Wagner und das deutsche Gefühl

Richard Wagner und das deutsche Gefühl

(Ausstellung vom 8. April bis 11. September)
 Ausstellungskatalog, Hrsg. von Raphael Gross, Katherina J. Schneider und
Michael P. Schneider für das Deutsche Historische Museum

Deutsches Historisches Museum, Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 2022, 271 Seiten.

 

Wagner ist „unter Deutschen bloß ein Missverständnis" (Friedrich Nietzsche)

„Das gestörte Verhältnis der Deutschen zu Richard Wagner ist das gestörte Verhältnis zu ihrer Geschichte." (Martin Gregor-Dellin)

 

„Wer sich mit Wagner abgibt, muss ich auf das Ganze einlassen“, um es mit dem Wagnergelehrten Hans Mayer zu sagen, er muss den Sozialrevolutionär und den Königsfreund, den Bürger und den Bürgerschreck, den Europäer und den Deutschen, den (politischen) Schriftsteller wie den Musiker, muss Werk und Schöpfer in seiner künstlerischen Größe wie seinen persönlichen Untiefen.

Nur über wenige Gestalten der Weltgeschichte ist so viel geschrieben worden wie über Richard Wagner. Er gehört "neben Friedrich Nietzsche mit Karl Marx, Sigmund Freud und Martin Heidegger zu denjenigen Autoren des deutsch-sprachigen Raumes, die die europäische Geistesgeschichte bis heute am nachhaltigsten beeinflusst haben" (Ulrich Müller).  Was Wunder: Richard Wagner war ohne Frage der schreib-, mitteilungs- und selbsterklärungs­freudigste, essayistisch wie kunsttheoretisch produktivste, schließlich der dezidiert politischste deutsche Komponist des neunzehnten Jahrhunderts. Sein Œuvre ist unter allen nur erdenklichen Aspekten analysiert worden. Musik­wissenschaftler, Historiker, Germanisten, Altphilologen und vergleichende Literaturwissenschaftler haben sich mit der Erhellung des künstlerischen und theoretischen Werks, seiner Entstehung, seiner Aufführung und Wirkungs­geschichte, aber auch mit Wagners Biographie befasst.

Wagner lässt sich auf keinen kleinsten ge­mein­samen Nenner bringen, lässt sich nicht pauschal beurteilen, politisch einordnen oder gar etikettieren. Wer das versucht, verkürzt Wagner, ja verfälscht ihn. Nicht anders als eine eklatante Verfälschung Wagners darf, nein muss man die jüngste Ausstellung des Deutschen Historischen Museums (DHM) und den dazugehörigen Ausstellungskatalog bezeichnen.

Natürlich, an Wagner scheiden sich noch immer die Geister. Richard Wagner ist noch immer ein Politikum. Obwohl die Auseinandersetzung mit ihm und seinem Werk schon mehr als hundert Jahre andauert, ist sie in Vielem so emotional und kontrovers wie eh und je. Nur über wenige Gestalten der Weltgeschichte ist so viel geschrieben worden wie über Richard Wagner. Er gehört neben Friedrich Nietzsche mit "Karl Marx, Sigmund Freud und Martin Heidegger zu denjenigen Autoren des deutschsprachigen Raumes, die die europäische Geistesgeschichte bis heute am nachhaltigsten beeinflusst haben" (Ulrich Müller). Was Wunder: Richard Wagner war ohne Frage der schreib-, mitteilungs- und selbst­erklärungsfreudigste, essayistisch wie kunsttheoretisch produktivste, schließlich der dezidiert politischste Komponist des neunzehnten Jahrhunderts.

Unmengen nichtwissenschaftlicher, meist biographischer, aber auch journalistischer Publikationen haben dazu beigetragen, dass die Wagner-Literatur ins Gigantische anwuchs. Wie kein anderer Künstler des neunzehnten Jahrhunderts hat Richard Wagner unter seinen Verteidigern und Verächtern kontroverse und emotionsgeladene Debatten hervorgerufen - im Grunde bis heute. Wissenschaft und öffentliche Meinung sind noch immer von divergierenden Urteilen über Wagners Stellung in der deutschen Kulturgeschichte, speziell aber in der Geschichte der Entstehung des modernen deutschen Antisemitismus geprägt. Gegenstand der kontroversen Auseinandersetzungen in der Forschung, die zuweilen wissenschaftliche Disziplin und das Bemühen um historische Objektivität vermissen lassen, sind primär nicht Musik und Drama Richard Wagners, sondern Intention, Weltanschauung und politische Haltung Richard Wagners.

Der Münchner Germanist Hartmut Zelinsky ist in den 1970er-Jahren durch Publikationen hervorgetreten, die Wagners Vorläuferschaft zu Adolf Hitler beweisen wollten, was die Antisemitismus-Debatte zunächst mächtig auflodern ließ. Im Gefolge seiner Bemühungen, diesen Standpunkt durch mehrfache Veröffentlichungen zu erhärten, setzte entschiedener Widerspruch ein, der schon aufgrund berechtigter methodischer Kritik zu essentiellen Relativierungen, wenn nicht Zurücknahmen der Thesen Zelinskys hätte führen sollen. Stattdessen schien das hartnäckige Auftreten Zelinskys nurmehr Rückendeckung zu bieten für weitere Veröffentlichungen, die vornehmlich daraufhin zielten, Wagner "in jener ideologiekritischen Beleuchtung von links" sichtbar werden zu lassen, der es "um den Aufweis einer verhängnisvollen Kontinuität von Luther über Fried­rich den Zweiten, Hegel, Bismarck und Wagner bis Adolf Hitler geht“. (Jürgen Söring).

Der britische Historiker Peter Gay schrieb 1986 "Für den Historiker des modernen Deutschlands ist die Suche nach schädlichen, unheilvollen oder gar tödlichen Ursachen problematischer und riskanter geworden, als es sonst unvermeidlich ist - sie wird ihm zu einer Zwangsvorstellung, so dass er die ganze Vergangenheit nur noch als ein Vorspiel zu Hitler sieht und jeden angeblich deutschen Charakterzug als einen Baustein zu jenem schrecklichen Gebäude, dem Dritten Reich".

Der ehemalige deutsche Bundespräsident Walter Scheel hat in seiner als skandalös empfundenen Rede als Ehrengast der Hundertjahrfeier der Bayreuther Festspiele 1976 zurecht betont: „Ich glaube nicht an die direkte Linie Wagner-Hitler. Man hat noch mehr solche 'historischen' Linien gezogen. Sie beruhen alle auf Geschichtsbildern, die allzu simpel sind.“  Walter Scheel fügte hinzu: "Sicher, Wagner war ein Antisemit. Aber es ist einfach falsch, zu behaupten, Hitler habe seinen Antisemitismus von Wagner übernommen. Beide, Hitler und Wagner, sind Teil einer unheilvollen antisemitischen Unterströmung des europäischen Geistes. Aber Hitler wäre sicher auch ohne Wagner Antisemit geworden."

 

Bei aller Betroffenheit darüber, dass Millionen von Menschen unter der Herrschaft der Nationalsozialisten einem verbrecherischen Antisemitismus zum Opfer fielen, einem Antisemitismus, der sich durch die Berufung auch auf Richard Wagner legitimierte: von Wagners Antisemitismus eine direkte Linie zum Antisemitismus der Nationalsozialisten ziehen zu wollen ist, will man historische Gerechtigkeit walten lassen, ebenso unzulässig, wie es wäre, wollte man etwa Nietzsches Philosophie zur Grundlage nationalsozialistischer Rassenlehren erklären, Goethes Faust zum Urbild nationalsozialistischen Sendungsbewusstseins und Expansions-dranges abstempeln, Liszts sinfonische Dichtung "Les Préludes" als nazistische Sieges-Musik, Bruckner als "Sinnbild der geistigen und seelischen Schicksalsgemeinschaft des gesamten deutschen Volkes", Beethovens 5. Symphonie als musikalische Darstellung des "Lebenswegs des Führers" (wie der nationalsozialistische Musikwissenschaftler Arnold Schering ausführte), die Opern Mozarts als "völkisch", die Werke von Bach, Buxtehude und Schütz als "nordisch" auffassen, nur weil Nationalsozialisten Nietzsche, Goethe und Liszt, Bruckner, Beethoven, Mozart, Bach, Buxtehude und Schütz ihrer Kulturideologie und ihrem Kult gewaltsam einverleibten.

