vom 30. Mai 1859 sein dramaturgisches Grundprinzip erläutert: "Ich muss alles in drei Hauptsi-tuationen von drasti­schem Gehalt so zusammendrängen, dass doch der tiefe und verzweigte Inhalt klar und deutlich hervortritt; denn so zu wirken und darzustellen, das ist nun einmal meine Kunst."

Die drei Hauptsituationen, von denen Richard Wagner spricht,  sind im Falle des "Tris-tan", die Entstehung der Liebe und ihre Problematik, darum geht es im ersten Akt, der Versuch der Realisierung dieser Liebe mit der Einsicht in die Unmöglichkeit und die Konzeption einer jenseitigen Liebesverwirklichung, das ist der Inhalt des zweiten Aktes und schließlich der Liebestod als je einzelner Tod der beiden Liebenden im dritten Akt.

 

Diesen drei Situationen entspricht die symmetrische Anlage des Dramas in drei Akten, deren Schauplätze die folgenden sind: im ersten Akt das Schiff auf der Überfahrt nach Kornwall, im zweiten Markes Burg in Kornwall und im dritten Akt Tristans Burg in der Bretagne. Diese drei Orte veranschaulichen worum es geht in den drei Akten: Liebesnot, Liebesvollzug, Liebestod. Auch das Personal ist reduziert auf das Einfachste: Zwei Hel-den tragen die Handlung: Tristan und Isolde. Die Schatten hinter ihnen sind - ganz in der alten französischen Dramentradition der Confidente, der Amme oder des Vertrauten - Brangäne und Kurwenal. Weit entfernt, im Grunde außenstehend, König Marke, das Opfer des Spiels, König Hahnreih. Eine klassische Dreiecksbeziehung also. Und es gibt noch Melot, den Intriganten, der die Liebe Tristans und Isoldes an den König verrät. Aber er ist eigentlich nur eine Nebenfigur, die gebraucht wird, um den tragischen Um-schlag, den Wendepunkt in der Mitte des Stücks zu bewirken. Im ersten Akt gibt es drei kleine Chorauftritte. Und dann sind da noch Hirt, Steuermann und junger Seemann. Abe sie sind kaum der Rede, haben fast nur instrumentale, dekorative Funktion.

 

In der Handlung von „Tristan und Isolde“ bietet Wagner ein Minimum an sze­nischer, an äußerer Aktion zugunsten eines Optimums an innerer, an seelischer Handlung. Der gan-ze zweite Akt mit seinen Lie­beserörterungen ist im Grunde doch nur innerer Monolog der beiden Liebenden. Ein Liebesdisput. Mit Liebe auf der Bühne, mit Aktion, mit äußerer Handlung hat das nichts zu tun. Dem entspricht ja auch die Sprache, die Wagner singen lässt. Mein verehrter Lehrer Peter Wapnewski hat sie unübertreffbar charak-terisiert: Es sei eine Sprache, die "mit ihren elliptischen Figuren, ihren steifen Ver-schränkungen, ihrem mystischen Lallen, ihren stoß­weise atmenden Kurzzeilen, den immer wieder anbrandenden Versen, deren ständiges Variieren des einen einzigen Gedankens wie ein bewusstloses Stammeln in einer Metasprache anmutet, die in ihrem stetigen Wieder­ho­lungszwang einen endlosen Liebes­rausch vorspiegelt." 

 

Es erweist sich als Miss­verständnis, wollte man diese Sprache mit Thomas Mann als Dilletantismus oder Un­vermögen abtun: es ist vielmehr eine Kunstsprache von dezi-dierter Bewusstheit und musika­lischer Absicht! Nietzsche hat auch diesen Sachverhalt kurz und bündig auf den Punkt gebracht: die Sprache des "Tristan" sei in einer Art "Ur-zustand (...) wo sie fast noch nicht in Begriffen denkt, wo sie noch selber Dichtung, Bild und Gefühl ist".

