Musik-Theater & mehr
Chromolithographie und Aquarell im Besitz von Dieter David Scholz
Hymnus & Abgesang „auf die noch immer schönste Insel unserer Welt“
Dieter Richters einzigartiges Buch über das einzigartige Capri
Exzellenter Ausstellungskatalog des Badischen Landesmuseums Karlsruhe
Der Evergreen von Gerhard Winkler
Capri von der Via Parthenope in Neapel aus gesehen
Photos: Dieter David Scholz
Ein Klassiker der Capriliteratur von Edwin Cerio
Wer glaubt, schon alles über Capri zu wissen, wird von Dieter Richter eines Besseren belehrt. Der aufgeklärt liberale Literatur-Professor, Cavaliere und mit Leib und Seele Italienschwärmer, hat auch mit seiner jüngsten Publikation wieder einmal bewiesen, dass er einer der besten Kenner von Italiens Süden ist. Nach „Goethe in Neapel“, „Der Vesuv. Geschichte eines Berges“, „Neapel. Biographie einer Stadt“, „Der Süden. Geschichte einer Himmelsrichtung“, „Das Meer. Geschichte der ältesten Landschaft“, „Neapel. Eine literarische Einladung.“ und „August Kopisch. Entdeckung der Blauen Grote auf der Insel Capri“, hat er sich jetzt dem Inbegriff der Sehnsucht in Geschichte und Gegenwart zugewandt. Er will Capris „Faszination nachspüren“ und „die Bedeutung zeigen, die Capri, wie keine andere kleine Insel, für die europäische Kultur- und Geistesgeschichte hatte.“ Auf die ihm eigene, so gelehrte wie unterhaltsame und - wie immer - stilistisch glänzende Art und Weise. Das Buch liest sich wie ein Pandämonium oder eine Bibel der Capri-Anbeter und -Süchtigen.
Capri, das sind nur zehn Quadratkilometer im Mittelmeer „nur ein Zehntel des griechischen Santorin“, geographisch gesehen nichts, aber es ist doch „eine Welt für sich,“ landschaftlich, ästhetisch, kulturgeschichtlich, klimatisch, atmosphärisch, zu schweigen vom Blau des Wassers.
Unter Kaiser Tiberius war die Ziegeninsel von 26 bis 37 n. Chr., seinem Lebensende, Regierungszentrum, also Mittelpunkt des Imperium Romanum, des römischen Weltreiches, dann wurde die schroffe Kalksteinfelseninsel vergessen, um mit der Entdeckung der Blauen Grotte (es gibt derer übrigens mehrere am Mittelmeer) zur „ersten europäischen Tourismus-Insel“ zu reüssieren. Richter nimmt kein Blatt vor den Mund. Capri ist „heute im Halbstundentakt mit dem Festland verbunden, die Einwohnerzahl hat sich seit Gregorovius´ Tagen fast verfünffacht, der Strom des Massentourismus flutet täglich über sie hinweg.“ 2016 registrierte das Hafenamt laut Richter 2 331 969 Besucher, an manchen Tagen mit zum Teil über 10 000 Tagesbesuchern.
Der Caprifreund und -Kenner hat natürlich die Bücher von Humbert Kesel, Edwin und Clarissa Cerio, Hubertus Prinz zu Löwenstein, Ferdinand Gregorovius und Axel Munthe gelesen (um nur die bekanntesten Autoren zu nennen), kennt also die „Basics“ der Geschichte Capris. Nicht zu reden von zahlreichen essayistischen Abhandlungen.
Aber Dieter Richter weiß eine erstaunliche Fülle kaum bekannter Fakten und Einsichten hinzuzufügen. Er kennt diese Insel wie kaum ein anderer, jenseits von „high life und Verworfenheit“, er kennt den Laufsteg der VIPs, den Jahrmarkt der Eitelkeiten. Capri ist zweifellos „einer der schönsten Orte der Welt“, (D.H. Lawrence) vor allem aber Traum und Asyl für „Zivilisationsflüchtlinge aus den großen Städten des Nordens“ wie den Stahlbaron Friedrich Alfred Krupp. Capri war Refugium und privater Fluchtpunkt für Kaiser wie Augustus und Tiberius, von dessen 12 Villen nur Reste seiner imposanten Jupiter-Villa übrigblieben sind. Es war auch zufluchtsort und Insel Utopia ür Außenseiter wie den Erben der belgischen Stahlwerke von Longwy, Dandy und Décadent Jacques Fersen d´Adelswaerd, der mit der Villa Lysis am Steilhang direkt unterhalb der Villa Iovis für sich und seinen Geliebten das Refugium zum Lieben und Koksen erbaute. Der Name spielte auf Platons Dialog über die Knabenliebe an. Capri wurde "um 1900 zum Mekka männlicher Homosexualität".