Wagner vom Betroffensein der Nachwelt aus zu betrachten und zu beurteilen hieße, die Kausalität der Geschichte, wenn es denn eine gibt, auf den Kopf stellen, es hieße aber auch, das Spezifische des Wagnerschen Denkens im Allgemeinen, seines Antisemitismus im Speziellen zu ignorieren, seine Brüchigkeit, Widersprüchlichkeit und seine politische Intention, die frühsozialistischem Gedankengut verpflichtet ist und letztlich auf Assimilation abzielt und im krassen Gegensatz zum aufkommenden Rassenantisemitismus steht.

Die Einsicht Theodor W. Adornos hat noch immer Gültigkeit, dass jegliche Dimension Wagners Ambivalenzen zum Wesen habe: "Ihn erkennen heißt, die Ambivalenzen bestimmen und entziffern, nicht, dort Eindeutigkeit herstellen, wo die Sache zunächst sie verweigert."

Auch die methodische Prämisse des israelischen Historikers Jakob Katz: "Der Historiker, der seiner wissenschaftlichen Überzeugung gehorchend die Vergangenheit aus ihren Gegebenheiten verstehen, darstellen und beurteilen möchte, muss sich vor der Gefahr hüten, sich von Tendenzen der Gegenwart bestimmen zu lassen."]

Beides sollte auch das DHM beherzigen.

Zu behaupten, Wagner habe “antimoderne Kapitalismuskritik von rechts” geprägt, wie Raphael Gross, der Präsident der Stiftung Deutsches Historisches Museum, Berlin behauptet, entbehrt jeder Grundlage, ebenso seine Behauptung, Wagner stelle “Gefühle ins Zentrum seiner Kapitalismuskritik“. Er kennt Wagner offenbar nicht wirklich, denn Wagners viele Selbstkommentare und Erläuterungen seiner Werke und ihrer Intentionen lassen keinen Zweifel und sprechen für sich, etwa die seines Nibelungenrings: Wie er in „Mein Leben“ Schreibt: „An eine Aufführung kann ich erst nach der Revolution denken, erst die Revolution kann mir die Künstler und die Zuhörer zuführen, die nächste Revolution muss notwendig unserer ganzen Theaterwirtschaft das Ende bringen: sie müssen und werden alle zusammenbrechen, dies ist unausbleiblich. Aus den Trümmern rufe ich mir dann zusammen, was ich brauche: ich werde, was ich bedarf, dann finden. Am Rheine schlage ich dann ein Theater auf und lade zu einem großen dramatischen Feste ein: nach einem Jahre Vorbereitung führe ich dann im Laufe von vier Tagen mein ganzes Werk auf. Mit ihm gebe ich den Menschen der Revolution dann die Bedeutung dieser Revolution nach ihrem edelsten Sinne zu erkennen. Dieses Publikum wird mich verstehen; das jetzige kann es nicht.“

Wagner begriff sich als „Wort-Ton-Dichter“, er war ein Mann des Theaters, des Worts und der Musik („Wort-Ton-Dichter“ und zeitlebens bekennender utopischer Sozialist.

Vollends absurd ist die Behauptung eines der Herausgebers (Gross): “Für Marx spielte das Nationale praktisch keine Rolle. Bei Wagner ist der Antisemitismus, genau wie auch seine musikalischen Werke, eng mit dem verbunden, was er als deutsch sehen und fühlen wollte - und damit zentraler Bestandteils seines nationa­listischen Gefühls.”

Erstens haben die Äußerungen von Karl Marx durchaus eine nationale Implikation, schon die vielzitierte, bezeichnende Bemerkung von Marx, der Wagner als deutschen „Staatsmusikanten“ apostrophierte (was jeglicher Grundlage entbehrt, Marx verstand übrigens nichts von Musik) ist dumm. Er heftet ihm damit ein folgenreiches Etikett an. Es ist offenbar bis heute nicht abzulösen. Zwar hat schon der Philosoph Friedrich Nietzsche Marx heftig widersprochen und behauptet, dass Wagner „nirgendwo weniger hingehört als nach Deutschland“, ja dass Wagner „unter Deutschen bloß ein Missverständnis ist“. Dennoch geistert das Marx-Zitat immer noch in den Köpfen vieler Wagnerverächter herum. Man kann von Marx vielleicht einiges lernen, aber ganz sicher nichts über Richard Wagner!

Zweitens hat Wagner wortwörtlich Passagen aus Marxens Aufsatz “Zur Judenfrage” für seinen Essay “Über das Judentum in der Musik” abgeschrieben, wenn man sie nebeneinanderlegt (ich habe das in meinem Buch „Richard Wagners Antisemitismus“ getan), erledigt sich jeder Zweifel.

Drittens war Wagner frei von nationalistischen Gefühlen. Wer seine vielen deutschfeindliche Äußerungen kennt, weiß, wovon ich rede.

Natürlich empfand Wagner – fern der deutschen Heimat – wie viele Exilanten, eine Deutsch­land­sehnsucht als Sehnsucht nach einem utopischen "Deutsch­land". In den ersten Jahr­zehnten nach den Napoleonischen Kriegen war die nationale Ent­täuschung, welche die Menschen nach dem Zusammenbuch des preußi­schen Staates 1806 er­griff, groß. Die Wiederentdeckung, ja Hinwen­dung zu einem deutschen Mittelalter als Utopie eines ersehn­­ten deutschen Nationalstaats offenbart in Wagners „Meistersingern“. Allerdings bekannte Wagner in einem Brief vom 24. Oktober 1872, dass er „das Deutschsein als ein reines Metaphysicum“ empfinde, das mit der deutschen Wirk­lich­keit kaum etwas gemein habe. Mit dem realen Deutschland wollte er nichts zu schaffen haben., Was Friedrich Nietzsche zur Einsicht geführt hatte: dass "Wagner unter Deut­schen bloß ein Missverständnis" sei.

Fünf Jahre nach Wagners Tod schrieb Friedrich Nietzsche aus Nizza an seinen Freund Peter Gast: „Wagner selber, als Mensch, als Tier, als Gott und Künstler geht tausendfach über den Verstand und Unverstand unsrer Deutschen hinaus.“ Nietzsche geht sogar so weit, zu behaupten: „Wagner ist das Gegengift gegen alles Deutsche par excellence“. Wagner hat tatsächlich die meiste Zeit seines Lebens im Exil gelebt, wie Jacques Offenbach, wie Heinrich Heine, wie Giacomo Meyerbeer.  Ein Blick in seine Vita beweist es.

Wagner hat fern der deutschen Heimat einen Großteil seines Oeuvres konzipiert und ausgearbeitet, hat die wesentlichen Impulse und Anregungen für sein künstlerisches und essayistisches Werk auf Reisen quer durch Europa erhalten.

Wagner „reiste kreuz und quer durch Europa, der Aktionsradius seines Lebens – eine in jeder Hinsicht expansive Existenz – reichte im Norden bis London, im Osten bis Moskau, im Süden bis Sizilien und im Westen bis zur Atlantikküste“ (Michael von Soden). Und dem Bewegungsdrang seiner Vita entspricht der innere Reichtum seines Werkes. Wagner war ein umtriebiger, um nicht zu sagen getriebener Weltenbummler, ein heimatloser Nomade, angestachelt von Neugier, Produktionszwang, Politik, Eros und „Kunstmission“.

Wagner war selbst für seine Zeit ungewöhnlich mobil. Nur vergleichbar mit Franz Liszt, seinem allzeit spendablen Freund, Mäzen, Propagator und späteren Schwiegervater.  Wagner war zeitlebens ein Reisender – von wenigen Ruhephasen abgesehen –, immer unterwegs. Seine Biographie ist, objektiv betrachtet, die eines Europäers! „Mehr als die Hälfte seines Künstlerlebens verbrachte Wagner jenseits deutscher Grenzen, und die patriotischsten Passagen seines Werkes entstanden außer Landes.“ (Soden).

Friedrich Nietzsche hat Wagner eben deshalb den „Victor Hugo der Musik“ genannt. Wagners Werk mit seinem europäischen „Beziehungszauber“ markiert einen Knotenpunkt jener europäischen Materialien des 19. Jahrhunderts – der faszinierenden Sprengstoffe, Gifte, Hoffnungen, Utopien, Heilsversprechungen, Ideologien, Irrtümer aber auch Wahrheiten in Kunst, Musik, Politik, Gesellschaft, Philosophie und Psychologie, von denen wir heute immer noch zehren.

Wagner hat musikalisch-theatralische Utopien, Träume, Alpträume und Visionen geschaffen, die in sich so romantisch, aber auch so modern, so vielfältig und vieldeutig, so explosiv und gefährlich, so narkotisch wie ernüchternd, so giftig wie human, so brüchig und so illusionär, so monströs wie poetisch sind wie nur Weniges in der neueren Kulturgeschichte. Darin besteht das Faszinosum Wagners, „das Europäische auf Deutsch“, um es mit Thomas Mann zu sagen. Gerade deshalb enthält Wagners Werk nach wie vor so viel „Zukunftsmusik“.