 

Richard Wagner betrachtete seinen Tristan - jedenfalls bevor er den Parsifal schrieb - als sein bestes Werk. In sein Tagebuch für Mathilde Wesen­donk schrieb er: "Es ist der Gipfel meiner bisherigen Kunst". - "Der Tristan ist und bleibt mir ein Wunder!... ich habe da alles weit über­schritten, was im Gebiet der Möglichkeiten unserer Leistungen liegt." Tatsächlich ist es Wagner im "Tristan" gelungen, auf über­zeu­gende Weise das in seiner Theorie des "Kunstwerks der Zukunft" errichtete Ideal einmal wenig­stens weit-gehend zu verwirklichen, dramaturgisch wie musikalisch. Die Verschränkung von Text und Musik wird im "Tristan" zum charak­te­risti­schen Form­gedanken, Musik und Text, Motiv- und Dialog­glie­de­rung greifen inein­ander, und das ist es, was Wagner in einem Brief an Ma­thilde Wesendonck seine "feinste und tiefste Kunst" nennt, "die Kunst des Übergangs".

 

Das Sich-aufeinander-Beziehen von Musik und Text, ein urromantisches Anliegen aller Dichter-Komponisten im Fahrwasser E.T.A. Hoffmanns, das Ineinandergreifen von Motiv- und Dialoggliederung, die Ergänzung von Wort und Ton im Sinne eines „Ver-schweigens“ und „Ertö­nen­lassens“ ist es, die Wagner in der Theorie gefordert hat. Im "Tristan" erfüllt sie sich beispielhaft, indem die Musik da einsetzt, zu erklären und psy-chologisch zu deuten, wo das Wort schweigt, wie überhaupt der "Tristan" ein Drama des Verschweigens ist, da aus Gründen der höfischen Etikette, der Ehre, der Vasallentreue und verletzter Gefühls­lagen wesentliche Gefühlsmomente, und damit dramatische wie psychologische Anlässe der handelnden Protagonisten verschwiegen werden oder aber schlicht unsagbar sind.  Das psy­cho­logische Erklingenlassen dieses Verschwiegenen geschieht mittels einer Fülle expressiver musikalischer „Erinnerungs-“ und „Ahnungs-Motive“, die Wagner unter­scheidet. Es fällt schwer, diese Grundmotive - wir sagen heute Leitmotive - zu benennen, denn sie werden auf­einander bezogen, gehen ineinander über, erscheinen als Umkehrung anderer Motive und verlieren sich oft ins Ungreifbare. Inso-fern ist der „Tristan“, tatsächlich so etwas wie "Musik als Handlung, als ein Auf- und Ab, ein Sehnen und Erfüllen zueinanderstrebender und einander abstoßender tonlicher Kräfte", wie es der Musik­wissenschaftler Paul Becker schon in den Zwanzigerjahren des 20. Jahrhunderts formu­lierte. Es ist autonome Musik, nicht mehr gebunden durch starre Opernformen und -schemata, es gibt keine isolierbaren, für sich stehende Arien, En-sembles, Chornummern oder Zwischenspiele mehr. Alles fließt sinfonisch ineinander, und ist durch musikalische Motive und textliche Strukturen eng miteinander verzahnt. Das Wort von der „Unendlichen Melodie“ hat hier seien Berechtigung.

 

Schon im sinfonischen Vorspiel zum ersten Aufzug wird dies deutlich. Aber in diesem ersten Vorspiel wird auch etwas anders, das den Tristan auszeichnet, deutlich: die ganze harmonische Kühnheit Wagners nämlich, deren Inbegriff der sogenannte Tristanakkord ist, jener Klang mit den Tönen f-h-dis-gis im zweiten Takt der Einleitung.

 

Der Tristan Akkord ist gewissermaßen eine Ikone der auf die Atonalität vorausweisenden Tristan-Harmonik, mit der Wagner der musikalischen Zukunft die Tore öffnete. Um es  an­­zu­deuten: Das zu ihrer Entstehungszeit die Zeitgenossen völlig über-raschende Neue der Tristan-Musik ist die enharmonische Doppeldeutigkeit der Klänge, die tonale Unbe­stimmtheit von chromatischen Akkordverbindungen, es sind die Stimm­über­schneidungen, Vorbehalte und modulatorischen Ver­schlingungen, die Hervorhebung disso­nierender Einschaltklänge und das immer wieder Überraschende der harmonischen Wendungen, die sich mit besonderer Vorliebe des  Trugschlusses, also der Vermeidung der einfachen Kadenzlösung bedienen. Nie zuvor war das klassische tonale System so ausgeweitet worden. Dominantseptakkorde und andere Dissonanzen bleiben ständig unaufgelöst, Kadenzen unvollendet; Melodien und Harmonien werden durch chroma-tische Alterationen gesteigert. Das erzeugt enorme Spannung von versprochener, aber vorenthaltener Auflösung. Wagner verlässt zwar niemals die Dur-Moll-Tonalität, aber er spannt ihre Grenzen so weit und erschließt so überraschend neue Beziehungen, dass die atonalen Komponisten, allen voran Schönberg, im „Tristan“ die Rechtfertigung ihres neuen Tonsystems sahen. Die „Tristan“-Musik hat den Lauf der Musikgeschichte un-umkehrbar beeinflusst. Der "Tristan“ ist eine der Ursprungsurkunden, ist Vorbote der musikalischen Moderne, der "Zukunftsmusik". Debussy, Schönberg, Alban Berg wären ohne Wagners „Tristan“ nicht denkbar gewesen. Und doch ist der „Tristan“ auch der Höhepunkt, ja die Vollendung der musikalischen Romantik, der bis an die Grenzen des Möglichen ausgereizten musikalischen Mittel feinster, schillerndster Seelenregungen. Aber er ist auch bereits deren Überwindung. Das Wort von Richard Strauss, der Tristan sei "Anfang und Ende aller Musik" hat seine Berechtigung. 