Capri war aber auch ein Refugium für Philosophen wie Walter Benjamin oder Erst Bloch, Lebensreformer wie den Münchner Maler August Weber, Politiker wie Gorki und Lenin, Weltverbesserer, Maler und Künstler wie Carl Blechen oder Joseph Beuys, Gelehrte wie den finnischen Assyriologen und Diplomaten Harrie Holma, Literaten wie Hans Christian Andersen oder Ferdinand Gregorovius, Hanns Heinz Evers, Alberto Moravia, Elsa Morante und Curzio Malaparte, dessen rotes Haus das eigenwilligste der Insel ist. Aber auch Abenteurer und Romanciers wie Roger Peyrefitte, Norman Douglas und Graham Greene hatte die einzigartige Insel magisch angezogen. Vor allem aber unangepasste Individualisten wie der schwedische Arzt Axel Munthe, der sich jahrelang auf Capri niederliess. Seine Villa San Michele gehört bis heute zu den meistbesuchten Sehenswürdigkeiten der Insel. Alle, die kamen, waren dem Zauber der Insel erlegen. Auch Monika Mann, eine Tochter Thomas Manns, lebte von 1954-1986 auf Capri. Dies und viel mehr erfährt man in Richters Buch, das einen ungemein kenntnisreichen wie interessanten und detailreichen Streifzug durch die antike wie neuzeitliche Kulturgeschichte Capris unternimmt und allem schon Bekannten einiges Interessante hinzuzufügen weiß. Wer es nicht eh' schon wusste, versteht nach der Lektüre des Buches, warum Capri „zur Chiffre der Sehnsucht nach dem Süden“ wurde und warum der millionenfach verkaufte Schlager Ralph Maria Siegels von den Capri-Fischern ein Evergreen wurde.
Dieter Richters Buch folgt „nicht einer strengen chronologischen Linie. Die Darstellung ist kaleidoskopisch und orientiert sich am Primat des Sichtbaren. Die einzelnen Kapitel sind thematisch zugeschnitten, emblematisch wird ihnen jeweils eine bestimmte Lokalität zugeordnet, an der sich das Dargestellte verdichten lässt. "Zahlreiche unbekannte Quellen sind in die Arbeit eingeflossen, ergänzt durch Erinnerungsspuren der Alltagskultur wie Grabsteine, Gästebücher, Bilder, Gedenktafeln, außerdem Zeugnisse aus mündlicher Erzählüberlieferung. Persönliche Erfahrungen und Begegnungen, die mich seit nunmehr fast vierzig Jahren mit der Insel verbinden, kommen hinzu,“ so Richter.
Folgende Kapitel hat das Buch: „Faraglioni. Die Insel und das feste Land.“ Es beleuchtet den Zwiespalt zwischen Autonomie und Abhängigkeit der Insel, auch das spezifische Inselgefühl. „Phönizische Treppe-Capri-Anacapri. Die geteilte Insel“ ist das zweite Kapitel überschrieben. Es beleuchtet die Unterschiede der rivalisierenden capresischen Städte. „Villa Iovis. Die Insel des Tiberius“ darf als Rehabilitation des angeblich „ruchlosen Kaisers“ verstanden werden. „Quisisana. Die therapeutische Insel“ ist weit mehr als nur die Geschichte des exklusivsten Hotels Capris, eher eine Abhandlung über Erholung und Vergnügen, Patienten und Mäzene. Deren spendabelster war Alfred Krupp, der eine (leider heute geschlossene) atemberaubende Straße bauen ließ von den Gärten des Augustus zur Marina piccola hinab. In „Grotta Azzura. Die romantische Insel“ geht es natürlich um das „blaue Feuer der Romantik“, will sagen um die berühmte Blaue Grotte, ihre Entdeckung und die Folgen. Um den Cimitero acattolico und die dort Liegenden aus aller Welt geht es im Kapitel „Die kosmopolitische Insel.“ Im Kapitel „Villa Lysis. Insel Utopia.“ ist nicht nur von deren Erbauer, dem Comte Jacques de Fersen die Rede, sondern auch von der „freien Liebe“, von Höhlenmenschen, Propheten und Jüngern der Sonne, die sich Capri zum Wohnsitz und Lebensmittelpunkt, wo nicht Lebensendpunkt auserwählt hatten. Schließlich „Piazzetta. Die Politische Insel“. Ein vernachlässigtes Kapitel aus Capris Geschichte wird darin in all seiner Zwiespältigkeit beschrieben:
