Ulrike Kienzle: Giuseppe Sinopoi

„Rettung durch Erinnerung“


Am 20. April 2001 brach der Diri-gent Guiseppe Sinopoli während einer Vorstellung der Verdi-Oper „Aida“ in der Deutschen Oper Berlin am Pult tot zusammen.

Zu seinem 10. Todestag wurde der Dirigent nun mit einer opulenten ,zweibändigen Biographie gewürdigt (Bd. 1: Lebenswege, Bd.2.: Porträts)

Giuseppe Sinopoli hat zwar gern damit gespielt, sich mal als Sizilianer, mal als Venezianer zu empfinden und darzustellen. Aber die Fak-ten sind eindeutig: Er wurde am 2. November  1946 in Venedig geboren, als erstes von zehn Kindern einer gutbürgerlichen Familie. Und zwar auf der Giudecca, also der südlichsten Inselgruppe jenseits des Canale Grande. Er kam als Vierjähriger nach Sizilien. Mit  Achtzehn hat er dort ein glänzendes Abitur hingelegt. Sinopoli war ganz ohne Frage eine Hochbegabung. Er musste nicht viel tun. Alles fiel ihm zu: Sprachen, Literatur, Naturwissenschaften und alles Künstlerische, Musikalische. Sinopoli kehrte nach Venedig zurück, um  auf Wunsch seines Vaters Medizin zu studieren, aber nebenher hat er auch Musik am Konservatorium Benedetto Marcello studiert.  Bruno Maderna war einer seiner Mentoren.


Ulrike Kienzle schildert Sinopolis Kindheit in Italien sehr ausführlich, wie eigentlich jede Lebensphase Sinopolis. Sie schildert sie so ge-nau, wie man sie bisher nirgends nachlesen konnte, die familiengeschichtliche Herkunft Sinopolis, seine Geburt und Kindheit, die Wohn-verhältnisse. Die Familie Sinopoli wohnte in einem herrschaftlichen Palazzo, Giuseppes Vater war übrigens Sizilianer und Marschall bei der Guardia di Finanza, einer vor allem für Wirtschaftskriminalität zuständigen Behörde, seine  Mutter war Venezianerin und Grundschul-lehrerin. Als Giuseppe, der Peppino genannt wurde, vier Jahre alt war, wurde sein Vater nach Sizilien versetzt, in Sizilien wurde Giuseppe in einem erzbischöflichen Seminar untergebracht, er kam mit strengem Katholizismus, aber eben auch mit Mythos und Antike in engen Kontakt, was schließlich für sein ganzes Leben und seine Musikauffassung prägend wurde. Er hat ja immer wieder betont, dass Ritualität und Mythos in der Musik, speziell in der Oper mit  ihren Affekten aufgehoben seien. Das alles zitiert Ulrike Kienzle, aber sie schildert auch, wie der kleine Peppino am Rialtomarkt in Venedig einkaufte, was es bei den Sinopolis zu Essen gab und welche Leckereien er in Sizilien besonders mochte. In einem späteren Kapitel schildert sie sogar die überlieferten Rezepte Giuseppe Sinopolis, der ein begnadeter Koch war. Seine Rezepte sind im übrigen in einigen Zeitschriftenartikeln schon publiziert. Die bei Ulrike Kienzle natürlich ausgewertet und verzeichnet sind.


Auch wenn Verdis „Aida“ für ihn zu einer Art Schicksalsoper wurde: Als wahrhaft italienischen Dirigenten hat sich Sinopoli nie empfun-den. Die Autorin erklärt das mit seiner geistigen Sozialisation, die ja nur zum Teil eine italienische ist. Die entscheidenden Impulse für  seine mentale Identität kamen einmal aus der deutschen Philosophie und Musik, und sie kamen, was das Dirigieren angeht, aus Wien, wo Sinopoli beim legendären Dirigierlehrer Hans Swarowski studierte, und beim Komponisten Friedrich Cerha. Von da an, das war Anfang der Siebzigerjahre, hat Sinopoli seine wesentlichen Karrierestationen in Berlin und Hamburg verbracht (neben London). Und er hat sich bei den Darmstädter Ferienkursen mit Neuer Musik befasst. Er hat ja schließlich auch komponiert. –