Das Reisen war seit seiner Jugend eine der Passionen Wagners. „Ach Gott,“ bemerkte er schon in einem Brief an seinen Leipziger Studienfreund Theodor Apel aus dem Jahre 1835, also mit 22 Jahren, „mein ganzer Mensch löst sich wohlthätig auf, wenn ich an´s Reisen denke.“ Das Reisen war im Grunde seine Lebensform. Auch wenn er sich nach Haus und Herd sehnte. Was ihn nie lange befriedigte. Wagner ging es nie um Sesshaftigkeit und geregeltes Auskommen. Er war nie ein Realist. Die Taube auf dem Dach war ihm immer wichtiger als der Spatz in der Hand. Er war nie bescheiden. Er wollte hoch hinaus. Meist ging das nur auf Pump. Vor allem aber wollte immer eigentlich weg aus Deutschland.

Warum? Er wollte Europäer sein!  Als Künstler. Sein Werk spiegelt es.

Schon in seinem Jugendwerk – das er noch in deutschen Landen konzipiert hat – beschäftigte sich Wagner leidenschaftlich mit Italien. Mit achtzehn Jahren komponierte er eine Ouvertüre zu Ernst Raupachs Trauerspiel »König Enzio«. Darin geht es um Heinrich von Sardinien, den dichterisch begabten Sohn des sizilianischen Stauferkönigs Friedrichs des Zweiten. Zwei Jahre später komponierte er die Musik zum Opernlibretto »Die Feen«, das er frei nach Carlo Gozzis Theaterstück »La donna serpente« geschrieben hatte. Wagner baute schon damals Luftschlösser und träumte von einer Komponisten-Zukunft in Italien und Frankreich. Seinem Leipziger Freund Theodor Apel schrieb er am 27. Oktober 1834 – er war also gerade 21: „Ja, liebster Theodor, mein Plan ist jetzt ganz fest u. unwiderruflich gemacht. Meine Feen müssen durch die Aufführung an 3 bis 4 guten Theatern dazu dienen, mir einen ehrenvollen Vorwurf für mein Liebesverbot zu machen, das ich während dieser Zeit fertig bringe; mit dieser Oper muss ich dann durchschlagen, und Ruf u. Geld gewinnen; ist mir es geglückt, beides zu erlangen, so ziehe ich mit Beidem und mit Dir nach Italien, und dies zwar im Frühjahr 1836. In Italien komponiere ich dann eine italienische Oper, u. wie es sich macht, auch mehr; sind wir dann braun und kräftig, so wenden wir uns nach Frankreich, in Paris komponiere ich dann eine französische Oper, und Gott weiß, wo ich dann bin! Wer ich dann bin, das weiß ich; – kein deutscher Philister mehr.“ Es war das Motto seines Lebens, was er am 6. Juni 1835 an Theodor Apel schrieb: „hinweg aus Deutschland gehöre ich“-

Ein Blick auf sein Werk: Schon in seiner frühen, auf Shakespeare fußenden Oper »Das Liebesverbot« – dies wurde bereits s kurz erläutert – plädiert Wagner für jungdeutsche „freie Liebe“ und propagiert mediterrane Lebenslust. Im »Tannhäuser« behandelt er den Konflikt zwischen Sinnlichkeit und Geistigkeit, Antike und Christentum, Künstler und Gesellschaft. Mit dem »Rienzi« hat Wagner ein musiktheatralisches Exempel über Machrausch und Verführung, revolutionäre Utopien und menetekelhaftes Scheitern pragmatischer Machtpolitik statuiert, angesiedelt im alten Rom. Es ist übrigens die einzige jungdeutsche Revolutionsoper! Und ausgerechnet die hat der junge Adolf Hitler so peinlich missverstanden, genauer gesagt: gar nicht verstanden, indem er glaubte, sie als Initialzündung seiner scheußlichen Mission verstehen zu müssen.

Der »Fliegende Holländer« basiert auf einem Stoff, den Wagner bei Heinrich Heine fand und ist eine Mischung aus Odysseus und Ahasver. Die Oper meint die Utopie eines (gesellschaftlich) Neuen.

Der »Lohengrin« thematisiert im Spannungsfeld zwischen deutschem Mittelalter und griechischer Tragödie – der antike Chor ist wie im Lohengrin Handlungsträger und Kommentator – den Konflikt zwischen Religion und Politik, Emotion und Rationalität. Im »Ring des Nibelungen« hat Wagner ein antikapitalistisches Endspiel, ja eine Parabel der Gesellschaft seiner Gegenwart auf die Opernbühne gebracht. Griechisch konzipiert und nordisch verkleidet als psychologisch hochmoderne Geschichte vom Untergang einer Welt. Wagner selbst fand übrigens den „germanischen“ Mummenschanz der Bayreuther Uraufführung so abgrundtief scheußlich und grundfalsch, dass er gegenüber Cosima das Wort von der Notwendigkeit aussprach, nun das „unsichtbare Theater“ erfinden zu müssen.

Mit den »Meistersingern von Nürnberg« – nach dem »Rienzi« sein zu Lebzeiten erfolgreichstes Stück – schrieb Wagner eine Komische Oper, in deren altnürnbergischer Renaissancedekoration er ein modernes Künstlerdrama von geradezu programmatischem Charakter versteckte. Hans Sachs ist darin die humanistisch idealisierte Integrationsfigur einer „ästhetischen Weltordnung“, wie Udo Bermbach es einmal sehr treffend ausdrückte. Mit ihr redet Wagner einer demokratischen Gesellschaft das Wort, in der Natur und Kultur, Kunst und Leben versöhnt werden. Die »Meistersinger« enthalten darüber hinaus die Utopie einer das Leben anleitenden, das Alte mit dem Neuen versöhnenden Kunst auf dem Theater.“ Walther von Stolzing ist der Anwalt des Neuen in der Musik, das Wagner allerdings im schopenhauerisch inspirierten »Tristan«, der auf französische und bretonische Quellen zurückgeht, musikalisch umgesetzt hat – bis an die Grenzen zur Atonalität. Ein musikalisch wie gedanklich radikales Werk über die Herrlichkeit, aber auch die Fragwürdigkeit des gesellschaftssprengenden Prinzips Eros und aller jenseitig überhöhten Liebes-Verklärungen. Mit dem »Parsifal« – frei nach Wolfram von Eschenbach, der seinerseits französische Vorbilder verarbeitete – hat Wagner, lange vor Siegmund Freud, ein „Gegengift gegen den Willen“ gebraut, um es scho­penhauerisch zu sagen. Wagner war bekennender Schopenhauerianer und das Wort „Wille“ meint bei Schopenhauer Eros, Liebe und Trieb. Den »Parsifal«, meine Damen und Herren, darf man als theatralischen Exkurs über Mitleid und Eros, Verzicht und Hingabe, Trieb und Sublimierung verstehen, als ein Therapeutikum gegen den mächtigsten Trieb – vor allem den Richard Wagners. „Ein Kunst-Drama der Sinnenabtötung als Rettung vor dem privaten Drama der Sinnenlust.“ So hat das mein verehrter Doktorvater Peter Wapnewski einmal elegant zugespitzt. Das eben macht die fin de siècle-hafte Faszination des Werks aus, aber auch das Unbehagen an der in pseudochristlichen, pseudosakralen Ritus eingekleideten Botschaft von der Erlösung der Welt durch Entsagung. Dass diese Medizin selbst beim erlösungsbedürftigen Erotomanen Richard Wagner nicht ihre ersehnte Wirkung erzielte, hat sein Tod in Venedig bezeugt, der durch heftige außereheliche, erotische Altersaufwallungen und infolgedessen auch durch heftige Streitereien mit Ehefrau Cosima ausgelöst wurde. Mein Freund Herbert Rosendorfer ging in einem seiner ironischen Vorträge sogar soweit, zu behaupten, „Erlösung dem Erlöser“ meine nichts anderes als die Erlösung Wagners von Cosima. Als Wagner diese rätselhafte Schlussformel komponierte, war das erotische Band zwischen ihm und Cosima längst durchtrennt, und er hatte sich anderen Damen zugewandt, der Schriftstellerin Judith Gautier, der Blumenmädchen-Sängerin Carry Pringle und Betty Bürkel, dem Hausmädchen. 

