Gruber. Europäische Musikgeschichte

Panorama der Musik Europas. Bilanz zwischen Pessimismus und Optimismus


Gernot Gruber: Kulturgeschichte der europäischen Musik. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Bärenreiter / Metzer Verlag 832 Seiten, 2020 


Musikgeschichten gibt es viele. Der österreichische Musikwissenschaftler Gernot Gruber hat jetzt eine „Kulturgeschichte der europäischen Musik“ herausgebracht, die etwas anderes als viele bisherige Musikgeschichten bietet. Es ist sein Opus summum, die Quintessenz seiner Vorlesungen, Seminare und Publikationen. Er war Professor an der Hochschule für Musik und Theater München und an der Universität Wien. 

 

 „Ich versuche in meiner „Kulturgeschichte der europäischen Musik“ meine Erfahrungen mit dem Gegenstand „Musik“ geordnet zu formulieren…. Doch wie bringt man Ordnung in den Verlauf von Geschichte – der Musik, der Künste, der Kultur und der gesellschaftlichen wie politischen Ereignisse?“ Gruber ordnet nicht chronologisch musikgeschichtlich, sondern eher ideen- und entwicklungsgeschichtlich, und das erzählend. Gängige Epochengliederungen werden von ihm in Frage gestellt, aber auch Quellen der Musikgeschichtsschreibung und die Geschichte der abendländischen Musiknotation. Und es geht ihm nicht nur um „Hohengrate der Kunst“, sondern auch um „Populärkultur“, eingebettet in ihre sozialen und politischen Umgebungen und Voraussetzungen und das in allen europäischen Nationen, Zeiten und Gattungen von Musik. Sein Buch reicht von den Anfängen bis in die Gegenwart, von den „Vorboten einer Europäischen Musikkultur“ in Ur- und Frühgeschichte, Hellenismus und Imperium Romanum über das italienische und deutsche Mittelalter, die „Frankoflämische Musikdominanz zur Zeit von Renaissance und Reformation“, die „Emotionalisierung und Theatralisierung der Künste im Frühbarock“, von Musik zwischen Absolutismus und Aufklärung, Klassik, Romantik, die Zeit des Wiener  Kongresses  und den Revolutionen von 1848/49 bis hin zur Zeit zwischen den beiden Weltkriegen, zur „Musik der Nachkriegszeit bis zum Ende der Sowjetunion“. Im abschließenden 16. Kapitel geht es um „Europa vom Ende der Sowjetunion bis in die Gegenwart“. Ein gewaltiges Vorhaben! 

 

„Der Titelbegriff des Europäischen umfasst eine Fülle an Wandel, Kontinuität und Irritation im Geschichtsverlauf.“ Zum Verständnis dessen, was Musik an sich sei, beruft sich Gernot Gruber auf einen Komponisten: „Boris Blacher meinte auf die Frage, was denn Musik sei, salopp: Einer macht sie, einer spielt sie, und einer hört sie- Alle drei seien wichtig und aufeinander angewiesen.“ Dieser Aphorismus kann als Motto des Buches und seines speziellen Blickwinkels gelten: Produktion, Reproduktion und Rezeption von Musik gehören für Gernot Gruber zusammen. Er will nicht Gegenwart aus der Geschichte heraus erklären, sondern Gegenwart in ihrer Widersprüchlichkeit – zwischen dem Wunsch, eine Idee von Europa zu bewahren und den auch im Musikleben erkennbaren gegenteiligen destruktiven Tendenzen. Er will die „Relevanz der politischen und gesellschaftlichen Entwicklung für die Musikgeschichte“ sichtbar machen. Beispielhaft gelingt ihm das – um ein Beispiel zu nennen – in dem Abschnitt über das Biedermeier, die Zeit des Wiener Kongresses und die politisch aufgeheizte „Vormärzzeit“, in der sich aller Ablenkung durch eskapistische Tendenzen in der Musik -die Tanzmusik feierte Hochkonjunktur- aber auch gesellschaftliche Programme, sozialistische Parteien, Utopien von jungen Liberalen, ja Revolutionären artikulierten.  


„Die Protagonisten der Komponistenszene vermitteln ein sehr schillerndes Bild vom „Vormärz“ der 1840er Jahre. Stets äußern sich Verunsicherung und ein Suchen nach Orientierung, mit Blick zurück wie auch im Anvisieren von Wegen des Fortschritts, in Enttäuschung und Hoffnung. Diese allgemeine Konstellation spiegelt sich als ein Raster in der Geschichte der Künste.“ Ein Musterbeispiel für eine Verbindung von revolutionärer Gesinnung und künstlerischen Produkten ist für Gernot Gruber Richard Wagner. „Er hatte mehrfach an aufrührerischen Konflikten und dann am Aufstand in Dresden1849 teilgenommen, stand also auf den Barrikaden und musste nach der Niederschlagung des Aufstands fliehen.“ Im Schweizer Exil schrieb Wagner dann seine musikrevolutionären Essays und konzipierte seinen „Ring des Nibelungen“ als kapitalismuskritische Parabel. 

 

Nach gut 800 Seiten zieht Gernot Gruber eine eher ernüchternde Bilanz: europäische Musik drohe sich aufzulösen in einen durch die Globalisierung alles beherrschenden Mainstream und es zeige sich die Entwertung der Musik zugunsten bloßer Unterhaltung, Alltagsuntermalung und Freizeitbespaßung. „Im Laufe der 1970er Jahre verwischten sich die Grenzen zwischen Musik mit populären Botschaften und der für Tanzunterhaltung: Impulse gaben einmal mehr die USA. Es droht die Entwicklungslinie der Kanonisierung heute im Unverbindlichen des beweglich Massenhaften aufzugehen.“ Doch der Autor ist kein Pessimist. Er hat ein differenziertes Panorama der Musik Europas vorgelegt. Mit Namedropping, allzu vielen gelehrten Zitaten und nicht immer leicht zu verstehenden dialektischen Denkbewegungen, aber auch allzu trockenem Wissenschafts-Jargon mutet der Autor dem Leser anstrengende Lektüre zu.  Dennoch: Sein Buch ist ohne Frage ein großer Wurf.

 

Das Fazit Gernot Grubers: Die Werte Europas „Die sich aus der Geschichte ergaben: die Kultur der griechischen Antike - das Christentum – die Aufklärung“ seien zwar im Niedergang begriffen, in der Politik verlören sie in einem irritierenden Ausmaß an Bedeutung, aber… „Klänge und Rhythmen von Rock oder Hip-Hop wie von Mozart oder einem Strauß-Walzer können sich global in Ländern, die diesem kulturellen Mainstream angeschlossen sind, versöhnlich auswirken. Diese musikalische Balance versöhnt bei uns Europäern emotional unterschwellig, was im politischen Leben in einem Gegeneinander von noch bewährtem Europagedanken und einem neu auftretenden alten Nationalismus auseinander zu brechen droht.“

 

Besprechung auch im Deutschlandfunk/Musikjournal 21.12.2020