So wie Sinopoli stolz darauf war, venezianisches und sizilianisches Blut in sich zu haben, so war er auch stolz darauf, geistig-künstlerisch eher ein Schüler Nietzsches und Freuds zu sein als ein Italiener. Es gibt viele Äußerungen dazu von ihm selbst. Und er ist in Deutschland, in Hamburg und dann in Berlin durch seine kompromisslose Art der Annäherung an Giuseppe Verdi zum Star geworden. Er wollte die Ar-beit an Verdi in seiner letzten Karrierestation in Dresden fortführen, aber da hat ihm sein Tod einen Strich durch die Rechnung gemacht, noch bevor er  ab 2003 Chefdirigent der Semperoper werden sollte, neben seiner leitenden Dirigententätigkeit bei der Dresdner Staatska-pelle. Im übrigen weist Ulrike Kienzle darauf hin , dass Sinopoli auch als Dirigent  alles andere als der typische, "feurige" Italiener war. Sie wird darauf sicherlich im dritten, geplanten Band dieser Monographie – wo es um Sinopolis Kompositionen und um seine musika-lischen Interpretationen gehen soll,  genauer eingehen.


Schon im Titel des Buches kommt zurecht die Archäologie vor. Eine  Leidenschaft Sinopolis, die er mit der Musik teilt.  Er selbst hat ja immer wieder betont, dass die Archäologie ihm genauso wichtig ist wie die Musik, wie Psychologie und Medizin. Alle diese Disziplinen hat er ja schließlich studiert. Ulrike Kienzle führt in ihrer Monographie seine Studienjahre in Venedig und Padua sehr detailreich aus. Und weist darauf hin, warum Sinopoli diese drei Disziplinen – also Medizin, Ärchäologie und Musik so wichtig waren, weil sie, wie er es mir selbst einmal eingestand (siehe mein Buch "Mythos Maestro"), eines gemeinsam haben, dass sie nämlich gewissermaßen den Menschen ausgraben. Und Dirigieren bedeutete für Sinopoli, wie er mir in einem Gespräch sagte,  „Masken herunterreißen“. Musik, speziell Oper war für ihn geschichtet, wie ein ärchäologisches Grabungsfeld. Die  Autorin nennt das Kapitel , das sie diesem Komplex widmet, denn auch „Die Vermessung der antiken Welt“ und sie schildert genauestens Sinopolis spätes Archäologiestudium, seine Leidenschaft des Ausgrabens, für die er viele seiner Gagen ausgab. Sie geht sogar soweit, bei Sinopoli von „Archäologie als geistiger Lebensform“ zu sprechen.  Sie beschreibt übrigens sehr detailreich die Sammelleidenschaft Sinopolis, der sich neben seinem stattlichen römischen Domizil auf der Insel Lipari vor Sizilien ein Haus baute, um seine umfangreiche  Sammlung antiker griechischer Keramikobjekte unterzubringen. 


Man muss weder Musik-, noch Sinopoliexperte sein, um dieses Buch mit Gewinn lesen zu können. Es ist leicht und interessant geschrie-ben. Nun handelt es sich ja auch wirklich um eine außergewöhnliche, schillernde deutsch-italienische Künstlerexistenz, Ulrike Kienzle gelingt es, diese Persönlichkeit fesselnd zu porträtieren. Das Buch nimmt den Leser gefangen. Das Leben Sinopolis hat etwas Romanhaftes.


Last but not least: Ulrike Kienzle hat wirklich alles, was es über und von Sinopoli gibt, gele-sen und ausgewertet. „Rettung durch Erinnerung“ nennt sie ihre biographische Methode.  Deshalb hat sie auch viele Zeitzeugen über Sinopoli ausgefragt, Freunde, Kollegen, Mitarbeiter und Beobachter. Und sie läßt Sinopoli selbst möglichst oft zu Wort kommen. Sie zitiert aus Schriften, Interviews, Rundfunk-sendungen und Filmen. Das Buch ist der Versuch, aus verstreuten Zeugnissen ein Leben so umfassend und detailliert  zu rekonstruieren wie nur möglich. Ganz ähnlich wie Sinopoli, als Archäologe aus Trümmern, Resten und Ruinen Gewesenes rekonstruierte.


Obwohl Ulrike Kienzle in ihrem Bemühen um Vollständigkeit und in ihrer spürbaren Bewunderung für Sinopoli vielleicht manchmal etwas bewundernd-distanzlos ist, und das ist der einzige Einwand, den man gegen sie erheben könnte: Ihr Buch ist respekteinflößend als positivistische Arbeit. Und der separate Photoband, der den fast 700-seitigen Textband mit 134 Photos ergänzt, zeigt den Dirigenten auf all seinen Lebensstationen, von der Wiege bis zur Bahre. Darunter nie gesehene private Photos, die die Autorin von der Witwe Sinopolis zur Verfügung gestellt bekam. Wer sich für das Leben des Dirigenten Sinopoli interessiert, kommt  um dieses Buch nicht herum. Es enthält übrigens auch ein ausführliches Literaturverzeichnis zu aller übrigen Sinopoli-Literatur.


 


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