Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters

Beitrag in "Opernwelt" 1997

 

"Vollendet das ewige Werk"

Bester Musiktheaterführer, halbe Enzyklopädie!


Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters:

Bd. 6 Spontini - Zumsteeg. 826 S.

Registerband ca. 800 Seiten,


 



Vor elf Jahren startete mit Band Eins, reichend von Abbatini bis Donizetti, eines der ambitioniertesten, um nicht zu sagen schwindelerre-gendsten Großprojekte des Musikbuchmarktes: „Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters“, die alles bisher dagewesene an Nachschla-gewerken in Sachen Musiktheater in den Schatten zu stellen sich vornahm. Mit Band Sechs der Werkbände ist diese Enzyklopädie jetzt abgeschlosen worden. Auf den ursprünglich geplanten Sachteil darf man wohl in Zeiten abfallender Konjunktur auf dem Musikbuch-markt kaum mehr hoffen. Daß Verlag und Herausgeber im Vorwort erklären, der ursprünglich als notwendige Ergänzung zum Werkteil geplante Sachteil bleibe - wie auch ein Supplementband - eine künftige Option, ist nur ein schwacher Trost. Denn was ist eine noch so gründliche wie umfangreiche Enzyklopädie der Werke des Musiktheaters ohne die Darstellung der Geschichte desselben und seiner gattungsspezifischen Begrifflich- und Persönlichkeiten? Doch nicht mehr als ein besserer Opern- bzw. Musical- und Ballettführer! Von einer Enzyklopädie darf man doch wohl erwarten, daß sie sowohl Opern-, Musical-, Ballettführer wie historisches, biographisches und Werklexikon ist!   


„Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters“ verzeichnet insgesamt mehr als 2400 Werke aus 42 Ländern in Einzeldarstellungen, unter-gliedert nach Entstehungsgeschichte, Handlung, Kommentar und Wirkungsgeschichte mit jeweils weiterführenden Hinweisen zu den Autographen, den verschiedenen Ausgaben, dem Aufführungsmaterial, aber auch zur wichtigsten Forschungs-Literatur. Eine Enzyk-lopädie von praktischen Wert als Nachschlagewerk für Forschende und Theaterleute, Dramaturgen wie interesiertes Musiktheater-pub-likum gleichermaßen. Rund 200 Fachleute aus 13 Ländern, darunter auch erwiesene Spezialisten und Koryphäen, haben ihr Wissen aus der Welt der Oper, der Operette, der Zarzuela, aber auch des Musicals, des Melodrams, des Balletts und des Tanztheaters zusammenge-tragen. Sechs stattliche, fadengeheftete und hart gebundene Wälzer im Großoktavformat mit insgesamt 5625 Seiten liegen vor. Jeder wiegt an die drei Kilogramm. Eine schwergewichtige Edition im wahrsten Sinne des Wortes.


Insbesondere der endlich erschienene, abschließende sechste Band ist auch inhaltlich ein großer Brocken, immerhin entfaltet er zwischen Gasparo Spontini und dem Mozartzeitgenossen Johann Rudolf Zumsteeg das Panorama der Opern-Titanen Richard Strauß, Giuseppe Verdi und Richard Wagner, um nur die drei herausragenden der 136 Komponisten, Librettisten und Choreografen aus vier  Jahrhunderten zu nennen, die in diesem Schlußband behandelt werden. Ein „Jahrhundert-Meisterwerk“ sei vollendet, verkündet stolz der Piper Verlag: „das umfangreichste Werklexikon des internationalen Musiktheaters, das je herausgegeben wurde“. Letzterem jedenfalls ist nicht zu wi-dersprechen. Die Behauptung des Verlags allerdings, daß „noch nie (...) das gesamte Musiktheater so vollständig, aktuell, kompetent und wegweisend dargestellt“ worden sei, sie läßt sich leicht widerlegen. Was sind schon 2400 Werke aus einer Musiktheatergeschichte, die allein im Bereich der Oper mit über 50.000 nachgewiesenen Werken prahlen kann, mit 30.000 Balletten, zu schweigen von den ungezäh-lten Operetten und anderen Werken ses heiter-satirischen Musiktheaters (man denke nur an die Opéra-bouffe Jaques Offenbachs) , die es gibt. Zweitausendvierhundert: eine verschwindend geringe Zahl! Wenn man allerdings bedenkt, daß es nur etwa zweihundert Opern sind, die weltweit die Spielpläne der annähernd tausend Theater bevölkern, die allabendlich ihren Vorhang öffnen für Musiktheater, ist die Zahl 2400 schon beachtlich.   


