Jonathan Cott: Leonard Bernstein

"Mein eigener Antrieb beim Komponieren ist das Bedürnis, zu kommunizieren"

Das letzte Interview mit "Lennie"

Das schmalste und persönlichste, aber vielleicht essentiellste Buch über das Jahr­hundertphänomen Leonard Bernstein von Jonathan Cott


Leonard Bernstein war eine der  bedeutendsten Persönlichkeiten im Musikleben des zwanzigsten Jahrhunderts. Ein Jahr vor seinem Tod hatte der amerikanische Journalist Jonathan Cott Gelegenheit, das letzte große Interview mit Bernstein zu führen. Jetzt ist es in der Edition  Elke Heidenreich bei Bertelsmann als Buch erschienen.


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Mit dem Anhören der ersten Sinfonie von Jean Sibelius im hauseigenen Tonstudio begann das Interview, auf das Jonathan Cott ein Jahr lang gewartet hatte. Das Essen war noch nicht fertig und Lennie stellte gleich klar, dass dies kein typisches Promi-Interview werden solle. Er war damals bereits 71 Jahre alt und gab eigentlich keine Interviews mehr. Mit langer Vorbereitung  hatte der Journalist es erreicht, im Landhaus des Dirigenten in Conneticut zum Dinner eingeladen zu werden. "Dinner with Lennie" ist denn auch die amerikanische Erstaus-gabe des Buches betitelt. Aus dem Dinner am 20. November 1989 wurde schließlich eine ganze Nacht. "Genug Material, um ein Buch über mich zu schreiben", meinte Bernstein selbst gegen Ende des Gesprächs. In der Tat, denn der Themenradius dieses außergewöhnlich persönlichen Interviews umfasst den ganzen Kosmos der Welt Bernsteins. In dem auf Kassettenrecorder festgehaltenen und ziemlich authentisch abgetippten Interview läßt Bernstein sein Leben noch einmal Revue passieren.


Natürlich fragt Jonathan Cott immer wieder nach Musik und nach Musikern. Unter anderem auch nach Carl Orff. Bernstein antwortet "Wenn Sie Les Noces von Strawinsky aus den Carmina Burana herausnähmen, würde nicht viel übrigbleiben, oder? Orff bediente sich stilistisch zu neun Zehnteln aus Les Noces, das letzte Zehntel kam aus der israelischen Hora. ...Und Orff war ein solcher Nazi. ... Natür-lich haben die Israelis von den Rumänien geklaut. Na und? Orff ist Strawinsky plus jüdische Hora aus Rumänien. Weil ein Komponist die Summe seiner Hörerfahrungen ist. Plus Saft und Kraft von ihm selbst und einer Stimme, die nur ihm gehört." Und Leonard Bernstein bekennt freimütig, er selbst sei ja Wolfgang Amadeus,  Ludwig, Igor Fedorowitsch und Sibelius. In diesem Sinne könne er auf seine talmudische Art beweisen, dass Strawinskys Sacre kein revolutionäres Stück sei, und doch ein revolutionäres, weil es vorher oder seitdem nie wieder etwas Ähnliches gegeben habe. "Der Trick bei der Kunst besteht darin, zu wissen, wie man auf elegante Weise klaut", so liest man. der Komponist Bernstein weiß, wovon er spricht.


Ob Strawinsky oder Rock ´n Roll, Jazz oder Musical, Mozart oder Wagner: Bernsteins Kommentare zur Musik sind auf faszinierende Weise hochsubjektiv, emotional und immer bezogen auf die menschliche Existenz. So erklärt er beispielsweise den Rhythmus für ange-boren. Jedes Kind kennt, so liest man "eins-zwei-, eins-zwei, weil es zwei Hände, zwei Füße, zwei Augen hat." Deshalb sei der Dreiertakt für uns so faszinierend, weil wir eben "nicht dreifach angelegt" seien: Das Erfolgsgeheimnis des Walzers. 