Auch die Konzeption, die Dramaturgie des Wagnerschen Gesamtkunstwerks ist eher europäisch als deutsch. Sie beruft sich nämlich ausdrücklich auf die antike, die griechische Tradition des Theaters, das Selbstdarstellung der Polisgemeinschaft war und in dem Politik, Religion und alle Künste miteinander verschmolzen. Der ranglose Aufstieg der Reihen des antiken Theaters symbolisierte die demokratische Gleichheit der Zuschauer. Die Antike war für den jungdeutschen, sozialistisch angehauchten Demokraten Wagner der wichtigste Bezugspunkt und Maßstab seiner musikdramatischen Kunst. Wagner hat sich seit seiner Schulzeit das Leben lang mit dem antiken griechischen Theater, aber auch der altgriechischen Geschichte und Kultur beschäftigt. Homers »Odyssee«, die Dramen des Euripides, Sophokles und Aischylos waren ihm seit Leipziger Schultagen bestens vertraut und für ihn ewig gültige Modelle seiner Auffassung vom Dramatischen. Und so waren die altgriechischen Mythen, Götter, Helden und Sagengestalten für Wagner der Vergrößerungsspiegel der modernen Individualität, oder sagen wir: der Vergangenheits-Spiegel seiner Gegenwart. Ihm lag nichts daran, Gegenwart als Hier und Heute auf die Bühne bringen. Urbanistisches Gegenwartstheater war seine Sache nicht. Er war kein Strindberg, Tschechow oder Offenbach. Er entschied sich dafür, Gegenwärtiges im Vergangenen spiegeln. Im Kosmopolitisch-Mythischen, Legendären, Märchenhaften.

 

In seiner programmatischen Hauptschrift »Oper und Drama« hat er das denn auch unmissverständlich bekannt: Da schreibt er nämlich: „Alle unsere Wünsche und heißen Triebe, die in Wahrheit uns in die Zukunft hinübertragen, suchen wir aus den Bildern der Vergangenheit zu sinnlicher Erkennbarkeit zu gestalten, um so für sie die Form zu gewinnen, die ihnen die moderne Gegenwart nicht verschaffen kann.“  Diese Bilder der Vergangenheit, das waren für Wagner vor allem die Bilder des alten Griechenlands. Um nicht missverstanden zu werden, erklärte Wagner „dass ich in Athen mich heimischer empfand, als in irgendeinem Lebensverhältnisse der modernen Welt.“ In seinem Aufsatz »Zukunftsmusik« heißt es, seine Idee des Festspiels habe er „im Theater des alten Athen“ gefunden. An anderer Stelle heißt es: „Wir können bei einigem Nachdenken in unserer Kunst keinen Schritt tun, ohne auf den Zusammenhang derselben mit der Kunst der Griechen zu treffen.“[1] Dies trifft insbesondere auf den »Ring«“ zu. Im »Ring«“ sind neben nordischen vor allem altgriechische mythologische Motive und Figuren präsent. Damit diese Behauptung nicht so im luftleeren Raum stehen bleibt, ein paar Erläuterungen: Das Vorbild der »Ring«“-Tetralogie“ ist die Aischylos´sche Prometheus-Trilogie. Wie Prometheus wird Brünnhilde an den Felsen gefesselt. Aber Brünnhilde mutet auch wie die Zeustochter Athene an. Wotan ist eine Analogie zu Zeus! Loge entspricht dem Feuergott Hephaistos! Siegfried ist Herakles, der Bekämpfer von Ungeheuern. Die Rheintöchter sind die Okeaniden, Nymphen, die über die Meere herrschen. Erda, die Mutter Brünnhildes, ist der Mutter des Prometheus, Gaia-Themis nachgebildet, die bis zur halben Leibeshöhe aus dem Boden ragt. Man könnte die Auflistung der Entsprechungen fortsetzen. (Übrigens auch im Tannhäuser, in Lohengrin und in den Meistersingern finden sich antike Bezüge, die ins Auge stechen.)

Den vollendeten »Ring des Nibelungen« hätte Richard Wagner übrigens ebenso gern an den Ufern des Mississippi uraufgeführt wie an denen des Rheins, oder des Zürichsees, wie er aus Zürich an seinen Freund Ernst Benedict Kietz in Paris schrieb. Wagners politisches Bewusstsein angeht, das eben nicht nur auf Gefühl zielte, wurde in Paris entscheidend geprägt.

In Paris hatte Wagner Feuerbachs »Wesen des Christentums« kennengelernt, das einmal sehr wichtig für sein Denken werden sollte, aber auch Proudhons Schrift »Qu’est-ce que la propriété«. Dessen These, dass Eigentum Diebstahl sei, war einer der nachhaltigsten Denkanstöße für Wagner. Noch in der Nacht vor seinem Tode hatte er sich zu dieser Überzeugung gegenüber Cosima bekannt: „Eigentum!“, so liest man in Cosimas Tagebuchaufzeichnungen, „Der Grund alles Verderbens, Proudhon hat die Sache noch viel zu materiell aufgefasst“. Proudhons utopischer Sozialismus gab Wagner den entscheidenden Anstoß zu seinen utopisch-revolutionären, um nicht zu sagen anarchistischen Gedanken.

Vor allem aber hatte Richard Wagner in Paris seine Form des Kunstwerks gefunden. Sie lässt sich auf folgende Formel bringen: 1. Das dramaturgische Prinzip Dreiaktigkeit, 2. Sein persönliches musikalische Idiom, das vieles amalgamierte, von Berlioz über Spontini bis zu Meyerbeer, und 3. Die Mischung aus Sage und Gegenwart, antikem Mythos und Märchenwelt, selbst Erlebtem, Privatem, Angelesenem und gesellschaftlicher, politischer Utopie.

 

Wagner wagte in seinem Musiktheater Gesellschaftskritik und träu­mte von Utopischem. Sein Werk ist europäisches Musiktheater von Rang, das aus der Romantik kommend, Gegenwart kritisiert und von Besserem träumt, das Gesellschaft und Staat, Machtinstitutionen, bür­gerliche Moral und Religion in Frage stellt. Er glaubte an das Gute im Menschen, deshalb stellte er den Menschen in seiner ganzen Lächerlichkeit, Schäbigkeit, Niedertracht, Raffgier und Bösartigkeit dar. Aus diesem Widerspruch schuf er Tragödien als „Wort-Tondramen“. 

Wagner brachte überlebensgroße mythische Figuren, Mon­stren, psycho­pathologische Extremfälle, Heilige, Verrückte oder Ver­blen­dete auf die Bühne und komponierte Wagner auf der Basis der Opern­tradition seiner Zeit, die er in einer Art Synthese von Großer Oper, lyrisch-romantischer Innenschau und an Beethoven geschulter symphonischer Wucht des großen Orchesters überwand.

Was die Musik angeht: Das leitmotivische System von Erinne­rungs- und Ahnungs­motiven, mit dem Wagner seine Musik strukturierte, nahm geradezu Freud vorweg. Es war raffinier­teste Musik eines Beziehungszaubers und der Überwältigung. Sie hat in ihrer triebtheoretisch-archetypischen Konnotation etwas Narkotisches und zielte, wie Wagner in seinem Haupt­werk "Oper und Drama" bekannte, auf den schon erwähnten „Tod der Oper.“ Er wollte das „Wort-Ton-Drama“, „das Drama in seiner höchsten Fülle und Potenz“ wie er es nannte. Wagner aber auf bloßes Gefühl zu reduzieren, griffe zu kurz, trotz seiner Theorie von der Melo­die. In seiner 1850 erschie­nenen Schrift „Das Kunstwerk der Zukunft“ erfand er den Be­griff der „un­end­lichen Melo­die“. Wenn ein Musiker das Unaussprechliche sage, so Wagner, sei „die untrügliche Form seines laut erklingenden Schweigens … die unendliche Melodie.“  In seiner Hauptschrift „Oper und Drama“ nannte er dies die „Kundgebung des Unaussprech­lichen.“  

In seiner Schrift "Eine Mit­theilung an meine Freunde“: „Ich schreibe keine Opern mehr: da ich keinen willkürlichen Namen für meine Arbeiten erfinden will, so nenne ich sie Dramen.“ Wagner verstand sich ja als Wort-Tondichter (er schrieb seine Libretti Selbst): Man liest bei ihm: „Was der Wort-Tondichter auszusprechen hat: es ist das von aller Konvention losgelöste Rein­menschliche.“ Dieses "Reinmenschliche" glaub­te Wagner im antiken Drama und in den europäischen, vor allem deutschen Mythen zu finden. Hinter den Namen und Figuren germanischer Götter und Helden stehen eigentlich griechisch antike Prototypen.  Versteckt und chif­friert hinter einer Fassade aus Sage und Mythos kreisten seine Stücke zwar historische getarnte, utopische, aber doch hoch­moderne Probleme und Konstellationen seiner Zeit, die durch­aus an Ibsen und Strind­berg denken lassen, wenn man einmal von Wagners Sprache absieht. Aber das ist ein Kapitel für sich.