Problematischer ist die Notwendigkeit der Enzyklopädie, die ja den historischen wie den aktuellen Bestand des Repertoirs sichten und dokumentieren will, eine Auswahl zu treffen! Die Auswahlkriterien solcher Sichtung wird jeder Herausgeber anders definieren, was vor allem Auswirkungen hat auf die Repräsentanz des Gegenwärtigen und Zeitgenössischen gegenüber dem historischen Repertoire. Aber schon dieses betreffend, drängen sich Fragen über Fragen auf: warum werden von den immerhin 187 Operetten Franz von Suppés nur 7 in Pipers Enzyklopädie behandelt, warum nur vier von 21 erhaltenen der 94 Vivaldi-Opern? Warum werden nur drei der 18 Werke Siegfried Wagners für erwähnenswert befunden. Warum sind nur 6 von 50 Operetten erwähnt, die Oscar Straus komponierte? Vom notorisch ver-kannten, verharmlosten und ignorierten  Jacques Offenbach ganz zu schweigen. Die Liste sich aufdrängender Fragen ließe sich beliebig fortsetzen. Von Vollständigkeit kann also nicht im Entferntesten die Rede sein! Wie denn auch, bei aller Einsicht in die Notwendigkeit der Beschränkung. Selbst ein vage in Aussicht gestellter Supplementband würde nicht aus diesem Dilemma herausführen.


Und so bleiben ergänzende Nachschlagewerke selbstverständlich notwendig! Vor allem zwei britische Standardwerke sind unverzichtbar, der „New Grove Dictionary of Opera“, der neben einzelnen Werkdarstellungen auch all das bietet, was Pipers Enzyklopädie vorenthält: ein Komponisten- und Sänger-, Dirigenten- und Regisseur-, Bühnenbildner- und überhaupt ein gattungsspezifisches Begriffslexikon von beispielloser lexikalischer Bandbreite. In Bezug auf das Œuvre eines Komponisten darf sogar der stets anfechtbare Begriff der Vollstän-digkeit verwendet werden! Immerhin erfährt man beim „Grove“ (mit exakten Angaben über Autographen, Uraufführungsorte und Libret-tisten) daß Händel 49 eigene und 9 Bearbeitungen fremder Werke fürs Musiktheater geschrieben hat, Donizetti gar 67 komplette Opern hinterlassen hat. Piper läßt den Leser mit der vorgegebenen, subjektiven Werkauswahl (nur 17 Händel- und 25 Donizetti-Opern) völlig im Unklaren über das jeweilige Gesamtwerk eines Komponisten bzw. Librettisten oder Choreografen. Von der übersichtlicheren Gliederung der Artikel und den weitaus reichhaltigeren Literaturangaben im Grove ganz zu schweigen! Der im November zu erwartende Register-band der Piperschen Enzyklopädie verspricht immerhin Lebensdaten, Geburts- und Sterbeorte, Nationalität, Berufe und Tätigkeitsgebiete der annähernd 30.0000 erfaßten Namen nachzutragen.


Jjeder, der sich  insbesondere für Musical und Operette interessiert, wird immer dann die zweibändige „Enzyclopedia of The Musical Theatre“ von Kurt Gänzl zur Hand nehmen, wo er in  Pipers Enzyklopädie nicht fündig wird. Ergänzungsbedürftig ist schließlich auch die Sparte Tanztheater. Trotz der Einwände nötigt das Mammutunternehmen, das Sieghard Döhring und sein Forschungsinstitut für Musik-theater der Universität Bayreuth im Sinne des verstorbenen Mitherausgebers Carl Dahlhaus mit diesem Band 6 abgeschlossen haben, Respekt ab! Trotz aller Einwände: Wer sich ernsthaft mit Musiktheater befaßt, wird auf diese, gerade in den einzelnen Werkerläuterungen ihre große Qualität beweisende, darüberhinaus gediegen ausgestattete Enzyklopädie, deren dokumentarisch wertvolles Bildmaterial dem Textteil einen eigenen, gewissermaßen historisch-bildhaften Kommentar unterlegt, nicht verzichten wollen.