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Der französische "Ring" an einem Abend
Ernest Reyers "Sigurd" als DEA in Erfurt
Photos: Lutz Edelhoff
Am 30. Januar 2015 wurde am Theater Erfurt Ernest Reyers Oper in vier Akten „Sigurd“ ausgegraben – und zum ersten Mal in Deutsch-land gezeigt. 1884 erlebte sie in Brüssel ihre Uraufführung, wurde an einigen Theatern Europas nachgespielt, erlebte an der Pariser Oper zwischen 1890 und 1935 immerhin 252 Aufführungen und geriet dann in Vergessenheit. Kein Wunder, es handelt sich um nichts weniger als den quasi „französischen Nibelungen-Ring“ an einem Abend. Der hatte nur schwer eine Chance gegen Richard Wagner.
Und doch klingt er ganz anders, eher nach Berlioz, was die Orchestrierung und die angeht. Aber Reyer verfügt auch über die exotische Klangfarben-Raffinesse eines Camille Saint-Saens und die Üppigkeit und Süße Gounods, was die Vokalpartien angeht. Eine durch und durch französische Oper, kompositorisch auf der Höhe ihrer Zeit, der Komponist Reyer war mit allen Wassern gewaschen. Große Blech-bläserbesetzung. Es gibt Bühnenmusiken. Es handelt sich um eine Nummernoper mit Arien, Chören, Duetten, Finali und Orchester-stücken, vor allem zwei Balletten, die man allerdings in Erfurt gestrichen hat, auch einiges andere mehr, sodass das vieraktige Stück in-klusive Pause auf nicht mehr als drei Stunden kommt. Das ist publikumsfreundlich und tut dem Stück gut. Es wird dadurch stringenter. Eine faszinierende Oper, die die Konkurrenz Wagners nicht zu fürchten braucht. Der Grund dafür, dass diese Oper vergessen wurde, liegt weniger an der Übermacht Wagners, als am Niedergang der Vorliebe für Grand Opéra an sich.
Reyer war gebürtiger Marseillaiser, war eigentlich Musikkritiker, am renommierten Journal des Debats, dort war er als solcher der Nach-folger von Berlioz in der Funktion als Chefkritiker. Nebenher hat er komponiert. Natürlich wollte er hauptberuflich Komponist sein, die Journalistik war sein Broterwerb. Nachdem er mit "Maitre Wolfram", "La Statue", einer Feenoper nach Tausendundeine Nacht und "Ero-strate" einige Erfolge eingefahren hatte, wurde er in Paris ernstgenommen als Komponist und bekam die Kritikerstelle.
Mit der Oper „Sigurd“ ging Reyer 20 Jahre schwanger. Seit den 1860 Jahren arbeitete er an diesem Werk, ohne auch nur zu ahnen, dass ein gewisser Richard Wagner in Deutschland bzw. in der Schweiz gleichzeitig an einer Vertonung des gleichen Stoffs arbeitete. Brüssel wagte erst ein Jahr nach Wagners Tod die Uraufführung. 1885 kam das Werk stark gekürzt an die Pariser Oper. Ab 1890 spielte man es dort ungekürzt und mit enormem Erfolg kontinuierlich bis 1935. Sigurd war die erfolgreichste Oper Reyers und ein Glanzstück für Heldentenöre und hochdramatische Soprane. Schon in der Schellackplattenära haben alle große französischen Tenöre und Hochdra-matischen die Paradearien aus „Sigurd“ aufgenommen.
Die ausufernde Handlung der Wagnerschen Tetralogie, die schließlich vier Abende umspannte kennen wir. Reyer hat sich kurz gefaßt, weile er sich ganz auf das Siegfried-Drama konzentrierte, auf das, was sich zwischen Siegfrieds Auftreten am Burgundischen Hof und seinem Tod abspielt, ohne alle Vorgeschichte. Man erfährt nichts von den Rheintöchtern, nichts von den Nibelungen, es gibt keinen Dra-chenkampf und die Eltern Siegfrieds, Siegmund und Sieglinde treten nicht auf. Auch Wotan bzw. Odin, wie er bei Reyer heisst, kommt nicht vor in "Sigurd". Alles, was bei Wagner im "Rheingold" und in der "Walküre" passiert, ist bei Reyer ausgespart. Aber er verzichtet auch auf alle Abschweifungen ins Mythologische, Gesellschaftskritische, Vorfreudianische oder Soziolautopistisch-Politische, was ja bei Wagner sehr viel Raum einnimmt. Reyer bzw. seine Librettisten, der berühmte Emile du Locle und Alfred Blau haben aus dem Nibelung-enlied, der Edda und der Völsungasage eine Art historische Oper entworfen, die ganz geradlinig das Leben und Sterben des Helden Sieg-fried/Sigurd nacherzählt, alles das, was man auch bei Wagner erfährt, wenn auch mit einigen – kleineren – aber wesentlichen Unter-schieden. Reyer bleibt näher an der Vorlage als Wagner, er folgt weit genauer dem mittlalterlichen Nibelungenlied.