Man mag Wagners einlullende Musikdramen wahrnehmen wie einen schwer beladenen „Lastwagen zum Him­mel­reich“. So zitiert Thomas Mann den Ausspruch des Malers Ma­ler Franz von Lenbach über Wagners Musik schon 1901 in seinem Notizbuch.

Die Werke sind anstrengend tönende, in Bildern der Vergangenheit chiffrierte Alpträume, Wahn­phantasien, auch Wahrträume einer kapitalistischen Gesellschaft, die Wagner mit seinem Musiktheater verändern wollte. Wagner hatte dies mit dem Angebot eines eignen Mythos versucht. Hinter germanischem Mythos verbarg sich bei ihm allerding der griechische Mythos und dahinter seine eigene Gegenwart. „Immerhin“, so betont der wohl kritischste Wagnerbiograph, Martin Geck, zutreffend - „Immerhin ist er ehrlich genug, nicht die Machbarkeit der Welt vorzu­spiegeln, sondern die Hoffnungslosigkeit ihres Zustandes zu demons­trieren“. Doch sein mythisches Musiktheater war überbaut von einem anma­ßenden weltanschaulichen Erlösungs­­­angebot von politischer Tragweite. 

 

Ein Wort zu Paris, das für Wagner eminent wichtig war.

Wagner war in Paris recht eigentlich zum „künstlerischen Europäer“ geworden. Auch wenn er dort zunächst völlig erfolglos geblieben ist. Nur weil sie es sich nicht mehr leisten konnten, in Paris zu leben, verließ Richard Wagner mitsamt seiner ersten Gattin Minna Paris am 7. April 1842. Die schlimmste Niederlage in Wagners Leben. Aber schon einen Monat nach der Abreise aus Paris, am 12. Mai, schrieb Wagner in einem Brief aus Dresden an den in Paris zurückgebliebenen Maler Ernst Benedikt Kietz: „der erste Eindruck, kommt man von Paris selbst in unsere größten Städte zurück, ist fürchterlich; worin dieß Alles liegt, ist kaum zu beschreiben, – ich denke mir aber, so muss es ein(em) Fische zu Muthe sein, der aus dem Ocean in einen kleinen Fluß geräth: er athmet zwar immer noch Wasser, – aber die Wellen, die große Bewegung, das Ungeheure des Elementes, – Alles ist klein und erbärmlich geworden...“

Friedrich Nietzsche hatte es als erster erkannt und auf den Punkt gebracht: „Als Artist hat man keine Heimat in Europa außer in Paris: die délicatesse in allen fünf Kunstsinnen, die Wagners Kunst voraussetzt, die Finger für nuances, die psychologische Morbidität, findet sich nur in Paris.“ Und Nietzsche fährt fort: „Man hat in Deutschland gar keinen Begriff von der ungeheuren Ambition, die in der Seele eines Pariser Künstlers lebt. Der Deutsche ist gutmütig - Wagner war durchaus nicht gutmütig.“

 

Zum wichtigsten Kronzeugen des Ausstellungskonzepts des DHM zählt ausgerechnet Michael P. Steinberg.  Der nette Mann wurde 2016 Präsident der American Academy. Der 59-Jährige hatte ursprünglich einen Vertrag über fünf Jahre unterschrieben, verließ die Institution aber bereits knapp zwei Jahre später wieder. Von 2005 bis 2015 war Professor Steinberg Founding Director des Cogut Center for the Humanities an der Brown Universität und zwischen 2009 und 2013 Dramaturg einer gemeinsamen (wenig erfolgreichen) Produktion der Berliner Staatsoper und des Mailänder Opernhauses Teatro alla Scala von Wagners "Ring der Nibelungen."  In der Wagnerforschung jedoch spielt Steinberg aber so gut wie keine Rolle.

Er behauptet tastsächlich, “Wagner habe uns allen das Fühlen beigebracht.” Eine Torheit. Und ein Lippenbekenntnis, das er durch nichts belegt. Aberer schreibt in Verkennung wichtiger Ergebnisse der Wagnerforschung auch:  “Wagners Antisemitismus (sei)… durch einen elementaren und unheilvollen Rassismus geprägt.” Das eben das war er eben nicht, wie man Wagners Entgegnungen zu Gobineau, dem Rassentheoretiker, klar und deutlich entnehmen kann.

Wagner folgt nicht der rassisti­schen Argumentation Gobineaus, sondern er di­stan­ziert sich von ihr. Die Lösung dessen, was Wag­ner unter dem Problem der Degeneration versteht - und daran ge­knüpft ist für ihn die Judenfrage - sieht Wagner nicht, wie Gobineau und in seiner Folge der aufkommende rassi­stische Antisemitismus, in an­gewandten biologistischen, rassistischen Überlegungen, sondern in einem Fragen und Forschen nach dem "Rein­mensch­lichen", das er ja bereits in seinen Zürcher Kunstschriften, vor allem aber in den letzten Bayreuther Kunstschriften präzise charakterisiert hat als "Geist reiner Menschlichkeit" im Sinne eines ver­söh­nenden Chri­stentums.

 

In der letzten seiner Regene­rations­schriften, in "Heldentum und Christentum" (1881) nimmt Wagner noch einmal explizit Stellung zur rassi­stischen Argu­mentation, die vor allem durch Gobineau - und später H. St. Chamberlain - in die öffent­liche Dis­kussion und damit auch in die Rechtfertigung eines quali­tativ neuen Antisemitismus Eingang fand. Wagner referiert zunächst Gobineaus Theorie, wendet dann aber ein, es sei doch "beim Über­blick aller Rassen die Einheit der menschlichen Gattung un­möglich zu verken­nen", und das sei eben die "Fähigkeit zu bewusstem Lei­den". Sie sei "die Anlage zur höchsten moralischen Entwicklung". Wer, so fragt nun Wagner, "wer sollte frevelnd fragen", ob das "Blut des Heilandes, von seinem Haupte, aus seinen Wunden am Kreuze fließend", ob es "der weißen oder welcher Rasse sonst ange­hörte?" Wagner lehnt angesichts seiner Vorstellungen von Chri­stentum jeglichen Rassismus ab: "die Racen haben aus­gespielt", hat er am 17. Dezember 1881 zu Cosima gesagt, und einige Monate spä­ter habe er Gobineau vorgeworfen, so notierte Cosima am 23. April 1882, "das eine ganz außer Acht gelassen zu haben, was einmal der Menschheit gegeben wurde, einen Heiland, der für sie litt und sich kreuzigen ließ!" Angesichts dieser eindeutig anti­rassistischen Stellung­nahmen Wagners verbietet es sich, Wagner als Vor­läufer eines rassistischen Anti­semitismus zu vereinnah­men und mit den erwähn­ten antisemitischen Autoren seiner Zeit in einen Topf zu werfen, die weit eher als Wagner dem nationalsozialistischen Antisemitismus Vorschub leisteten.  

Wagner erteilt Gobineaus - und damit jeglichem - Rassismus eine deutli­che Absage. Gobineaus Rassentheorie rechtfertige "eine schlechthin unmorali­sche Welt­­ord­nung". 

Christliche Ethik als ästhetisches Prinzip und als gesellschaftliche Richtli­nie zur Über­windung möglicher "Rassen­unterschiede", wenn es sie denn gibt, was Wagner ja immerhin anzweifelt, christliche Ethik aber auch als Schlüssel zur Lösung der Judenfrage: Das ist eine ent­scheidende Rück­nahme früherer politischer, d.h. sozialistisch-re­volutionärer Positionen, aber eben auch die Rücknahme seines (wenn auch Assimilation an­empfehlenden) bösartigen An­tisemitismus, wie er sich noch im "Judentum in der Musik" mani­festierte.

Man ignoriere nicht: Am 22. November 1878 bekannte Wagner seiner Frau Cosimas: „Wenn ich noch einmal über die Juden schriebe, würde ich sagen, es sei nichts gegen sie einzuwenden“.  

 

Kein   anderer Musiker hat so wie Richard Wagner Mit- und Nachwelt gespalten in geradezu fanatische Verehrer und noch viel fa­na­tischere Verächter. Und keiner hat so wie er als Zielscheibe wie als Steinbruch politischer Ideologien gedient.

