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Ein Sommernachtstraum der anderen Art
Richard Wagner: "Tristan und Isolde"
Birgit Nilsson, Jon Vickers, L´Orchestre de L´ORTF, Ltg. Karl Böhm
Théatre Antiques d´Orange 7. Juli 1973
Hardy Classics HCD 4009
Als Erstes sieht man die eindrucksvolle Bühnenwand, die Ludwig der Vierzehnte mit gutem Grund als die schönste Wand seines Reiches bezeichnete. Dann schwenkt die Kamera über das Publikum. Das Vorspiel hebt an. Karl Böhm wird sichtbar, heftig gestikulierend am Pult des riesig besetzten Orchesters des französischen Radios und Fernsehens. Die Pulte sind einzeln beleuchtet. Nacht herrscht. Es ist die Nacht des siebten Juli 1973. Eine Auffüh-rung des renommierten Festivals Chorégies d´Orange unweit Avignons, am Rande des Châ-teauneuf-du-Pape. Phantastische Kamerafahrten über die einzelnen Pulte der Musiker. Er-staunlich, wie agil, wie energisch der bärbeißig dreinschauende Karl Böhm dirigiert. So hat man ihn nicht oft gesehen. Vielleicht ist es der Mistralwind des Abends, der den Maestro zu einer Sternstunde beflügelte, wie sie ihm in Sachen "Tristan" vielleicht nur einmal zuvor, in Bayreuth 1966 gelang, als er zum ersten Male mit Birgit Nilsson das Opus summum, wie Nietzsche den "Tristan" nannte, aufführte. Von dieser Bayreuther Aufführung gibt es einen legendären Tonmitschnitt auf CD.
Nicht minder bedeutend ist die filmische Dokumentation, die jetzt vom Mailänder Label Hardy Classic vorgelegt wurde, auch wenn die Ton- und auch die Bildqualität zu wünschen übrig lassen. Aber endlich kann man sie einmal quasi live erleben in einer kompletten Auf-führung jener Partie, die sie unvergleichlich souverän gesungen hat, Birgit Nilsson, die Ein-malige und uUnübertroffene unter den Hochdramatischen des 20. Jahrhunderts.
Man kennt sie, die schwedische Wagnerheroine, in enganliegendem schwarzem Lederkos-tüm. So steht sie auch in Orange auf der großen Bühne als Isolde, im ersten Akt jedenfalls. Mit schwarzer Langhaar-Perücke, im Siebzigerjahre-Geschmack, überschminkt und nicht gerade eine grazile, Erscheinung. Aber sie singt die Isolde mit einer Souveränität und Selbstverständlichkeit, die man so nie wieder erlebte. Schon deshalb ist diese DVD ein historisches Dokument von nicht zu überschätzendem Wert. Und nicht nur die Nilsson ist überragend, sondern auch die übrige Besetzung, vor allem John Vickers als Tristan. Und auch Ruth Hesse als Brangäne ist auf ihrem sängerischen Zenit.
Was die Inszenierung dieses Tristan angeht, darf man die live abgefilmte Aufführung vor 10.000 Zuschauern eher unter die Rubrik Kuriosum einordnen. Denn Regisseur Nikolaus Lehnhoff gelingt es, was uns heute geradezu absurd erscheint, die spezifische Optik, die Möglichkeiten und Chancen der des antiken Theaters von Orange, das so beispiellos gut erhalten ist, völlig vergessen zu machen. Keinen einzigen Stein der immerhin 103 Meter langen und 37 Meter hohen Bühnenwand sieht man mehr in seiner Inszenierung, nicht die Statue des Kaisers Augustus, keine Marmorsäulen, nichts. Lehnhoff hat es vermocht, die Aura dieses um 27 vor Christus erbauten Theaters, eines der besterhaltnen römischen Bau-werke schlechthin, in seiner Inszenierung zu negieren. Heute würde wohl jeder Regisseur den "Tristan" in Orange so zeigen, wie er eben nur in Orange zu sehen sein könnte.
Nikolaus Lehnhoff hat als getreuer Wieland Wagner-Assistent die Neubayreuther Welten-scheibe, die Wielandsche "Kochplatte", wie sie spöttisch genannt wurde, nach Orange transplantiert und alles übrige mit Stoffwänden verhängt. 240 Minuten lang sieht man nur eine kreisförmige Scheibe mit kreisförmigen Treppensegmenten, die von Akt zu Akt leicht verschoben werden. Die statuarisch, sängerfreundliche Personenregie beschränkt sich auf rituelles Schreiten und pathetische Gestik. Der Film- und Fernsehregisseur Pierre Jourdan hat sein Bestes getan, die Inszenierung, die genauso gut in Castrop-Rauxel hätte stattfinden können, mit reichlich Kamerafahrten und Perspektivenwechsel einigermaßen lebendig abzufilmen.
Aber nicht der Inszenierung wegen sind die Zuschauer aus aller Welt damals, 1973, ins süd-französiche Orange gepilgert, sondern der Nilsson wegen. Sie dort zu hören, sie zu sehen, sie zu erleben, das war die Sensation. Sie war damals der Welt gefeiertste Isolde. Glücklich, wer dabei sein konnte. Wer nicht, der hat jetzt Gelegenheit, wenigstens per DVD jene Sternstunde nachzuerleben, den Mythos Birgit Nilsson auch in Augenschein zu nehmen und im Fernsehformat etwas davon zu erahnen, wie einen der Schalldruck dieser Stimme auf die unbequemen Steinbänke gedrückt haben muß, und jener Zauber sich eingestellt haben muß damals, in warmer, südfranzösischer Sommernacht 1973. Selbst der ansonsten oft so biedere, trockene Karl Böhm war in jener Nacht, man kann gegen ihn sagen was man will, einer der leidenschaftlichsten, der emotional-eruptivsten Sachwalter des "Tristan".
MDR-Figaro am Vormittag, 16.3.2004