Man liest aber auch: „Unter die Schwarzhemden des italienischen Faschismus mischte sich nach 1933 die braune Prominenz aus Nazi-Deutschland. Schon wenige Wochen nach der Machtergreifung, Ostern 1933, kommt Hermann Göhring, damals Reichstagspräsident und Minister für Luftfahrt, in Begleitung von Prinz Philipp von Hessen für drei Tage nach Capri; Hunderte von deutschen Touristen empfangen ihn im Hafen mit dem ‚Horst-Wessel-Lied‘ und rufen ‚Heil Hitler‘. Im Dezember 1933 nimmt SA-Führer Ernst Röhm mit einer Gruppe befreundeter SA-Größen einen ‚Erholungsurlaub‘ auf Capri, im August 1935 besucht Fritz Stege, Funktionär der ‚Reichsmusikkammer‘ und zuständig für die ‚Reinigung‘ des deutschen Musiklebens, die Insel. lm April 1936 folgt Reichsminister Hans Frank, der spätere Generalgouverneur im besetzten Polen, der in Rom Gespräche mit Mussolini geführt hatte, im November 1937 Rudolf Hess, der Stellvertreter des ‚Führers‘. Auch zahlreiche andere Nazi-Größen entdecken ihre Zuneigung zu Capri, unter ihnen Eugen Dollmann, Sonderbeauftragter der SS in Italien, oder Reichswehrminister Werner von Blomberg, der sich nach seiner Entmachtung 1938 nach Capri zurückgezogen hatte. Hinzu kommen Besucher verschiedener NS-Organisationen: Schon im Sommer 1933 wurde eine Delegation der ‚Hitlerjugend‘ vom faschistischen Bürgermeister auf der Piazza empfangen, Wieder wurde ‚Die Fahne hoch ...‘ gesungen, der ‚Hitlergruß‘ gezeigt; später folgen KdF-Reisende und Arbeiter der ‚Deutschen Arbeitsfront‘ unter Robert Ley. Wie ein kleiner Staatsakt gestaltete sich Görings fünftägiger Besuch, jetzt zusammen mit Ehefrau Emmy, im Januar 1937. Bei seiner abendlichen Ankunft war die Insel illuminiert worden, auf der Piazza hatte man einen Triumphbogen für den Gast errichtet, und zu seinen Ehren war sogar der italienische Thronfolger Umberto für einige Stunden nach Capri gekommen. Die deutschen Gäste, abgestiegen im ‚Quisisana‘, besuchen Prinz Philipp und Prinzessin Mafalda sowie Axel Munthe in Anacapri ... Dies alles, wenn wir den täglichen ausführlichen Zeitungsberichten glauben dürfen, begleitet von beständigen Akklamationen der begeisterten einheimischen Bevölkerung und ‚Heil-Hitler‘-Rufen der deutschen Kolonie.“
Aber Capri, so weiß Dieter Richter auch, erwies sich vor allem als “Fluchtinsel für Verstoßene und Emigranten aus den Diktaturen der Welt:“ „Während auf der Piazza Hakenkreuzfahnen geschwungen und 'Viva il Führer' gerufen wurde, lebte mitten unter den schwarzen und braunen Chargen, unter NS-Ministern, Hitlerjugendlichen und KdF-Reisenden eine Gruppe von Menschen, die eben deshalb nach Capri gekommen waren, um dem Nazi-Terror zu entgehen: Flüchtlinge aus Nazi-Deutschland. Seit der Machtübergabe an Hitler 1933 war Italien eines der beliebtesten Fluchtländer für Gegner oder Verfolgte des Regimes ge-worden; nach der Okkupation Osterreichs 1938 folgte von dort eine weitere Flüchtlingswelle. Auch aus der Sowjetunion und den osteuropäischen Ländern suchten zahlreiche Menschen in Italien Zuflucht. Alten Präferenzen der Reiserouten folgend, hatten dabei viele von ihnen die Gegend von Neapel als Fluchtziel gewählt, so dass an Orten wie Capri, Positano, Amalfi und auf Ischia kleine Zentren der Emigration entstanden waren, deren Mitglieder zum Teil untereinander in Kontakt standen.“
Es ist beklemmend und anschaulich, wie Richter diese Gleichzeitigkeit des Ungleichen darzustellen weiß, als Fokus gewissermaßen der uralten Ambivalenzen Capris. Im Schlusskapitel, „Marina Grande. Insel und Nicht mehr Insel“ zieht Richter Bilanz. Er verleugnet nicht, dass Capri inzwischen längst ein „Fremdencapri“ geworden sei, eine Marke, ein Mythos, eine „globale Luxusdestination“, in der nur das Geld zählt. Er zitiert mit Hinweis auf 150 Jahre, während der sich die Klage „dass alles nicht mehr so ist, wie es einmal war, wie ein elegischer Cantus firmus“ durch die Capri-Literatur ziehe, Raffaele La Capria, der in seinem Capri-Buch von 1991 die „total schäbige Blaugrottisierung der Insel“ beklagte.