Woran lag das? Das lag natürlich nicht nur an dem ungeheuren Potential seiner Musik, die den meisten Zeitgenossen so avant­gardi­stisch erschien wie vielen Nachgeborenen spätromantisch-überladen. Der Komponist Richard Wagner war ein Unruhestifter auch jenseits der Musik. Er hat als Musiker stets über seinen Tellerrand hinausgeschaut. Sein sächsisches Temperament hat ihn eine oft taktlos unerschrockene Lippe riskieren lassen, nicht selten in An­­gelegenheiten, zu denen er besser geschwiegen hätte: in Sachen Politik vor allem. Nicht zuletzt sein infamer – wenngleich heute mit gebotener historischer Differenzierung zu betrachtender – Antisemitismus war es, der ihm schon zu Lebzeiten Feinde schuf. Ein Antisemitismus, der allerdings noch weit entfernt war von dem eines Adolf Hitler. Dennoch: Hitlers unseliger wie dummer Wagnerei ist es zuzuschreiben, dass nach 1945 der Name Wagner für viele Deutsche untrennbar verknüpft zu sein scheint mit dem Adolf Hitlers. Ein Missverständnis. Aber es macht den Umgang der Deutschen mit Wagner so schwierig. Im Ausland wird er meist viel sachlicher und ohne unbelasteter gesehen.

Die Wagnerverteufelung, die auch und gerade in der Ausstellung des DHM wieder einmal praktiziert wird, ist so unsachlich wie unbegründet.

Wagner hat sich als Musiker in nachgerade beispielloser Weise in politische Fragen eingemischt. Aber gerade die Widersprüchlichkeit seiner Äußerungen und Standpunkte ist es, die jeder neuen Generation Widerspruch gegen ihn abverlangt. Zweifellos tragen die Vielschichtigkeit und die perspektivische Weite seines Oeuvres wesentlich zum Faszinosum Wagner bei, dessen Aussagen sich auf keinen kleinsten ge­mein­samen Nenner bringen lassen. Wer das versucht, verkürzt Wagner, ja verfälscht ihn. Nur so lässt er sich missbrauchen – und so ist er immer wieder missbraucht worden als Gallionsfigur für linke wie rechte Ideologien, unter jeweiliger Ausblendung der störenden Aspekte, versteht sich.  Ein Paradebeispiel ist die Ausstellung im DHM

Wilhelminische Epoche, Weimarer Republik, Drittes Reich und die beiden Teile Nachkriegsdeutschlands machten sich einen je eigenen Richard Wagner zurecht. Wagners eigenwillige, nicht eben charakterlich sympathisch zu nennende Persönlichkeit, seine weltanschaulichen und politischen Theorien, seine künstlerischen Utopien, seine Musik und sein Theater provozierten immer neue Beurteilungen und kulturhistorische Einordnungen des Phänomens Richard Wagner. Bei keinem anderen Musiker liegt der Fall ähnlich.

Den Zeitgenossen war Wagner verdächtig, denn er war die meiste Zeit seines Lebens ein rechter Bürgerschreck gewesen, auch noch, als er seinen Lebensabend großbürgerlich verbringen konnte. Den Ruf, dass er einst steckbrieflich gesuchter, maßgeblich an den Dresdner Aufständen von 1849 beteiligter Revolutionär gewesen war, wurde er zeitlebens nicht los.  

Er hatte seine Zeitgenossen in einer beispiellos geschwätzigen Erklärungs- und Mitteilungswut denn auch reichlich strapaziert, ohne jede Rücksichtnahme und ohne jede Bescheidenheit.

Man kann Wagners Äußerung (nur wenige Monate vor seinem Tod) gegenüber seiner Frau Cosima nur zustimmen: „Noblesse, Anstand, die habe ich nicht«. Er hatte immer wieder Momente von Selbstironie.

 Richard Wagner galt bis in die Siebzigerjahre des letzten Jahrhunderts, bis in sein letztes Lebensjahrzehnt also, als Anarchist, als gefährlicher Revolutionär, als Utopist und Aufschneider. Nicht zuletzt wohl deshalb war auch sein musikdramatisches Werk bei seinen Zeitgenossen nie unumstritten. Man spottete viel über seine "Zukunftsmusik" und die damit einhergehenden gesellschaftlichen Utopien Wagners. Wagner hatte immer wieder für Diskussionsstoff gesorgt mit seinen jungdeutschen, französisch-frühsozialistischen Ideen, denen er in zahlreichen Aufsätzen Ausdruck verlieh und die auch in seine Musikdramen einflossen. Selbst als Wagner sich künstlerisch Respekt verschafft hatte, als er nach den zweiten Bayreuther Festspielen auch materiell etabliert war und vom Kaiser anerkannt, als er es sich leisten konnte, im Luxus eines Großbürgers zu leben, unangefochten von finanziellen Problemen, die bis dahin den größten Teil seines Lebens unangenehm überschattet hatten, selbst da blieb er seinen utopischen, von den französischen Früh­sozialisten, von Proudhon vor allem, aber auch von Bakunin und Max Stirner geprägten Gedanken über Gesellschaft und Kultur treu bis zu seinem Tod im Jahre 1883. Cosimas Tagebücher belegen dies ohne jeden Zweifel. Doch seinen sozialistischen Utopien und seiner skeptischen Distanz gegenüber den Deutschen zum Trotz sollte er schon bald zu einem der deutschesten Musiker erklärt werden. Eine fatale Einschätzung, denn wie Wagner am 13. September 1860 aus Paris an Franz Liszt schrieb. „Wenn ich »deutsch« bin, so trage ich sicher mein Deutschland in mir“.

Obwohl Wagner sich gegen jede Art von Schubladierung sperrt, wurde er doch nach seinem Tode schnell vereinnahmt – von unterschiedlichster Seite. Von Links-Intellektuellen der Weimarer Republik bis hin zur Wagner-Forschung in DDR-Zeiten wurde Wagner zum Propheten sozialistischer Gesellschaftsutopien erklärt, von den Deutsch­nationalen und den Faschisten zum Ahnherrn arischer, anti­semi­tischer Weltanschauung. Ein klarer Fall von Missbrauch und Okkupation. Nach 1945, als man über das jüngste, vergangene Kapitel deutscher Geschichte einen Teppich des Schweigens und Vergessen-Wollens ausrollte, da konzentrierte man sich darauf, Wagners Größe im Mythischen, im Archaisch-Psychologischen oder Vor-Freudianischen zu suchen. Die Neu-Bayreuther Inszenierungs­geschichte mit Wielands Entrümpelung spiegelt das wider. Erst in den sechziger und siebziger Jahren beschäftigte man sich mit den politischen und weltanschaulichen Aspekten Wagners und seiner Rezeption. Nicht wenige Autoren der letzten 20 Jahre haben das Kind mit dem Bade ausgeschüttet, indem sie Wagner zum Ahnherrn Hitlers erklärten, Hitler offenbar mehr glaubend als Wagner, den sie oftmals gar nicht genau kannten, wie leicht nachzuweisen ist. Die Geschichte der Wagner-Rezeption, die Geschichte der Wagner-Li­te­ra­tur ist voll von entstellenden Vereinfachungen, von ideologischen Hilfskon­struktionen, von biographischen Verrückungen, philologischen Verzerrungen, Aus­blend­ungen von Unliebsamem und von üblen Vorurteilen, die sich offenbar hartnäckig jeder Korrektur, jeder sachlichen Klarstellung widersetzen, trotz inzwischen vor­lie­gender neuer Erkenntnisse und Fakten der Wagnerforschung.

Die Ausstellung und Darstellung des DHM ist ein jüngstes, eklatantes Beispiel.  

Richard Wagner ist zum Paradefall einer unheilvollen Verstrickung von Musik und Politik geworden. Dass dies im Wesentlichen ein Fall von Wagner-Missbrauch ist, ein Fall re­zept­ions­geschichtlicher Ver­ein­nahmung, wird meist ignoriert.  

Die Ausstellung im DHM, ist mit den Worten von Katharina J. Schneider „nach vier Grundgefühlen konzipiert, die für Wagners Werk und Denken ebenso prägend sind wie als historisch-kulturelle Formierungen, als treibend Kräfte für individuelles wie für politisches Handeln: Entfremdung, Eros, Zugehörigkeit und Ekel.“ Was auch immer das konkret heißen man. Jedenfalls sind danach auch die 20 Kapitel des Buches untergliedert. 29 Autoren haben daran mitgewirkt. Die Bebilderung (mit Fotos der Exponate) wirft mehr Fragen auf, als dass sie erhellt. Was sagt uns ein Backenzahn, was sagen uns die gelben Seidenhausschuhe oder ein Barett Wagners? Warum die vielen historischen Photographien, die wir schon so oft gesehen haben

Wagner hätte das “deutsche Gefühl“ vergiftet, behauptet die Ausstellung im DHM. Eher könnte man sagen, die Deutschen haben Wagner vergiftet!  

