Kunst der Oberfläche

„Ich plädiere für ... die Rettung durch Operette. Gegen Depression, Langeweile, Stress, Frust, Schlaflosigkeit, Überforderung! Operrettung für alle!“ (Verena Unbehaun)

Bettina Brandl-Risi, Clemens Risi , Komische Oper Berlin:

„Kunst der Oberfläche. Operette zwischen Bravour und Banalität“

Henschel Verlag. 224 S.


Die Operette genießt einen zweifelhaften Ruf.  Was allerdings mehr mit Vorurteilen, Unkenntnis und falscher Aufführungspraxis als der Gattung an sich zu tun hat. Doch seit einigen Jahren ist so etwas wie eine Renaissance der Gattung zu beobachten. Nicht zuletzt an der Komischen Oper Berlin, wo sich Intendant Barrie Kosky für die Operette stark macht.Er hat zur Ehrenrettung der oftmals verkannten Gattung zu Anfang des Jahres 2015 ein dreitägiges Symposium veranstaltet, an dem Musik-, Theater- und Kultur-wissenschaftler, aber auch Künstler aus Europa und den USA teilnahmen. Die Ergebnisse der Tagung sind unter dem Titel „Kunst der Oberfläche – Operette zwischen Bravour und Banalität“  als Buch erschienen. Herausgegeben wurde es von den Theaterwissenschaftlern Bettina-Brandl-Risi und ClemensRisi.


1930 brachte der legendäre  Schauspieler , Regisseur  und Intendant Eric Charell im Großen Schauspielhaus in Berlin die Operette "Im weißen Rössl" von Ralph Benatzky zur Uraufführung, sie wurde zu einem seiner größten Erfolge. Es ist eine jener Operetten, die der Kultur- und Musikphilosoph Theodor W. Adorno als "abscheuliche Ausgeburten" brandmarkte. Zugegeben, kein tiefgründiges Stück, eher eines, an dem man das Phänomen der "Oberfläche" studieren kann.  Doch gerade an den Oberflächen-äußerungen könne man, so der  Kulturkritiker Siegfried Krakauer, den Grundgehalt einer Epoche und ihrer Kultur erkennen. Die Gattung Operette lebt von der "Oberfläche". Sie ist nach Thomas Risi „Metapher und Konzept“ zugleich.


Was die sogenannte „Oberfläche“ konkret ausmacht und der Gattung Operette ihre enorrme Popularität beschert, sind Plots, die „dicht am Puls der Zeit“ liegen, Bedürfnisse wie Sehnsüchte des gewöhnlichem Menschen bedienen, aber auch Kritik an beste-henden gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen ermöglichen. Vor allem aber ist es das „ Austesten und Übertreten von kulturellen Grenzen, Grenzen des Moralischen und des guten Geschmacks, das diese Oberflächen so reizvoll funkeln lässt“. Aber auch „eindeutige sexuelle Anspielungen und Verwirrung der Geschlechterrollen durch Cross-Dressing“, gehören zu den genrebe-stimmenden Ingredienzien der Gattung,“… so Clemens Risi. Musikalisch ist die Operette höchst originell mit ihren gewagten Mon-tagen von klassischen Opernorchestern mit Jazz-Band und Blaskapelle.  Es durchdringen sich Oper, Singspiel, Chanson, Volkslied und modische Tänze der Zeit. Das Erfolgsrezept der Operette ist die Mischung aus Banalem und Virtuosem. Sie machte die Unterscheidung in U- und E-Musik absolet.