 

 

Der "Tristan" ist der konsequenteste Versuch Wagners, das von ihm sogenannte "rein Menschliche" auf der Musik­theaterbühne zu realisieren.  In allen anderen Werken ver­stellen philosophische, weltanschauliche, quasi politische Ideen, verkappte Religion oder Pseudophilosophie, historische Dekoration oder übermenschliche, göttliche oder gei-sterhafte Gestalten den Blick auf das unmittelbar menschliche Geschehen und verlangen nach De­chif­frie­rung. Im "Tristan" stellt Wagner, so radikal wie in keinem anderen seiner Musikdramen, nur zwei Menschen und ihre Vertrauten auf die Bühne, um das mensch­lichste aller Themen, die Liebe, als Handlung darzustellen: Tristan und Isolde, Brangäne und Kurwenal, den Intriganten Melot und den gehörnten Dritten, König Marke. Im Grunde erzählt Wagner ja ein Stück aus seinem Leben. Man könnte als Regisseur mit einiger Berechtigung Tristan als Richard Wagner auftreten lassen, Isolde als Mathilde Wesendonck oder irgendeine andere seiner zahlreichen Liebschaften, Brangäne als die demütig aufopferungsvolle Cosima und Marke als Otto Wesendonck bzw. als Gatten irgendeiner Liebschaft Wagners... Man könnte mit gleichen Recht Marke als Ludwig II. zeigen, und Isolde als Cosima. Auch das machte Sinn...  Für Regisseure also ein Stück, das viele Möglichkeiten bietet. ...

 

Wieder hat Peter Wapnewski die Essenz des Tristan unübertrefflich in Worte gekleidet: "Tristan und Isolde sind das Bild des Menschlichen in seiner radikalen, ja puristischen Reduktion auf den macht­voll­sten aller Triebe. Und sind deshalb so ganz von dieser Welt; und so gar nicht von dieser Welt".

Der Wagner-Enkel Wieland hat die Handlung des "Tristan" auf eine sehr einfache For-mel gebracht: es ist der "aus der Urzeit keltischer Sagen überlieferte Mythos vom tödli-chen Eros, von Ehebruch und destruktiver Leidenschaft". An einem exemplarischen Fall zweier Lie­ben­der demonstriert Wagner den schönen, illusorischen Traum von der Einheit und Überwindung der Zwei­heit als gewaltigen, egoistischen, ja asozialen Trieb, der das Le-ben optimiert und dennoch eine Sucht zum Tode ist. Die unerfüllbare Liebe zu Ma-thilde Wesendonck, romantische Nacht­verherrlichung, der spanische Ehrbegriff der von Wagner so bewunderten Dramenwelt Calderons und Schopenhauersche Philosophie gehen im Tristan eine einzigartige Synthese ein.

 

Doch es ist - darin möchte ich allen landläufigen Tristan-Interpretationen widersprechen – ge­rade nicht die Verherrlichung der Liebe als eine die Realität trans­zendierende Macht, also das Irdische überwindende, im Jenseits die Liebenden vereinende Macht, um die es Wagner geht, sondern eher um die Dialektik von Liebesanspruch als Wunschidealität  und tatsächlicher, tragischer Liebeswirklichkeit. Tristan spricht es ja selbst in seinem Fiebermonolog aus. Er gesteht seine Todessehnsucht, die ihm von Geburt an innewohn-te, und er verflucht die Sonne, den Tag, das Leben, den Liebes-Trank und die Liebe zu Isolde, die ihn am Sterben hindert. Die alte Weise, mit der Tristan am Beginn des dritten Aktes aus seinem Koma geweckt wird, sie erinnert ihn an sein Existenzielles Grund-problem: Sich nach dem Sterben zu sehnen, aber vor Sehnsucht nicht sterben zu können.