Dass Wagner und "die Wagners" auch im heutigen Deutschland noch eine Projektionsfläche verschiedenster identifikatorischer Bedürfnisse sind und von Politikern, Prominenten und Publikum entsprechend benutzt werden zur Befriedigung von Sehnsüchten wie zu Selbstdarstellung und zu politischer Propaganda ist eine Tatsache! Schon Nietzsche hat das unmissverständlich diagnostiziert: "Die Deutschen haben sich einen Wagner zurecht gemacht, den sie verehren kön­nen".

 

Die Geschichte der Wagnerrezeption der Deutschen belegt es eindrucksvoll.

(Den Anfang der verfälschenden Wagner-Idolisierung machte Cosima, Wagners zweite Frau. Richard erschien ihr "als gewaltige Rettung des germanischen Geistes", der "Parsifal" als heiliges Werk eines neuen Chri­sten­tums, dem sie mit der Bayreuther Religionsgründung missionarisch dienen zu müssen glaubte. Dienst am Werk wurde bei ihr zum Gottesdienst, der Kreis der Getreuen zur Gemeinde, in der sie als Hohe­prie­ste­rin in Allem das letzte Wort hatte. Zu Recht nannte Eduard Hanslick den Kreis der Wagner-Jünger um Cosima die "Betbruderschaft vom heiligen Richard".

Einer der getreuesten Diener Cosimas war Hans von Wolzogen, der Heraus­geber der "Bayreuther Blätter", der mit seinen eigenen Bei­trägen in der Bayreuther Hauszeitschrift zum Sturm der Ver­kün­digung eines regenerierenden germanischen Christentums blies. Eine ganze Autoren-Clique, die in den Bayreuther Blättern publizierte, stand seinen Intentionen zu Gebote: Heinrich von Stein, der Haus­lehrer des Wagner-Sohnes Siegfried, Karl Friedrich Glasenapp, der Bayreuther Haus-Biograph, der erste Gobineau-Übersetzer Ludwig Schemann und der Kunsthistoriker Henry Thode, Ehemann Daniela von Bülows, der älte­sten Tochter Cosimas, um die wichtigsten des "inneren Bayreuther Kreises" zu nennen. Auch Nietzsches Schwager Bern­hard Förster, dessen antisemitische Reichstags-Petition seinerzeit Wagner nicht unterschrie­ben hatte, um sich von der antisemitischen Bewegung zu distanzie­ren, schrieb mittlerweile in den Bayreuther Blättern, ebenso der Berliner Hofprediger Stöcker, H. St. Chamberlain, Theodor Fritsch, der Verfasser des berüchtigten "Handbuchs der Juden­fra­ge", Paul de Lagarde, Alfred Rosenberg, der spätere Chefideologe des Dritten Reiches, und Karl Grunsky, einer der linientreusten Musik­wissenschaftler des Dritten Reiches.

„Was der Bayreuther Meister noch an Ur­sprüng­lich­keit, an Größe und Ungebundenheit des Denkens be­saß, das hatte sich bei den Jüngern zum Dogma verfestigt, zur Formel, zum Pro­gramm. Zugleich mündet es ein in einen breiten Strom ähnlich gestimmter Er­neu­­erungsbestrebungen.“ (Winfried Schüler) Wesent­li­che Ele­men­te des Wagnerschen Denkens wurden von den Autoren des Bayreuther Kreises ignoriert oder gar in ihr Gegenteil verkehrt. So vor allem Wagners utopisch-sozialistische Ansichten und seine im krassen Gegensatz zur entstehenden biologistischen Rassenlehre in seinen späten Schriften formulierte versöhnliche Haltung gegenüber den Juden im schopen­hauerisch-christlichen Sinne. Aber auch die universalen, über­na­tio­na­len Elemente in Wagners Gesamtwerk wurden ausge­klammert, ebenso wie alle kritischen Äußerungen über die Deutschen und das manifeste Misstrauen gegenüber der deutschen Staatsmacht und dem preußischen Machtstaat.

Trotz aller kulturpessimistischen und antimodernis­tischen An­knüpfungspunkte hatten sich die Bayreuther Wag­ner­apostel in dem, was sie als Wagnersche Gedanken ausgaben, von Wagner und seinem zwischen Mythos und Aufklärung oszil­lierenden, letztlich aber doch human intendierten Werk weit entfernt. Spätestens da hatten sich Nietzsches prophetische Worte erfüllt: "Die Deutschen haben sich einen Wagner zurecht gemacht, den sie verehren kön­nen". Das sollten sich die Ausstellungsmacher im DHM hinter die Ohren schreiben.

Wagner wurde idolisiert zum Religionsgründer eines germanischen, anti­se­mi­tischen, völkischen Christen- und Deutschtums. Damit machten sich die Autoren des Bayreuther Kreises zu den geistigen Wegbah­nern des Nationalsozialismus. Einer der maßgeblichen Mittler dieses nationalistisch-antisemitischen Wagnerbildes war der popu­lär­philosophische Kul­tur­kritiker englischer Abstammung Houston Ste­ward Chamberlain, der Wagners Tochter Eva 1908 heiratete und damit zu des toten Wagners Schwiegersohn wurde und unmittelbaren Zu­gang zu Wahnfried erhielt. Er wurde der innigste Vertraute Cosimas während ihrer letzten Jahrzehnte.

Chamberlain wurde zu einem der Lieblingsautoren Wilhelms des Zweiten. Chamberlains Wagnerbuch wurde zur vielgelesenen Hei­ligen Schrift deutsch­nationaler Wagnerianer und verbreitete den Glauben an Wagner als "künstlerischen Seher", als Reformator der deutschen Kultur, als rassistischen Antisemiten und Propheten einer nordisch-deutschen Weltanschauung. Die weitreichende Wir­kung dieses Buches und zahlreicher weiterer Wagner-Publikationen des Autors kann gar nicht überschätzt werden.

Houston Stewart Chamberlain hatte sich aber nicht nur dem preußischen Hofe angedient und bei Kaiser Wilhelm und dem Kronprinzen für eine starke Wagner-Begeisterung gesorgt, er hat vor allem auch die Brücke vom Hause Wagner zu Adolf Hitler geschlagen. In den "Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts" hatte er mit explizit rassistisch-antisemitischer, nationalistischer Kultur­ge­schichts­schreibung weite Teile des Bildungsbürgertums ideologisch auf das Kommende vorbereitet. Er redet einer nordisch-deutschen Rasse, zu deren künstlerischem Seher er Wagner erklärte, das Wort und hatte damit gewisser­maßen den Grundstein gelegt für die nationalsozialistische Weltanschauung, wie sie in Alfred Ro­senbergs "Der Mythus des 20. Jahrhunderts" pro­gram­matisch entwickelt wurde. Chamberlain hat vor allem Wagners antijüdische Haltung ins kämpferisch-unversöhnliche Extrem verkehrt und mit seiner eigenen militanten, "arischen" Blutideologie unterlegt. Christus wie Parsifal wurden von Chamberlain zu beispielhaften "Ariern" erklärt: Nur Reinrassigen leuchte der Gral. Mit Wagners Vorstellungen hatte das nichts mehr zu tun

In Rosenbergs "Mythus des 20. Jahrhunderts" wurde Wagner dann als Verkünder einer germanischen Volksreligion, in der "das nordi­sche Schönheitsideal" mit "dem Wesen der nordisch-abend­ländischen Seele" gepaart sei, gefeiert: Die Wagnersche Kunst kündige, so schreibt Rosenberg, "das Morgenrot eines neuen, wie­dererstehenden Lebens" an. Die Sonne dieses Morgenrots ging 1933 auf, als Hitler Reichs­kanzler wurde.

Hitler kam am 30. September 1923 erstmals nach Bayreuth. Bereits am näch­sten Tag besuchte er Chamberlain, durch dessen Ver­mittlung ihm bereits am darauffolgenden Tag Audienz bei Winifred Wagner, der Gattin des Wagner-Sohnes Siegfried, gewährt wurde. Chamberlain war entzückt von Hitler. Er hielt ihn für die Hoffnung Deutschlands.

