Tasten, Töne und Tumulte

Kompendium des Abseitigen und Entlegenen, Kuriosen, aber auch Wissenswerten aus dem Musikleben von A-Z

Die Geistervariationen waren das Letzte, was Robert Schumann komponierte, bevor er, geistig verwirrt, in den Rhein sprang. 17 Tage zuvor begann seine Umnachtung mit einem unerträg-i-chen Ton A, der ihn peinigte und immer stärker wurde, so liest man auf der ersten Seite dieses Wälzers von Rainer Schmitz und Benno Ure, der Unbekanntes, Groteskes, Kurioses, aber auch Wissenswertes aus dem Musikleben ans Licht zieht. Darunter findet sich viel Erheiterndes, aber  auch  Heikles, Makabres und Grauenhaftes. Noch auf der letzten Seite liest man beispielsweise, dass die Chemikalie Zyklon B, bevor sie in den Konzentrationslagern der Nazis benutzt wurde, zunächst als reines Schädlingsbekämpfungsmittel  eingesetzt wurde zur Befreiung von Büchern und Noten vom sogenannten „Bücherwurm“. Die Autoren entfalten in ihrem Buch, für das sie jahrelang recherchierten, ein breites Panorama zwischen A und Z. Es ist ein mehr als tausend-seitiges Kompendium des Abseitigen und Entlegenen, Erhellenden wie Anekdotischen, freilich auch ein Buch voller Klatsch und Tratsch, Trivialem und Tiefgründigem. Was die Lektüre be-sonders reizvoll macht, dass sich Musikologisches und Menschlich-Allzumenschliches die Waage halten.


So erfährt man beispielsweise, dass Niccolò Paganini zu Lebzeiten im wahrsten Sinne des Wor-tes  als "Teufelsgeiger" galt, weshalb ihm die Kirche nach seinem Ableben in Nizza ein kirch-liches Begräbnis verweigerte. Viele Jahre wurde  der konservierte Leichnam Paganinis hin- und hergeschoben, von einem Leichenschauhaus zum nächsten, wurde sogar gegen Geld ausgestellt vor Publikum. Erst 36 Jahre nach seinem Tod durfte Paganini gegen Zahlung einer horrenden Summe an die Katholische Kirche (nach heutigem Geldwert etwa 700000 bis 800000 Euro) schließlich in geweihte Erde gesenkt werden. Der Sohn Paganinis hatte jahrelang um ein Be-gräbnis seines Vaters gekämpft, bis er beim Papst persönlich eine Genehmigung einholen ließ.


Der ließ mitteilen, nur wenn ein tätiges Zeugnis der Reue des Verstorbenen vorliege, könne der "Teufelsgeiger"  kirchlich bestattet werden. Man begnüge sich in seinem Falle mit der Zahlung jener Summe, die er mit Hilfe des Teufels erspielt hätte und gewissermaßen an die Kirche zu-rückgezahlt werden müsse. Eine unglaubliche, aber wahre Geschichte, die man unterm Stich-wort „Leichentourismus“ lesen kann. Viele ähnlich makabre Geschichten finden sich in diesem wohl ungewöhnlichsten musikhistorischen Kompendium, das auf dem Markt erhältlich ist.


Es informiert über "Zeugungsmusiken" und Orgelbaurekorde, erklärt Begriffe wie „Minuten-walzer“ oder „Wahnfried“ und enthält zur Freude aller Wagnerianer unter den Lesern eine Auf-listung aller Hunde Richard Wagners, die nicht weniger als zweiundzwanzig Tiere umfasst, mit der Entschuldigung der Autoren, dass diese Liste wohl unvollständig sei. Besonders ergiebig ist, was die Autoren über Mord und Toschlag unter Musikern ermittelt haben. Auch ihre Recher-chen zum Thema Krankheiten und Todesarten von Musikern waren ergiebig.


Franz Liszt nimmt darin eine besondere Stellung ein. Er war nicht nur einer der bedeutendsten Klaviervirtuosen des 19. Jahrhunderts, er war auch einer der rekordverdächtigsten Alkoholiker unter den Komponisten. In seinen letzten Lebensjahren soll er, so liest man, täglich zwei Fla-schen Cognac und drei Flaschen Wein bzw. Champagner getrunken haben.  Erstaunlich, wie viele Komponisten und Musiker dem Alkohol ergeben waren und an Leberzirrhose gestorben sind. Rainer Schmitz und Benno Ure nennen unter anderen Beethoven und Brahms, Schumann und Reger, Mussorgsky, Gluck, Glinka und Friedemann Bach. Schubert, dem von Jugend an eine besondere Affinität zum Alkohol nachgesagt wurde, sei nur deshalb nicht an seinen Alkoholexzessen verstorben, so liest man, "weil die Syphilis schneller war".


Natürlich wird auch Mozart nicht in diesem Buch ausgespart. Er ist schließlich der meistge-spielte, meistgeliebte „Klassiker“ der Welt. Und doch ist Mozart wie kaum ein anderer Kom-ponist missverstanden, vereinnahmt, verharmlost, beweihräuchert und zum Mythos erhoben worden. Die absurdeste Ikone der Popularisierung Mozarts ist wohl die Mozartkugel, wo auch immer sie erfunden worden sei, ob in Salzburg oder in Wien. Einzelheiten dazu finden sich unter den Stichwörtern „Mozart, drum herum“ und „Mozartkugel“. Diese wie eigentlich alle Artikel des konkurrenzlos informativen wie indiskreten, um nicht zu sagen voyeuristischen Lexikons sind sachlich formuliert und vermitteln, leicht lesbar und schwungvoll geschrieben,  eine anregende Mischung aus Fakten, Gerüchten und Legenden, die mit Erläuterungen und Literaturangaben zur Vertiefung oder Beglaubigung versehen sind. 

Ob es sich im Einzelfall um unnützes Wissen handelt oder nicht, sei dahingestellt. Lesenswert ist das Buch allemal! Hat man sich einmal festgelesen, möchte man den Schmöker nicht mehr zur Seite legen.




Beitrag für MDR Kultur & Freie Presse