Martha Argerich

Erste, einfühlsame Biographie des „Satans am Flügel“

Olivier Bellamy: Martha Argerich. Die Löwin am Klavier
Edition Elke Heidenreich bei C. Bertelsmann. München. 287 S.


 

Pünktlich zum siebzigsten Geburtstag erschien nun endlich die Biographie der argentinischen Star-Pianistin Martha Argerich. „Die Löwin am Klavier“ überschreibt der französische Journalist Oli-vier Bellamy das Buch, das die medienscheue Pianistin sogar abgesegnet hat als autorisierte Bio-graphie. 

Die „argentinische Bombe“ wurde sie von Kritikern genannt. Sie gilt als pianistisches „Rasse-pferd“. Als „übernatürlich“ pries man immer wieder ihr temperamentvolles Spiel. Die rumänische Pianistin Clara Haskil nannte sie einen „Satan am Flügel“: Martha Argerich ist eine der außerge-wöhnlichsten Pianistinnen des letzten halben Jahrhunderts. Außergewöhnlich als künstlerische wie als menschliche Erscheinung.


Martha Argerich war stets medienscheu, hat sich der PR-Maschinerie des Musikbusiness weit-gehend entzogen und lässt sich bis heute in keine Schublade pressen. Sie hat etwas Geheimnis-volles. Jetzt endlich wurden der argentinischen Klaviersphinx einige ihre Geheimnisse entrissen. Von dem französischen Journalisten Olivier Bellamy. Er hat sich nicht mehr und nicht weniger zum Ziel gesetzt, als die Voraussetzungen und Bedingungen darzustellen, „dank deren ein solches Wunder entstehen konnte“, wie er schreibt. Und so widmet er den ersten Lebensjahren und der Kindheit der Pianistin besonders viel Aufmerksamkeit. Er erläutert die kroatisch-katalanisch-jüdi-schen Wurzeln Martha Argerichs und beschreibt das soziale Umfeld, in dem sie aufwuchs. Er schildert mit viel Einfühlungsvermögen und Detailkenntnissen ihre Sozialisation in Buenos Aires, wo sie am 5. Juni 1941 im Zeichen des Zwillings geboren wurde. Eigentlich hieß sie María Martha. Ihr Vater Juan Manuel war ein Müßig- und Draufgänger, ein Lebemann, der seiner Toch-ter die Liebe zum Diesseits mitgab, ihre Mutter Juanita war das ganze Gegenteil, ein Arbeitstier und vom Ehrgeiz zerfressen, aus ihrer Tochter ein Wunderkind, ja einen Star zu machen. Was ihr gelang.

Dabei wollte, so liest man erstaunt, Martha Argerich eigentlich eher Ärztin werden. Geprägt von vielen Familienkrächen, die ihr Verhältnis zum anderen Geschlecht und ihren Glauben an Ehe, Liebe und Treue früh erschüttert haben, verriet sich schon im Alter von 5 Jahren ein ungewöhn-liches pianistisches Talent. Sie bekommt Klavierunterricht bei einer katalanischen Klavierlehrerin, Ernesta Kussroff, dann bei einem der strengsten, aber auch erfolgreichsten Klavierlehrer Argenti-niens, bei der nepolitanischen Klavierlegende Vincenzo Scaramuzza. Er war der Begründer einer eigenen Musikakademie, in der er vier Generationen von Pianisten ausbildete. Er sei ein „Men-schenfresserpianist“ gewesen, so Ollivier Bellamy, dessen pädagogische Maxime gelautet habe: „Schüler sind wie Degen. Manche brechen, sobald man sie biegen will, andere passen sich an, bis sie ihre eigentliche Form gefunden haben.“ Martha Argerich gehörte zur letzteren Kategorie. Was er ihr beizubringen versucht habe, sei Kantabilität des Spiels, Legatokultur also gewesen, bei ei-nem Maximum an Expressivität. Doch Marthas Herz schlug damals wohl schon mehr für den Rhythmus, für die Polyphonie. Sie war nie ein Muster an Übungsfleiß und Karrierebesessenheit. Doch dank ihrer ungeheuren natürlichen Begabung gab sie bereits mit Sieben ihr erstes Konzert im Teatro San Martin, das Klavier­konzert Nr. 20 g–moll von Mozart, das erste Klavierkonzert von Beethoven und als Zugabe die Englische Suite Nr. 3 von Bach. Mit Elf debütierte sie dann bereits im berühmten Teatro Colon mit Schumanns Klavierkonzert, einem ihrer Lieblingsstücke bis heute.