Bei all dem soll aber nicht vergessen werden: Richter weiss auch einen Hymnus anzustimmen auf Capri als Insel der freien Liebe: "Inseln sind seit alters Projektionsflachen alternativer Lebensmodelle, Laboratorien neuer sozialer Ordnungen. Inseln
lassen Experimente zu, in ihrer 'Extraterritorialität' kann stattfinden, was auf dem festen Land nicht oder noch nicht
möglich ist. Wie keine andere Insel steht Capri in dieser ambivalenten Tradition der Insel Utopia (oder Dystopia), hat Dissi-
denten aller Couleur in ihren Bann geschlagen, hat Abweichlern, Aussteigern, Weltverbesserern, Kauzen und Phantasten
eine temporare Heimat geboten. Und nicht zuletzt die alte utopische Idee der 'Liebesinsel' hat ihre Regenbogenfarben
auf Capri geworfen. Dass Capri um 1900 zum Mekka mannlicher Homosexueller wurde, hangt dabei nicht nur mit der Tatsache zusammen, dass es im Königreich Italien generell keinen Paragraphen 175 gab, der `widernatürliche Unzucht' (wie in Deutschland) unter Strafe gestellt hatte. Mit Capri und dem Golf von Neapel verband sich auch die Aura antikischer, heidnischer Sinnlichkeit, deren Ausdrucksformen in den Ausgrabungen von Pompeji und Herculaneum wieder ans Licht gekommen zu sein schienen und im benachbarten Museum in Neapel zu bestaunen waren. In Fersens Capri-Roman Et le feu s’éteignit sur la mer (1909) ist es ein Besuch ebendieses Museums mit seinen Knaben- und Jünglingsstatuen, der den Helden der Gcschichte, einen jungen franzosischen Bildhauer, vom 'falschen' Weg der Frauenliebe abbringt. Die Vorstellung vom
Fortleben freizügiger antiker Liebespraktiken unter südlichem Himmel, vor allem der Knabenliebe, war Teil der idealen
Wahrnehmung des Südens.’ Belegt ist, dass am Golf männliche Prostitution kein Tabu war, offentliche Nacktheit von Kna-
bcn und jungen Mannern am Meer selbstverstéindlich." Richter gerät ins Schwärmen kommt vom Hundertsten ins Tausendste.
Nach „Neapel, Biographie einer Stadt“ und „Der Vesuv, Geschichte eines Berges“ bildet Richters Buch über die Insel Capri den abschließenden Band seiner Trilogie über den Golf von Neapel, „eine der ältesten und reichsten Kulturlandschaften eines Europa ohne Grenzen“. Das Buch wird mit präzisen Anmerkungen sowie weiterführendem Quellen- und Literaturverzeichnis abgerundet. Nach all der bereits reichlich vorhandenen Literatur über Capri ein Zugewinn, diesess Buch.
Chapeau! Kein Capri-Führer für Touristen, eher die nostalgisch verklärende wie knallhart realistische Desillusionierung wie Verherrlichung eines heute durchaus zwiespältigen, gleichermaßen faszinierenden wie abstoßenden Inseltraums, um nicht zu sagen einer Trauminsel. Ein Buch „für alte Capri-Habitués“ und solche, die es jenseits des Massentourismus vielleicht werden (wollen). Beredter Hymnus wie Abgesang „auf die noch nimmer schönste Insel unserer Welt“.