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Malte Korff hat eine souveräne Summe der Tchaikowsky-Literatur gezogen
Während Tschaikowsky für die russischen Musikliebhaber als Nationalkomponist schlechthin gilt, gibt es unter westeuropäischen Musikwissenschaftlern und sogenannten Musikkennern noch immer Vorbehalte. Viele beurtelen ihn als nicht so national wie beispielsweise Balakirew, Mussorgsky oder Rimsky–Korsakow, sondern unterstellen ihm, sich stark an der deusschen und französischen Musik orientiert zu haben. Und ein Gutteil des Gesamtschaffens Tschaikowskys ist ausserhalb Rußlands zu wenig bekannt, so lautet die Ausgangsthese Malte Korffs. Mit seinem Buch will er diesen Mißstand beheben, einige Mißverständnisse bzw. Vorurteile ausräumen und Leben wie Werk des seiner Meinung nach verkannten oder jedenfalls zu wenig bekannten Komponisten vorstellen:
„In behüteter, aristokratischer Umgebung aufwachsend, entfaltet sich Peter Iljitschs Begabung zunächst nur zögerlich, sodass er erst nach juristischer Ausbildung und Tätigkeit am St. Petersburger Justizministerium Musik studiert und schließlich ins neu gegründete Moskauer Konservatorium berufen wird. Was folgt, ist ein durch alle Höhen und Tiefen führendes oft schmerzliches, erschütterndes Künstlerleben, charakterisiert durch den Wechsel von triumphalem Erfolg und schroffer Ablehnung. Sein Privatleben ist geprägt vom Umgang mit seiner homosexuellen Veranlagung, den katastrophalen Folgen einer unüberlegten Heirat und schließlich dem rätselhaften, bis heute nicht ganz geklärten Tod.“
In 12 Kapiteln behandelt Malte Korff mit profunder Kenntnis der Kompositionen, der Biografie und der Forschungs-literatur Tschaikowskys Kindheit in der Provinz, seine Jugend und Ausbildung zum Juristen, sein Musikstudium und seine Entscheidung, Musiker zu werden, die Komponistenkarriere und vor allem sein musikalisches Œuvre.
Am Beispiel der wohl populärsten Ballettmusik Tschaikowskys, die als Prototyp des klassischen Handlungs-balletts in die Musikgeschichte einging, erklärt Korff das musikalisch Besondere der Musik Tschaikowskys: Es liege …
„… in der musikalischen Eingängigkeit des musikalischen Leitgedankens, das Schwanenthemas, und der logischen, gut nachvollziehbaren Abfolge von Szenen. Neu ist, dass Tschaikowsky die Ballettmusik nicht mehr als funktionale Musik auffasst, die nur der Begleitung von Tanzszenen dient, sondern in der die musikalischen Themen und Motive genauso fortentwickelt werden wie in einer Sinfonie oder durchkomponierten Oper. Die Musik ist von tiefen menschlichen Gefühlen geprägt, eine differenzierte Empfindungsskala mit all ihren Widersprüchen.“
Neben den Ballettmusiken werden aber auch die Kammermusikstücke, die Opern und das übrige Werk Tschai-kowsky sachlich-dezidiert vorgestellt und charakterisiert. Korff stützt sich natürlich auf die Erkenntnisse einer umfangreichen Tschaikowsky- Literatur. Man denke nur an an die wegweisende Biografie von Herbert Weinstock aus dem Jahre 1943, die 1993 aufgrund ihres immensen positivistischen Sammlerfleißes als weithin unüberholt gilt, wiederaufgelegt wurde. In einer angehängten Bibliograhie führt er sie denn auch neben vielen anderen Titeln auf.