Im Jahre 1953 änderte sich das Leben der kleinen Martha Argerich, als der Pianist Friedrich Gulda für mehrere Wochen nach Argentinien kam. Sein Spiel hat sie derart fasziniert, dass sie alles Bis-herige an Maßstäben hinter sich warf. Dabei hatte das Wunderkind bereist Arthur Rubinstein, Walter Gieseking, Claudio Arrau, Wilhelm Backhaus und Alfred Cortot gehört. Allen hatte sie vorgespielt. Und alle waren zutiefst beeindruckt von ihr. Doch Guldas Ästhetik der harten Kon-traste und scharfen Konturen wurden fortan für Martha Argerich zum Vorbild. Friedrich Gulda spürte diese innere Affinität: „Mensch Argerich“, soll er eines Tages ausgerufen haben, „ich glau-be, wir sind vom gleichen Schlag!“ Und er lockte sie nach Wien. Tatsächlich gelang es dem Vater Marthas, eine Stelle an der argentinischen Botschaft von Wien zu erhalten. Friedrich Gulda mach-te sein Versprechen wahr und wurde der Vertraute und Lehrer Martha Argerichs. Er prägte sie wie kein anderer Pianist, obgleich sie zahllose Berühmtheiten konsultierte. Bellamy listet das akribisch auf. Doch was wie Namedropping wirken könnte, ist nur das Bemühen um biographische Voll-ständigkeit und Genauigkeit, das den Autor dieser ersten Biographie Martha Argerichs auszeich-net. Er beschreibt ja auch alle Amouren, Ehen, Kindsgeburten, Kräche, Skandale und sonstigen Ereignisse der scheuen, wilden, unangepassten, freiheitsliebenden  Pianistin, die  meist ein aus-gesprochenes Lotterleben führte, sich immer wieder vom Klavier verabschiedete, auch allzu enge Partner­schaften nicht lange ertrug, die die Nächte zum Tag machte und als Kettenraucherin und maßlose Kaffeetrinkerin berühmt-berüchtigt wurde. Was Friedrich Gulda zu dem zornigen Vor-wurf animierte, die "neurotische, willensschwache, verwöhnte Virtuosin verschleudre ihr Potenzial mit ihrer chaotischen Existenz“.


Er hatte vielleicht nicht ganz unrecht, dennoch machte Martha Argerich ihren Weg. Und den kann man  in diesem Buch von Bellamy genauestens nachverfolgen, von Bozen und Genf über Ham-burg, Hannover, Bern, Moncalieri, nach New York, von Brüssel, Warschau, London, Montevideo, Rio, Moskau und Santa Monica bis an die Ufer des Tessiner Sees, wo Martha Argerich heute ihr eigenes Festival pflegt wie einen Bienenstock. Sie ist darin die Königin, versteht sich.


Bellamy beschreibt das alles ausführlich, ihre frühen Wettbewerbssiege, ihr breites Repertoire und die Erfolgsstationen ihrer pianistischen Laufbahn, ihre Aufnahmesitzungen und ihr Lampenfieber, das sie bis heute nicht losgeworden ist. Ebenso präzise beschreibt er ihre Ess- und Alltags­gewohn-heiten, ihre Krebserkrankungen, ihre wechselnden Domizile, ihre Vorlieben und Abneigungen. Das alles liest sich in der Übersetzung von Susanne Van Volxem leicht und flüssig.


Angesichts der Fülle an Erlebnissen und Begegnungen ihres bisherigen Lebens mutet diese Bio-graphie fast wie ein Roman an. Ein Roman über einen Star, der keiner sein will, über eine sym-pathische natürlich gebliebene Berühmtheit, die trotz aller Verklärung nie die Bodenhaftung verloren hat. Und aus der Lebens- und Erinnerungsperspektive Martha Argerichs wirft das Buch auch manches erhellende Licht auf viele ihrer Kollegen und andere Persönlichkeiten des Musik-lebens. Ein faszinierendes Leben, ein faszinierendes Buch!

 

Rezension für DLF – Musikjournal: 06.06.2011