 

An Franz Liszt schrieb Richard Wagner im Dezember 1854: "Da ich nun aber doch im Leben nie das eigentliche Glück der Liebe genossen habe, so will ich diesem schönsten aller Träume noch ein Denkmal setzten, in dem von Anfang bis zum Ende diese Liebe sich einmal so recht sättigen soll, die einfachste, aber vollblutigste Konzeption; mit der schwarzen Flagge, die am Ende weht, will ich mich dann zudecken, um - zu sterben.-" Die schwarze Flagge am Ende, ein Relikt aus einer der vielen literarischen Tristan-Bear-beitungen, hat Wagner zwar eliminiert, aber den schönsten aller Träume hat Wagner zweifellos im "Tristan" dargestellt, wenn auch in seiner furchtbaren Ambivalenz und Fragwürdigkeit: Im zweiten Akt entwickelt das Liebespaar eine Liebeskonzeption, die den Tod als Tor zur ewigen Liebe betrachtet, als Aufhebung aller Schranken zuwischen Ich und Du, als Überwindung der Individuation und aller gesellschaftlichen Schranken und Grenzen. Ein Wunschtraum aller romantischen Liebenden seit Joseph von Eichendorff.

 

Auch in den Liebesdialogen des zweiten Aktes oder in Tristans Fiebermonolog im drit-ten Akt hört man noch die Nachtgebete der Romantik durch, vor allem die Hymnen des Novalis. Es war ja ein Lieblingsgedanke der Romantik, dass die Welt, wenn die Nacht sich über sie senkt, zu klingen beginnt. Die Romantiker liebten es, wie Wagner, Nacht und Tag als Gegensatz von Sein und Schein zu betrachten, oder die Umkehrung der Wer-tung von Licht und Finsternis. Auch Tristan flieht das Licht wie die Fledermaus und lebt eigentlich erst in der Dunkelheit, die er als seine Heimat empfindet. Und das Reich der Liebe ist für Tristan und Isolde die Nacht. Das ganze Textbuch ist voll von romantischen Lichtmetaphern. 

 

Es ist im Grunde der ins Überdimensionale gesteigerte, egoistische, ja geradezu asoziale Traum von der Liebe als selbst­süch­tiger, rücksichtsloser Vereinigung, als Separierung von der Welt. Doch Wagner - und das ist ganz und gar nicht mehr romantisch, zeigt im dritten Akt, dass dieser Traum nichts ist als eine Utopie, die an der Realität scheitert. Sie platzt mit Tristans Tod wie eine Seifenblase. Tristan und Isolde sterben getrennt, je für sich! Der von Geburt an am Leben leidende Tristan reißt sich unmittelbar vor der An-kunft Isoldes absichtlich die Wunden auf, um in ihren Armen zu verbluten und aller Le-bens- und Liebesqual ein Ende zu machen. (Ich darf daran erinnern, es ist schon sein dritter Selbsttötungsversuch: im ersten Akt trinkt er einen vermeint­lichen Todestrank, im zweiten stürzte er sich absichtlich in Melots, seines Verräters Schwert.) Am Ende des dritten Aktes gelingt es Tristan endlich, sein Leben zu beenden, ins Nichts, ins Nirwana, um mit Schopenhauer bzw. buddhistisch zu reden, einzutauchen. Dieses Nichts ist auch musikalisch nicht mehr darstellbar für Wagner! Nach Tristans letztem Wort, das seinen Tod anzeigt, kann Isolde nur noch einen Stoßseufzer hervorbringen, Wagner lässt das Orchester vollständig verstummen, er setzt eine Pause. Danach stirbt Isolde ihren ganz einsamen Liebestod. Man kann ihn einen psychogenen Tod aus Trennungsangst nennen, der in einer wahnhaften Extase, einer Halluzination gipfelt. „Tristan und Isolde“ ist ein herrlich desillusionierendes Stück über die Herrlichkeit, aber auch die Fragwürdigkeit des gesellschafts­sprengenden Prinzips Eros und aller jenseitig überhöhten Liebes-Verklärungen.

