Enescus „Œdipe“ Komische Oper

Photo privat


George Enescus „Œdipe“ an der Komischen Oper Berlin


Archaische Schweinerei & Musikalisches Glück

 

Zum ersten Mal seit fast einem Vierteljahrhundert, als Götz Friedrich und sein Bühnenbildner Gottfried Pilz das Werk an der Deutschen Oper Berlin so verdienstvoll wie erfolgreich für Berlin ausgruben, wagt sich wieder ein Haus an dieses schöne, einzigartige, aber eher epische als dramatische Opernmonster nach Sophokles, das stilistisch nur schwer einzuordnen ist, was der narkotisierenden Wirkung der Musik keinen Abbruch tut.


Ob die Komische Oper Berlin für dieses Riesenwerk der richtige Ort einer Aufführung ist, sei dahingestellt, der Orchestergraben jedenfalls ist zu klein für die enorm große Besetzung des Stücks, sodass man für einige Musiker die Proszeniumslogen beanspruchte. Der Chor wurde ohnehin in den obersten Rang verbannt. Und man hat kräftig mit dem Rotstift in der Partitur herumgestrichen. Schade für das Stück, aber mit Rücksicht auf Coronabedingungen verständlich und für das Sitzfleisch der Zuschauer gnädig. Die pausenlose Aufführung dauerte nur 2 Stunden. Doch die wurden lang!


Vor allem die Inszenierung des als aufstrebend angepriesenen jugendlichen russischen Regisseurs Evgeny Titov machte es - wie man sah, wenn man sich umschaute - einem Großteil des Publikums schwer, aufmerksam dem szenischen Geschehen zu folgen, sprich wach zu bleiben. Allzu pathetisch, statuarisch, spannungslos wurde die handelnden Personen (einschließlich Komparserie) hin und hergeschoben, zu Grüppchen arrangiert, oratorienhaft vorgeführt. Blut- und dreckverschmierte Zombies (überzeichnet geschminkte und verschmierte Menschen) in weißen Fetzen langweilten. Nur wenige „richtige“, farbintensive Kostüme (Eva Dessecker) rüttelten die „stoffliche“ Monotonie auf. Es durfte gebarmt und gekrochen, expressiv opernhaft agiert und demonstrativ gequält werden. Blut spielte eine große Rolle in der Inszenierung. Schon die blutige Geburt des Ödipus wurde einem nicht erspart. Das Baby mit übergroßem Erwachsenenkopf wurde danach durchs ganze Stück wie eine Monstranz herumgetragen und dem erwachsenen Ödipus vorgehalten. Wir verstehen: Er ist auf der Suche nach sich selbst. Die Grundidee des etwas plakativen Regiekonzept, wozu es nicht vieler Phantasie bedufte. Darum geht es ja in dem Stück. Das hat der Regisseur schon richtig erkannt. Über seine Umsetzung lässt sich streiten. 


Er setzt in seiner Inszenierung auf Blut. Blut spritzt beim Selbstmord Jokastes an die Wand, Laios tritt mit aufgeschlitztem Bauch und heraushängendem blutigem Gedärm auf, es wird mehrfach auf offener Szene roh kopuliert und die Selbstblendung des Ödipus ist auch nichts für schwache Nerven. Kein schöner Anblick. Überhaupt keine schöne Inszenierung, eher ein orgienhaftes, antikisches Ritual in klaustrophobisch anmutendem Raum aus Stahlwänden um ein Wasserbecken, in dem kräftig geplanscht werden darf. Korrespondierend mit der unspektakulären Sphinx schwebt eine Leuchtstoffröhreninstallation von Bühnenhimmel herab und entfaltet sich. Für das Bühnenbild ist Rufus Didwiszus verantwortlich.


Nun könnte man einwenden, eine Inszenierung muss nicht schön sein, zumal wenn es sich um ein antikisches Stück handelt, das ja auch nicht gerade „schön“ ist, eher unerbittlich, düster und tragisch. Ein Werk, in dem die Titelfigur (durch und durch sophokleisch, doch halb schon im Geiste Camus‘) unerbittlich gegen das Schicksal, anrennt, gegen die göttliche Vorbestimmung ankämpft, um erst nach grausamer Selbstzerstörung zu Freiheit und Selbsterkenntnis zu gelangen (was Sophokles seinem Ödipus nicht gönnt). Starker Tobak das Stück. Noch mehr aber die Musik. Was für eine Musik!


Ainars Rubikis (der lettische GMD des Hauses) sorgt für die musikalische Beglückung (Rettung) dieser archaischen Schweinerei auf der Bühne. Er ist der denkbar beste, will sagen ein kraftvoller wie sensibler Anwalt der (zusammengestrichenen) Partitur Enescus.  Er hat die Fäden sicher in der Hand, bezaubert, ja überwältigt durch Klangpracht, analytische Klarheit und den richtigen Mix aus rumänischer Volksmusik, altertümlich wirkender Heterophonie, französischem Impressionismus und russischem Expressionismus, der das Werk so vergleichslos macht. Rubikis beschwört einen sinfonischen Rausch (mit unterlegten Worten), den man schwerlich als „Oper“ im traditionellen Sinne bezeichnen kann, eher als Oratorium. Überwältigend ist dieser Rausch allemal!

 

Die Besetzung ist ausnahmslos superb zu nennen. Um nur die wichtigsten Partien zu nennen:  Katarina Bradic (La Sphinge), Karolina Gumos (Jocaste), Jens Larsen (Tirésias) und Joachim Goltz (Créon). Dem britischen Bariton Leigh Melrose wurde die zentrale Titelpartie anvertraut. Sein Ödipus ist erschütternd, eindrucksvoll, bewegend, sein gesungener Lebensabschied, ein finales Aufbegehren gegen die Götter, eine inneren Frieden stiftende Selbsterkenntnis, umrauscht von der schönsten Musik dieses Werks, wird zum betörenden Schlußgesang einer musikalisch jedenfalls beglückenden Aufführung.