Die Oper handelt vom erwachsenen Helden Sigurd, der auszieht, die in einem Flammenschloß auf Island verbannte abtrünnige Walküre Odins zu erobern. Er trifft in Worms auf König Gunter, der dasselbe vor hat. Seine Schwester Hilda ist in Sigurd verliebt, weswegen sie ihm durch ihre zauberkundige Amme Uta einen Liebestrank überreichen läßt. Er trinkt, verliebt sich in Hilda und erobert in der Maske Gunters Brunehild. Doch die wittert Verrat, schließlich zeigt Hilda ihr den Schamgürtel, den Brunehild ihrem Befreier aus dem flammen-umzuckten Tiefschlaf als Liebespfand übergab und lüftet das Geheimnis. Brunehild verflucht Gunter und läßt Sigurd mithilfe eines Ver-gessenstranks seine Liebe zu ihr wiedererkennen. Schande bahnt sich an am Burgundenhof, weshalb Hagen Siegfried ersticht. Brunehild stirbt ihm aus Liebe nach. Hilda klagt Gunter des Mords an und beschwört die Rache der Götter. Die wird Attila dann ausüben, der die Burgunder auslöscht. Die Oper endet mit einer grandiosen Apotheose Siegfrieds und Brunehildes, die in Odins Paradies aufsteigen, während Attila, auf sein Schwert gestützt, inmitten von Leichen steht.
Es ist ein ehrgeiziges Unternehmen, heute an einem Haus wie Erfurt diese große Nibelungen-Grand Opéra zu geben, auch szenisch.
Hausherr Guy Montavon hat sich eines beliebten Tricks bedient: Er läßt das eigentliche Drama als Traum Hildas, der Schwester Gunthers spielen. Sie liegt auf der Vorbühne in einem Krankenbett als sich windende Hysterikerin, die von einem Sigurd-Helden träumt. Eine trau-matisierte Frau, die offenbar von Soldaten mißbraucht wurde. Das wird angedeutet in einer der nachfolgenden Szenen. Die Bühne zeigt das zerstörte Worms von 1945. Trümmerfrauen. Auch der Zweite Weltkrieg hat Worms ja noch einmal total zerstört, so wie fünfzen-hundert Jahre zuvor Attila es niedergebrannt hatte. Durch diese Rahmenhandlung abgesichert, gestattet es sich Montavon, die Traum-szenen quasi historisch zu inszenieren, mit prachtvollen Island-Prospekten, einem fliegenden Wikingerschiff, in dem die schlafende Brunehild liegt und mit allerhand pyro- und bühnentechnischen Effekten und Verwandlungen. Sigurd und Brunehild treten in den Urau-fführungskostümen auf, in Rüstung mit Brünne und Schwanenflügel-Helm als Reverenz an den französischen Historismus der Grand Opéra. Montavon inszeniert mit augenzwinkernder Ironie, gelegentlich hart am Rande des Mummenschanzes. Im Schlußtableau krönen Regisseur Guy Montavon und sein Ausstatter Maurizio Baló, ihre Inszenierung, indem sie die Apotheose Sigurds und Brunehlides auf dem Helm einer Monumentalstatue Attilas zeigen, die aus dem Bühnenboden gen Himmel auffährt. Ein starkes Schlußbild.
Die musikalische und sängerische Qualität der Produktion ist erstaunlich. Man hat in Erfurt Sänger zur Verfügung, die den 5 Hauptpartien auf beeindruckende Weise gerecht werden. Herausragend ein neuer Heldentenor, Marc Heller. Er hat in Erfurt bereits als Otello auf sich aufmerksam gemacht und wirft als Sigurd mit hohen Cs, Hs und Bs nur so um sich. Auch Ilia Papandreou, die Haus-Hochdramatische in Erfurt singt die Brunehild fabelhaft und sieht auch noch fabelhaft aus. Eindrucksvoll auch Kartal Karagedik als König Gunthrt. Der Opernchor des Theaters Erfurt, der mit Mitgliedern des Philharmonischen Chores Erfurt aufgestockt wurde, singt sehr respektabel. Das Philharmonische Orchester Erfurt ist mit Musikern der Thüringen Philharmonie Gotha erweitert worden. Ein Riesenapparat, den die neue, junge Musikchefin des Theaters Erfurt, die Dirigentin Joana Mallwitz souverän und energisch leitet, Sie hat die Zügel sicher in der Hand, sorgt für glitzernde Klangpracht, vorwärtsdrängende Dramatik, läßt es auch schon Mal ordentlich krachen und trägt die Sänger sicher auch durch die wunderbar filigranen, lyrischen Passagen. Eine großer Abend und eine Produktion, die man gesehen und gehört haben muss, schon, um das zu unrecht so selten gespielte Ausnahmewerk kennenzulernen. Aber man lernt auch etwas über Wagner hinzu, wie er sich musikalisch bei seinen Vorgängern – Berlioz vor allem bediente, und wo er vom Nibelungenlied abweicht, und was er alles hinzu-gefügt hat. Man hört Wagners „Ring“ nach Anhören des Reyerschen „Sigurd“ mit anderen Ohren.
Ob das Stück hierzulande eine Perspektive hat, bleibt abzuwarten. Auch in der Oper gilt leider: "Was der Bauer nicht kennt, frißt er nicht". Aber man kann nur hoffen, dass von dieser Erfurter Ausgrabung Impulse ausgehen, die dazu führen, dass das Werk auch anders-wo hierzulande aufgeführt wird. Das Werk hat es verdient. Freilich muss man diese Oper besetzen können. Der Aufwand ist groß. Aber das ist ja bei Wagner schließlich nicht anders. Und gerade als Korrektiv, oder sagen wir als Alternative zu Wagners "Ring" ist „Sigurd“ faszinierend. Und Reyers unwiderstehliche Musik und ihre schönheitstrunkenen Vokalpartien treffen ohne Frage auf offene Ohren beim breiten Publikum.
Beiträge in SWR „Cluster“, DLF Fazit, MDR Figaro