Barrie Kosky sieht in der Trennung zwischen Kunst und Unterhaltung ein „spezifisch deutsches Phänomen“ des 20. Jahrhun-derts“. In der Operette „konnte vieles ausgedrückt werden, was niemals im Schauspiel oder in der Oper hätte formuliert werden können. Genau darin liegt die Radikalität der Form“. Die Operette war wegen ihrer Nähe zum Publikum und zu aktuellen Trends ein Spiegel der Zeit und sie war gesellschaftlicher, kultureller und technologischer  Seismograph. Aufgrund ihrer rebellischen Stoßkraft war sie auf unterhaltsame Weise gefährlich. Kein Wunder, dass all das, was sie auszeichnete, durch die Nazis beendet wurde, wie Barrie Kosky betont:  „Das Jahr 1933 markiert den Wendepunkt, an dem der künstlerischen Durchdringung von Hochkultur und Unterhaltung ein Ende gesetzt wird“. Kevin Clarke vom Operetta Research Center Amsterdam  erinnert daran,  dass die Vertreibung und Ermordung der vielen jüdischen Operettendarsteller, -Librettisten, und -Komponisten durch die Nazis das Ende der eigentlichen Operette und der authentischen Operettenaufführungspraxis markiert. Davon habe sich die Gattung nie mehr erholt. Harmlose, kitschige Blut-und Boden-, schließlich Ablenkungs- und Durchhalteoperetten, die in der Nazizeit ent-standen, hätten den Ruf der Gattung des frech- unerschrockenen,  gesellschaftskritischen,  heiter-satirischen Musiktheaters, das auf Jacques Offenbach zurückgeht, bis heute ruiniert.


Wie geht man mit jenen Operetten der späten Dreißiger- und Vierzigerjahre um, die die Gattung verharmlosten, aber bis heute gespielt werden? Soll man sie in politisch gute und böse Werke einteilen und gegebenenfalls nicht mehr aufführen? Kevin Clarke empfiehlt die Methode Barrie Koskysin seiner Inszenierung von Nico Dostals „Clivia“ an der Komischen Oper Berlin: „ Hier wird bereit ein Großteil der ideologischen Ladung zur Rolle von Frau und Familie ironisch gebrochen, durch eine bewusste Drag-Per-formance des Darstellers der Titelrolle“. In den vielen Beiträgen des Buches wird immer wieder  darauf hingewiesen, „das Operet-tentheater als geschlechtlich und erotisch konnotierter Raum“ verstanden werden muss und dass in der Zeit vor 1933 eine der Tugenden der Operette gerade darin bestand, die herrschende Geschlechterordnung ironisch, humorvoll infrage zu stellen durch „Cross-dressing“, also Travestie und durch die Aufwertung der Frau mittels erotisch selbstbewußter  Diven. Die bedeutendste Operettendiva war ohne Frage Fritzi Massary, die allerdings mit „divenhaften“  Attributen nur spielte, um hinter der Fassade abzurechnen mit tradierten Rollen und Klischees.


Interpret(Inn)en und Werke sowie Grenzüberschreitungen der Gattung Operette zur Revue und zur Tonfilmoperette kommen zur Sprache in dem 224 Seiten starken Band, der Operettenverächtern wie -Verehrern nur wärmstens empfohlen werden kann. Er ent-hält deutsche und englische, abgedruckte gesprochene Diskussionen als auch Essays und wissenschaftliche Aufsätze von unter-schiedlicher Qualität. Aber er thematisiert teils gelehrt, teils theaterpraktisch alle wesentlichen Aspekte der schillernden Gattung Operette. Um die Frage ihrer Aktualität heute geht es im  letzten der vier Kapitel des Buches.


Am engagiertesten äußern sich Performer der Gruppe Interrobang, die während des Symposiums auftraten. Lajos Talamonti  etwa konstatiert: "Nicht die Operette ist aus der Zeit gefallen, nein! Das Zeitgeschehen ist zu einer Karikatur geworden! Die Operette entführte uns einst in surrelale Wunderbarkeiten, verhalf uns zu heiterer Ausschweifung, zu Erleichterung durch Selbstironie, hielt uns den Spiegel vor und das, was wir sahen, war komisch, aber gutmütig komisch. Wer heute in den Spiegel sieht, erschrickt vor der verhärmten humorlosen Trostlosigkeit, die ihm entgegenblickt. Die sogenannte Gegenwart ist nichts als ein tribales Horden-Bum-Bum.“ 


Die Performerin Verena Unbehaun geht noch einen Schritt weiter und fordert die Rückkehr der Operette als populäre Leitkunst , da wir die spezifischen Fähigkeiten der Operette „zur kritischen Bloßstellung und Selbstermächtigung… im Zeitalter des digitalen Kontrollverlustes“ mehr denn je bräuchten. Ihr Schlusswort ist das des Buches: „Ich plädiere für ... die Rettung durch Operette. Gegen Depression, Langeweile, Stress, Frust, Schlaflosigkeit, Überforderung! Operrettung für alle!“



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