Auch Winifred Wagner war begeistert von Adolf Hitler. Bereits wenige Wochen nach ihrem ersten persönlichen Kontakt mit Hitler, fünf Tage nach dem Putschversuch Hitlers am 9. November 1923, ver­öffentlicht sie in der "Oberfränkischen Zeitung" einen "Offenen Brief", in dem sie unter anderem schreibt: "Seit Jahren verfolgen wir mit größter innerer Anteilnahme und Zustimmung die aufbauende Arbeit Adolf Hitlers, dieses deutschen Mannes, der, von heißer Liebe zu seinem Vaterlande erfüllt, sein Leben seiner Idee eines geläuterten, einigen, nationalen Großdeutschland zum Opfer bringt".

Damit war die Allianz Bayreuth – Hitler geschlossen. Winifred Wag­ner machte sich ganz bewusst zum Steigbügelhalter für Hitler und den Na­tional­so­zialismus. Wie die Großwirtschaft Hitler finanziell unterstützte, so half ihm Bayreuth ideologisch: indem es ihn bürgerlich respektabel machte. Und Hitler revanchierte sich: Die materielle Situation der Festspiele war keineswegs rosig. Adolf Hitler stellte die Bayreuther Festspiele unter seinen persönli­chen Schutz und griff Winifred finanziell und propagandistisch kräftig unter die Arme. Es war eine reine Zweckehe, die da ge­schlossen wurde. Mit Geistesverwandtschaft zwischen Wagner und Hitler hatte das nichts zu tun.

Neben der rein taktischen Überlegung, durch den Schulterschluss mit­ Bayreuth bürgerliche Reputation zu erlangen, war Hitler zwei­fellos beseelt von einer inbrünstigen Wagner-Schwärmerei.

Wobei er in Wagner wohl nur den schwülstig-bombasti­schen Ver­herrlicher eines Teu­tonentums sah, den erhebenden In­stru­mentator des alt­germa­nischen Mythos, den musiktheatralischen Illustrator der mittelalterli­chen Sage. Dass Hitler von Wagners Mu­sik, wie von Musik an sich, im Grunde nicht viel verstanden hat, bezeugen zahllose seiner Zeit­genossen. Musik war ihm nicht viel mehr als ein überaus wirkungsvolles aku­stisches Mittel zur Steigerung theatralischer Effekte. Wagners Werke dienten denn auch in Hitlers Drittem Reich vornehmlich als Untermalung von Wochenschauen, Parteifilmen und als Be­gleit­mu­si­ken von Parteitagen und ähnlichen Veranstaltungen. Musik, auch Wagnermusik war vor allem „ästhe­tisches Herrschaftsmittel in der Thea­tralik des deutschen Faschismus“ (Andrea Mork).

Hitler berauschte sich (wie schon König Ludwig II.) nur an den mythischen Oberflächenreizen des Wagnerschen Werks und seiner Musik. Dass Hitler die Welt glauben machen wollte, er habe Wagner als seinen einzigen Vorläufer emp­funden und begreife sich als dessen Vollender, bezeugt nicht mehr als seinen Größenwahn. Wagnersches Denken, die Aussagen der Wagnerschen Musik­dramen, wirklich begriffen, hätten kaum in Hit­lers Welt­anschauung gepasst. Die bewusste ideologische Verein­nahmung, die philologisch willkürliche Einpassung Wagners ins ideologische Raster der na­tionalsozialistischen Weltanschauung besorgten seine intellektuellen Helfershelfer.

Der nationalsozialistische Wagner-Kult war Wag­ne­rismus von oben. Wagner war das persönliche Idol, der musikalische Abgott Adolf Hitlers seit dessen Jugend. Als Hitler an die Macht kam, wurde aus des Führers Stecken­pferd, das übrigens keineswegs alle Parteigenossen teilten, verordnete Kulturpolitik. Wagner wurde für die Sache des Nationalsozialismus usurpiert.

Einer der ernstzunehmendsten Autoren in Sachen Wagner, Hubert Kolland, hat zu Recht darauf hingewiesen, dass „mit einem hypo­thetisch noch lebenden Wagner ein faschistischer Wagner-Kult nicht möglich gewesen wäre – trotz dessen Antisemitismus und anderer völkisch interpretierbarer Züge. Aber für die persönlichen, künstle­rischen und politischen Provokationen des hypothetischen Zeitge­nossen wäre im NS-Staat kein Platz gewesen: nicht zuletzt wegen Wagners rigidem und unangepasstem Kunstanspruch. Die Nazis wären mit der neu­e­sten Musik konfrontiert gewesen, und wie sie es mit der hiel­ten, ist bekannt. Nur der tote Wagner, verdeckt durch den nationali­stisch gewendeten Ruhm, taugte zur Beschwörung der NS-Volks­ge­mein­schaft, nachdem der historisch-konkrete Wagner einschließlich sei­ner rebellischen Züge schon zurückgedrängt war und die Wider­sprüche und Provokationen seiner Werke fürs bürger­liche Unter­tanenbewusstsein unterhalb der Wahrnehmungs­schwel­le blieben.“

Der Wagner-Kult des Dritten Reiches war blanke Usur­pation, war Vereinnahmung, die durch den völ­kischen Wagner-Kult vorbereitet und überhaupt erst ermöglicht wurde. Dies ist Wirkungs­geschichte Wagners. Es ist fatal, Wirkung und Ursache zu verwechseln, und es ist, worauf der israelische Historiker Jakob Katz zu Recht pocht, historisch unzulässig, von der Wirkung einsträngig auf die Ursache zu schließen. Die Deutung Wagners "aufgrund der Gesinnung und der Taten von Nachfahren, die sich mit Wagner identifizierten", hält Jakob Katz für ein unseriöses, ja "ein unerlaubtes Verfahren." Und Hartmut Zelinskys These, Wagner sei Hitlers Ahnherr gewesen, ist für den Historiker Katz nichts als "eine Rückdatierung, ein Hineinlesen der Fortsetzung und Abwandlung Wag­nerscher Ideen durch Chamberlain und Hitler in die Äußerungen Wag­ners selbst". Man sollte nicht vergessen, dass es immer die Nachfolger sind, die sich ihre Vorläufer er­schaf­fen.

Soviel zu einem Buch, dem man auf nahezu jeder Seite widersprechen möchte. Es wäre müßig (und würde ausufern), auf alle Vorurteile, Fehlurteile und Dummheiten (aus Unkenntnis Wagner und der Ergebnisse der Wagnerforschung) detailliert einzugehen und zu antworten. Deshalb ging es hier nur ums Grundsätzliche, um die Hauptthesen der Ausstellung und ihres Kataloges.

Gewiss, es gibt seriöse und kluge, ja erhellende Beiträge, etwa von Laurenz Lütteken (über Wagners Zürcher Zeit), Verena Naegele (über Marketing und Mäzenatentum) und Friederike Wißmann (über Wagners Meistersinger), aber sie nehmen sich wie seriöse Fremdköper ein einer polemischen Umgebung aus. Insgesamt greift diese Wagnerdarstellung entschieden zu kurz. Sie ist einseitig, unsachlich, um nicht zu sagen unseriös, weil parteiisch, ja ideologisch. Vor allem aber mangelt es ihr an Werkkenntnis. Sie zementiert einmal mehr alte, uralte (längst von der Wagnerforschung überholte) Vorurteile und Fehlurteile, ein Schlag ins Gesicht der Wagnerforschung und ihrer Ergebnisse.

Walter Levin, deutsch-amerikanischer Geiger jüdischer Abstammung, Gründer des renommierten La Salle-Quartetts und von Kindheit an mit Wagner aufgewachsen, brachte in einem Gespräch mit mir den angesprochenen Zusammenhang auf den Punkt, als er ein amerikanisches Sprichwort zitierte: "Im Amerikanischen sagt man: ‚Don´t bother me with the facts, my mind is made up!‘ Die Fakten interessieren bei einem Vorurteil überhaupt nicht. Das Vorurteil dient einem ganz anderen ideologischen Zweck und es braucht die Konstruktion dessen, was mit Ruhe besehen zwar falsch ist, aber es nützt dem Zweck, den man verfolgt. Und so werden diese ideologisch begründeten Vorurteile immerfort tradiert und werden unbesehen auch immer weiter übernommen vom einen zum andern. Die meisten Wagnerbücher, die geschrieben werden sind ja eigentlich Abschriften zusammengesuchten Zeugs aus anderen Büchern.“

 

Die angefügte Bibliographie ausgewählter Wagnerliteratur belegt es, und belegt die mangelnde Berücksichtigung wichtiger, wegweisender Publikationen.  Alles, was dem Tenor der Ausstellung widerspricht, wird ignoriert: ein Ärgernis von 271 Seiten.


[1] Wagner, Richard: SSD Bd. 3, S. 9