 

Man vergegenwärtige sich: Isolde kommt am Ende des dritten Aktes zu Tristan, um die Wendung zum Guten zu bringen, Heilung für Tristan, und Legalisierung ihrer beider Liebe, denn sie hat König Marke in die Problematik des Liebestrankes eingeweiht. Er wäre sogar bereit, Isolde Tristan abzutreten und er verzeiht ihm. Und genau in diesem Augenblick begeht Tristan erfolgreich Selbstmord. Er weiß, wenn die Geliebte erst da ist, kann er sich ihrem Bann nicht mehr entziehen, das alte Spiel von Liebesfreud und Liebesleid geht von Neuem los. Er hat - um mit Schopenhauer zu sprechen - den Schleier der Maya durchschaut. Für Isolde scheint er undurchschaubar zu sein. In dieser Hinsicht ist sie von Anfang bis Ende naiv, sie lernt nichts hinzu, sie begreift den Nar-zissten Tristan, diesen den autistischen Schopenhauerianer, den von Geburt an Todes-süchtigen nicht. Daher spiet sie sich im zweiten Akt zur unerbittlichen Anwältin des „süßen Wörtleins und“ auf und beschwört allen Zweifeln, Einwänden, Vorbehalten Tristans zum Trotz die unzerstörbare Einheit von „Tristan und Isolde“ selbst noch und gerade im Jenseits.

Kein Wunder, dass ihre illusionäre Liebe angesichts des in ihren Armen verblutenden Tristans in totalen Verlust der Realitätswahrnehmung ausufert, in eine Wahnvorstellung von existenzieller Bedrohlichkeit, ja unmittelbarer Todesfolge im sogenannten "Liebestod".  

 

Isolde halluziniert, sie glaubt, ihr Geliebter erwache wieder. In ihrer Phantasie sieht Isolde Tristan lichtumflutet aufstehen, er hebe sich – so besingt sie es- in die Höhe, „Seht ihr, Freunde, seht ihr's nicht? Fragt sie die ratlos sie Umgebenden, Marke und Brangäne. Und dann wird Isolde auch noch Opfer einer akustischen Halluzination: sie hört gewis-sermaßen den Weltatem der Liebe aus Tristan klingen: "diese Weise, die so wundervoll und leise, Wonne klagend Alles sagend, mild versöhnend aus ihm tönend, auf sich schwingt, in mich dringt, hold erhallend um mich klingt? Und nun beginnen sämtliche Sinne Isoldes Karussel zu fahren mit ihr, sie hebt förmlich ab, wie die Assunta in Tizians berühmtem Gemälde: sie wird zur Muttergottes, die gen Himmel schwebt. Ein Bild übrigens, das Wagner besonders schätze, weil es „Isolde in der Liebesverklärung“ zeige, wie er Cosima gestand. "Sind es Wellen sanfter Lüfte? Sind es Wogen wonniger Düfte?" fragt Isolde sich und den Zuhörer. Düfte und Töne, Geist und Materie, Sinnliches und Übersinnliches werden Eins, die Naturgesetze werden außer Kraft gesetzt. Wie im Opiumrausch. Diese rauschhafte Synthese aller Sinne ist ein urromantisches Anliegen und gleichzeitig höchst modern, Théophile Gautier lässt grüßen, auch Baudelaires "Blumen des Bösen" scheinen auf und an die Symbolisten und Fin-de-siècle-Literaten ist zu denken. Isolde ist im Rauschzustand, ist in Extase: "Soll ich schlürfen, fragt sie sich, untertauchen, süß in Düften mich verhauchen? In des Wonnemeeres wogendem Schwall, in der Duft - Wellen tönendem Schall, in des Welt-Athems wehendem All –" Nicht mit dem Geliebten verschmilzt Isolde, sondern mit dem Universum, ihre Stimme gilt nicht mehr nur Tristan, sondern dem ganzen Kosmos. Tristan ist längst nicht mehr da. Nur noch sein Leichnam. Isolde ist allein unterm gestirnten Himmel und sinkt einsam hallu-zinierend in den Armen ihrer Amme auf Tristans Leiche. Das immerhin höchst lustvoll, wenn man ihren Worten Glauben schenken darf: „ertrinken - versinken - unbewusst - höchste Lust! -

 

 Diese „Liebesverklärung“ Isoldes, wie Wagner den „Liebestod“ gelegentlich und sehr bezeichnend nennt, ist eines der größten Missverständnisse der Operngeschichte, so wie der Mythos von der ungebrochenen, einzig von außen gestörten Liebe Tristans und Isol-des ein Missverständnis ist. Es ist doch ein Trionfo della morte, ein Festzug aller Sinne in die Nacht des Todes, den Wagner mit diesem Liebestod Isoldes inszeniert, keine jenseitige Liebesapotheose! Das ist keine Verschmelzung mit dem Geliebten, kein Tod in Liebe und Gemeinsamkeit, sondern ein Tod aus Liebe, ein verzweifelt je einsamer Tod zweier Menschen.