Wenig spricht Bernstein über seine eigenen Kompositionen in seinem letzten Interview. Aber immer wieder kommt er auf die Musik Gustav Mahlers zu sprechen, zu der er eine besondere Affinität hat: Sie weine und beiße, streichele und bete. Menschliche Musik, die keine Tabus kenne. Auch er, Lennie, hat keine Berührungsängste vor heiklen Themen. So spricht er ganz ungeniert  über die Impotenz Gustav Mahlers, die der bei Sigmund Freud therapieren wollte. Vergeblich. Eben deshalb sei seine Gattin Alma "mit jedem ins Bett" gegangen, "der ihr über den Weg lief". Lennie nimmt kein Blatt vor den Mund. Die Sprache kommt natürlich auch auf Mahlers Judentum, wie auch auf sein eigenes. Es ist Lennies Background und spielt eine emi­nente Rolle in seinem Leben als Mensch und als Musiker. Auch wenn der Kosmopolit Bernstein alles andere als strenggläubig ist: Beides gehört für ihn zusammen: gelebte Alltagskultur und Glauben, Musik und Sexualität. Und er gesteht freizügig, die Sexualität mit 11 Jahren entdeckt zu haben, die Klaviertasten aber schon ein Jahr zuvor. Seither habe sich sein Leben um nichts anderes mehr gedreht.


Nicht nur über Gustav Mahlers Sexualität, auch über das in Amerika weitverbreitete "Latin-Lover-Dilemma "Mutter gegen Hure" spricht Bernstein ebenso unbefangen wie über jüdische Rituale und Alltagsbräuche. Der Sohn ausgewanderter ukrainischer Juden kennt sich darin aus. Aber er geizt auch nicht mit deutlichen Worten über Politik. Geradezu heftig äußert er seine Abneigung gegen die Regie-rungs-zeit Nixons. Und in der Reagan-Bush-Ära habe man erkennen können: "je größer die Traumata sind, und je mehr Armut und Geldgier da" sei, desto größer werde "die Anziehungskraft der Straße, von Crack, Alkohol und dem Fernseher".  Auch Berufskollegen bekommen ihr Fett ab. Die Mahler-Interpretationen von Pierre Boulez nennt Bernstein "banal". Das seien "intellektuelle Veranstaltungen", die er als "direkten Angriff" auf sich empfinde. Aber bei aller Musiker-Schelte: Es überwiegen liebevolle Äußerungen, etwa über den Pianisten Glenn Gould, über die Dirigentin Marin Alsop oder seine ehemaligen Assistenten Claudio Abbado und Herbert Blomstedt.  Lennie scheint tatsächlich durchdrungen zu sein von einer (wie Cott sie nennt) "panerotischen" Menschen­liebe. Auch über seine Liebe zu Män-nern spricht Bernstein völlig selbstverständlich. Für ihn gehört eben "alles zu allem". Und so ergänzen sich die musikalischen, psycho-logischen, reli­giösen, politischen und menschlich-allzumenschlichen Themen dieses Interviews zu einem runden, beeindruckenden Gesamtbild Bernsteins: Er war einer  der vielleicht größten Komunikatoren unter den Dirigenten und Komponisten. In dem Film "Reflections" von Peter Rosen bekennt sich Lennie dazu:


"Mein eigentlicher Antrieb beim Komponieren, ist das Bedürfnis zu kommunizieren - mit so vielen Menschen wie möglich. Denn was ich an der Welt und am Leben liebe, sind Menschen. Ich mag sie mindestens so sehr wie die Musik"


Das 157seitige Buch von Jonathan Cott macht die charismatische Persönlichkeit Leonard Bernsteins auf exemplarische Weise deutlich. Cott hat sein sehr konzentriertes, so anrüh­rendes wie witzig-intelligentes Gespräch mit biographischem Pro- und Epilog eingerahmt. Das schmalste, aber persönlichste und vielleicht essentiellste Buch über das Jahr­hundertphänomen Leonard Bernstein, jenseits von Zahlen-, Daten-, Fakten- und Werkaufzäh­lungen. - Das aufregendste Ereignis in seinem Leben sei übrigens der Fall der Berliner Mauer 1989 ge-wesen, gesteht Bernstein gegen Ende dieses seines letzten Interviews. Sein letztes Konzert war Beethovens Neunte in Berlin. Es war eine "Ode an die Freiheit", wie er  Schillers Gedicht in Beethovens Neunter umbenannte. Ein Jahr später war Lennie tot. Das Konzert, immerhin ist als CD  erhältlich.



 


 















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