Die vierte Sinfonie hat Peter Tschaikowsky ausdrücklich der musikliebenden Millionärin Nadeshda von Meck, der reichsten Frau von Moskau gewidmet. Nicht ohne Grund. Die musikalisch gebildete, Klavier spielende Dame der vornehmsten Gesellschaft wurde zur vertraulichen Brieffreundin und spendabelen Förderin des Komponisten:
"Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie auf Tschaikowsky stößt und sich zwischen den beiden die wohl seltsamste Brieffreundschaft , das seltsamste Mäzenat entwickelt, das es in der Musikgeschichte gegeben hat. Denn sowohl der Künstler als auch die Mäzenin sind so scheu, so skeptisch, dass sie beide aus Furcht vor menschlicher Enttäuschung darauf dringen, sich nie persönlich zu begegnen.“
Nadeshda von Meck wurde Tschaikowsky zur mütterlichen Freundin und intimen Gesprächs-partnerin über seine problematischen Lebensumstände: Seinem Hang zur Depressionen, seiner nur aus gesellschaftlichen Gründen geschlossenen, unglücklichen Ehe, seiner ihn quälenden, nur heimlich ausgelebten Homosexualität und schließlich seiner zunehmenden Flucht aus der Ehe in die Umtriebigkeit eines international renommierten Reisekünstlers. Mit psychologischer Einfühlung erklärt Malte Korff aus der Biografie des Komponisten sein Werk, vor allem seine Opern, in denen die Liebe ebensowenig vorkommt, oder nur als Unglück oder unerfüllt, wie in seinem eigenen Leben, aber auch sein sinfonisches Werk, das mehr oder weniger als chiffrierte Sublimierung eigener emotionaler wie erotischer Befindlichkeit gedeutet wird.
"Tschaikowskys sechste Sinfonie ist nicht nur die bedeutendste des Komponisten, sondern gehört zu den berühm-testen der Sinfonik überhaupt. Sie ist ein Bekenntniswerk, in dem der Komponist die Quintessenz seines Lebens in Töne gießt. Den Dramen Tolstojs folgend, ist das Werk von ungeheurer Emotionalität geprägt und von schonungsloser Selbstanalyse.“
Seinem Neffen Wladimir schreibt Tschakowsky denn auch, dass diese Sinfonie ein Pogramm besitze, das er jedoch nicht preisgebe, da es zu persönlich sei und die tiefsten schmerzlichen Geheimnisse seines Privatlebens berühre. Die „Pathetique“ betitelte Sinfonie ist ohne Frage eine Art Lebensabschiedswerk, das schon seit Tschaikowskys Tod mit den bis heute nicht geklärten Umständen des plötzlichen Ablebens des Komponisten in Verbindung gebracht wurde. Die Musikwissenschaftlerin Alexandra Orlowa war die erste, die in den 1980er-Jahren in einer folgenreichen Publikation behauptete, Tschaikowsky sei wegen eines zu vermeidenden gesellschaftliche Skandals aufgrund einer Liaison mit einem berühmten Aistokratensohn von einem zaristischen Ehrengericht zum Selbstmord gezwungen worden sei. Ob durch Einnahme von Arsen oder choleraverseuchtem Wasser, darüber streiten sich bis heute die Gelehrten. Nicht zuletzt ein 600 Seiten starker Band der renommierten Tschaikowsky-Studien hat sich 1998 auf 600 Seiten mit diesem Thema befasst. Dr Band hat so ziemlich alle Dokumente nach Art eines Indizienprozesses zusammengetragen, die zu Tschaikowskys nicht zu bezweifelnder Homosexualität und zu seinem rätselhaften Tod existierten: Briefe, Tagebuchnotizen, Aussagen von Zeitgenossen sowie ärztlichen und amtlichen und Protokollen.
Am Ende seines empfehlenswert sachlich, prägnant und leicht lesbar geschriebenen Buches zieht Malte Korff gewisssermaßen das Fazit des gewaltigen Bands, aber auch der gesamten Tschaikowsky-Literatur: Es sei im Grunde nicht ausschlaggebend, ob man nun einen oder mehrere Belege für einen vorordneten oder freiwilligen Selbstmord des hochgradig depressiven Komponisten besitze. Eindeutige Beweise gibt es nach Meinung aller, die sich mit dem Thema befassten, oheiehn nicht.
„Es spricht wohl alles dagegen, das der Komponist das todbringende Glas mit dem unabgekochten Wasser vielleicht in einem Moment jäh –unvermittelt aufflammender, unendlicher Lebensverzweiflung trank, um in einer Art Russischen Rouletts das Schicksal bewußt herauszufordern.“
Unzweifelhaft ist, dass Tschaikowsky mit dem vieren Satz der sechsten Sinfonie Abschied vom Leben nimmt. Sein Schwanengesang endet statt mit einem Allegro oder Presto mit einem Adagio lamentoso. „Das allmähliche morendo des gesamten Orcheters“ so, betont Malte Korff, „erinnert uns an das berühmte Ende des Hamlet „The rest is silence“. Was bleibt ist Tschaikowskys Musik. Darauf vor allem kommt es an.
Rezension auch im DLF Musikjornal 16 .12. 2014