 

Isolde kann und will ohne Tristan nicht mehr leben. Die Grenzen von Bewusstsein und Rationalität verlieren für sie jegliche Bedeutung. Isolde löst sich als Individuum auf, sie atomisiert in der Unergründlichkeit des Kosmos, versinkt im Weltatem, ertrinkt im Nir-wana, um noch einmal mit Schopenhauer zu sprechen, sie verliert das Bewusstsein und sie erlebt dies lustvoll wie im Drogenrausch. Die Musik selbst mit ihren extatisch bis zum nahezu Unerträglichen aufgepeitschten, chromatischen Treibhausdünsten und Ge-fühls­stürmen wird dabei für den Zuhörer zur Droge. Wagner hat nichts Extremeres, moderneres, herrlicheres, aber auch nichts Trügerischeres, Desillusio­nierenderes kom-poniert. Am Ende bleibt doch die Frage: ist diese Untergangs-, diese Übergangslust das Glück, das Isolde sich im zweiten Akt vorstellt? Erfüllt sich hier wirklich der roman-tische Liebesgriff schlechthin, der da sagt, Liebe sei unsterblich? Man ist geneigt, ange-sichts der musika­lischen Herrlichkeit dieses unvergleichlichen H-Dur-Schlusses mit ja zu antworten. Die Musik ist einfach zu schön, als dass sie negativ gemeint sein könne, nicht wahr?

 

Aber Wagner – dessen Größe ja gerade in der Dialektik seiner Musik-Dramaturgie liegt - ist durchaus anderer Meinung, denn für den Musiker ist seine Musik eben nicht eindeutig positiv: Die ganze Energie aufgetürmter, fast unerträglich unauf­gelöster Spannungen löst sich im tönenden Schwall der letzten Orchestertakte auf, aber eben in die trügerische Mollparallele von H-Dur, schließlich in reines H-Dur.  Aber Isoldes letzter Ton auf "Lust" ist ein fis, die Dominante von H-Dur, die zur Auflösung in die Tonika drängt. Wagner verweigert Isolde aber diese Auflösung.

 

Auch wenn das Orchester sie schließlich vollzieht, es ist eine Auflösung mit einem bit-teren Beigeschmack. Und damit bleiben alle Fragen offen. Ob Isoldes Tod aus Liebe Er-lösung oder Untergang meint, Wagner legt sich nicht fest. Oder doch? Eine ungetrübte harmonische Auflösung, die eine ungetrübte Erlösung andeuten würde, findet jedenfalls nicht statt. – An dieser Stelle erinnere ich noch einmal daran, was Wagner seinem Freund und Schwiegervater Franz Liszt schrieb: "Da ich nun aber doch im Leben nie das eigent-liche Glück der Liebe genossen habe, so will ich diesem schönsten aller Träume noch ein Denkmal setzten, in dem von Anfang bis zum Ende diese Liebe sich einmal so recht sättigen soll, ... mit der schwarzen Flagge, die am Ende weht, will ich mich dann zudec-ken, um - zu sterben.-"  Er spricht von einer schwarzen Flagge, und nicht etwa von ei-nem großen Licht. Und die letzte Regie­anweisung Wagners in der Partitur des Tristan lautet lapidar: "Isolde sinkt, wie verklärt, in Brangänes Armen sanft auf Tristans Leiche". Die Regieanweisung einer Liebesverklärung und gemeinschaftlichen Erlösung der Liebenden läse sich anders. Man denke nur an den „Fliegenden Holländer“. Dort heißt es: "In weiter Ferne entsteigen dem Wasser der Holländer und Senta, beide in verklärter Gestalt; er hält sie umschlungen." Verglichen damit ist Tristans und Isoldes Ende ganz von dieser Welt, nüchtern, ernüchternd und weit entfernt von jeder theatralischen Apotheose einer jenseitigen Liebesvereinigung.


 

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